So verrückt ist die Welt geworden. Atlantiker wie der CDU-Abgeordnete Röttgen beklagt den Abzug amerikanischer Truppen; Friedrich Merz (CDU) nennt diesen Schritt beunruhigend – beide sind Kandidaten für den CDU-Vorsitz, das passt! – ; der Stuttgarter OB Kuhn von den Grünen bedauert den Abzug des US-Europakommandos aus Stuttgart. – Zur Begründung seiner Kritik am Truppenabzug verweist Röttgen auf die Bedrohung durch Russland. Mehrere CDU-Politiker einschließlich Norbert Röttgen kritisierten auch die Forderung des Fraktionsvorsitzenden der SPD, Rolf Mützenich, die USA sollten ihre Atomwaffen aus Deutschland abziehen. Verrückt. Zur Erinnerung: Genau vor 30 Jahren, zwischen dem 27. Juli und dem 19. September 1990, wurden 102.000 (!) Giftgasgranaten aus der Südwestpfalz, also aus der Nachbarschaft, abgezogen und vernichtet. Albrecht Müller.
Damals haben Tausende von Menschen mit Unterstützung von Politikern aus der Region, zu denen ich damals gehörte, für den Abzug der chemischen Waffen demonstriert. Selbst Bundeskanzler Kohl (CDU) kam zur Feier des Abzugs der US-Waffen nach Clausen, wo die Giftgasgranaten bis 1990 deponiert waren. (Siehe die Beschreibung der „Aktion Lindwurm“).
Ich mache deshalb auf diese unterschiedliche Reaktion zum Abzug von US-Truppen aufmerksam, weil daran auch ein gefährlicher Wandel erkennbar ist. Der Abzug war damals möglich, weil wir uns mit den ost-europäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion und damit Russlands verständigt hatten. Heute sind wir wieder in den Kalten-Kriegs-Modus zurückgefallen: Drohung, Abschreckung, Politik der Stärke.
Und noch schlimmer. Heute wird hierzulande die militärische Präsenz der USA auch deshalb gutgeheißen, weil die Militärbasen in Deutschland den imperialen Ansprüchen der USA dienen.
Den folgenden Satz aus dem zitierten Interview mit Norbert Röttgen muss man sich auf der Zunge zergehen lassen:
„Natürlich leisten US-Soldaten auch einen Beitrag zur Sicherheit Deutschlands, aber in erster Linie dient Deutschland den USA als logistische Drehscheibe für die eigene internationale Militärpräsenz.”
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages freut sich darüber, dass Deutschland – sogar „in erster Linie“ – den USA als „logistische Drehscheibe“ für ihre internationale Militärpräsenz, also für Kriegseinsätze all überall in der Welt dient. Und diese Person kandidiert zum Vorsitz der CDU!
Und dann wundert sich diese Sorte von Politikern vermutlich noch darüber, dass man Deutschland einen Vasallen und sie selbst Einflussagenten nennt.
Leider ist auch Horst Teltschik in altes Denken zurückgefallen
Ich mache bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam, dass dieser Geist nicht nur notorische Atlantiker wie den Abgeordneten Röttgen erfasst hat. Auch ansonsten vernünftige Zeitgenossen wie Horst Teltschik, der frühere außenpolitische Berater von Helmut Kohl, sind in die alten Denkmuster zurückgefallen. Teltschik hat den Vorschlag von Rolf Mützenich, die USA sollten ihre Atomwaffen aus Deutschland abziehen, kritisiert und in einem Interview mit SNA vom 27.5.2020 so argumentiert:
[Ab Minute 7:40, transkribiert]:
Frage SNA Radio:
“Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hatte vorgeschlagen, Deutschland aus der nuklearen Atomwaffen-Teilhabe der NATO herauszulösen, also beispielsweise keine US-Atomwaffen mehr in Deutschland zu stationieren. Was halten Sie davon?”
Horst Teltschik:
“Ja, ich halte von einer solchen einseitigen Entscheidung nichts. Meine Erfahrung in der Politik ist auch im Umgang mit der Sowjetunion und mit anderen Regierungen: Politik muss immer ein Dual Base sein. Nach dem Motto: Wenn du Schritte in die richtige Richtung machst, bin auch ich bereit, Schritte zu machen. Wir haben im Augenblick ja nicht dieses Problem, das Mützenich angesprochen hat, sondern wir haben ein grundsätzliches Problem, dass wir vor einer neuen Welle nuklearen Aufrüstens weltweit stehen. Wenn Sie sehen, dass Trump ständig neue Waffensysteme ankündigt, dass Präsident Putin antwortet und auch neue Waffensysteme ankündigt, beide auch nuklearer Art, dass die VR China aufrüstet, dass kleinere Staaten nuklear gerüstet sind, wie Nordkorea oder potentiell auch Iran. Wenn Iran wirklich nuklear werden sollte, können Sie davon ausgehen, dass auch Saudi-Arabien und Ägypten und auch andere Länder das tun. Wir haben Indien und Pakistan als Nuklearmächte. Generell bräuchten wir eine Strategie der weltweiten nuklearen Abrüstung.”
Mit der Feststellung im letzten Satz hat Horst Teltschik recht. Aber mit der Behauptung, Politik müsse nach dem Motto verlaufen „Wenn du Schritte in die richtige Richtung machst, bin auch ich bereit, Schritte zu machen“, bestätigt Teltschik, dass er nicht einmal das Erfolgsrezept der Entspannungspolitik Willy Brandts verstanden hat. Damals hat Brandt mit seiner Partei genau diese gegenseitige Blockade durchbrochen. Ich erinnere daran, dass die SPD zum Beispiel auf ihrem Nürnberger Parteitag im Jahr 1968 einseitig die Oder-Neiße-Grenze anerkannt hat. Ohne diese Vorleistung wäre damals nichts in Bewegung gekommen.
Es gab eine Reihe anderer Zugeständnisse wie zum Beispiel die Anerkennung der DDR, wogegen sich die CDU/CSU jahrelang gewehrt hat.
Man muss froh sein, dass es auch Leute wie den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, gibt. Er hat verstanden, dass es unserer eigenen Sicherheit dient, wenn wir die Rüstungsspirale von uns aus durchbrechen. Wenn man im Stile Norbert Röttgens weitermacht und den Empfehlungen von Horst Teltschik folgt, dann geht’s halt weiter aufwärts mit Raketen- und Atomrüstung und aufwärts mit dem Kriegsrisiko.
Welch ein Rückfall! Welch eine historische Zäsur! Und das alles zulasten unserer Kinder und Enkel und zum Nutzen der Rüstungswirtschaft.
Nachtrag um 15:40 Uhr aus aktuellem Anlass:
Seit heute früh ca. 10:00 Uhr üben US-amerikanische Kampfflugzeuge Luftkampf über unseren Köpfen in der Südpfalz, vermutlich auch andernorts und auch in der Mittagspause. Und dies samt Lärm und anderen Emissionen sollen wir hinnehmen? Nur weil die Herren Röttgen, Merz, Kuhn usw. ihren Herren zu Diensten sein wollen … Übrigens: Hier wird am Himmel einer Region geübt, in der andere Menschen Urlaub machen wollen.
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