Der Tod zweier Persönlichkeiten, die unterschiedlich nicht hätten sein können, und die aktuellen Beziehungen zum Norden antagonisieren die Gesellschaft wie schon lange nicht mehr. Von Rainer Werning.
„Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ – trefflicher ließe sich die Stimmung auf der Koreanischen Halbinsel in den verflossenen beiden Jahren nicht beschreiben. Erinnern wir uns: Im Sommer 2018 stimmten drei Staatschefs dies- wie jenseits des 38. Breitengrads, der Korea nach wie vor unsäuberlich in zwei Staaten – die Republik Korea (ROK) im Süden und die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) im Norden – teilt, unisono das Hohelied auf Entspannung und Frieden an. Und das in der weltweit konfliktträchtigsten Region, in der nach dem dreijährigen Koreakrieg (1950-53), dem ersten „heißen Konflikt“ im Kalten Krieg, noch immer kein Friedensvertrag existiert.
Es herrscht dort bis dato lediglich ein Waffenstillstandsabkommen. Doch dieses wurde in dem unwirtlichen Grenzort Panmunjom lediglich von Emissären der DRVK, der VR China sowie einem US-amerikanischen General namens der Vereinten Nationen unterzeichnet. Der damalige Präsident Südkoreas, Rhee Syngman, verweigerte seine Unterschrift unter das Dokument. Erst als sich die USA zur selbsterklärten „Schutzmacht“ seines Landes aufschwangen und der Regierung in Seoul umfangreiche Wirtschafts- und Finanzhilfen in Aussicht stellten, akzeptierte Rhee den Deal.
Und eben in diesem unwirtlichen Panmunjom fanden in jenen Sommertagen des Jahres 2018 mehrere Treffen statt, die kurzzeitig die drei Hauptprotagonisten – Südkoreas Präsident Moon Jae-In, Nordkoreas Vorsitzenden Kim Jong-Un sowie US-Machthaber Donald Trump – zusammenführten. Man war all smiles und außenstehende Beobachter mussten den Eindruck gewinnen, da vollziehe sich in gleißendem Scheinwerferlicht der internationalen Medien ein geschichtsträchtiger Akt in Richtung eben eines Friedensvertrages 65 Jahre nach Ende des Koreakriegs.
Mehr noch: Mr. Trump lernte den Genossen Kim persönlich kennen und schätzen. Von Männerfreundschaft war auf einmal die Rede, wobei noch ein Jahr zuvor Mr. Trump gepoltert hatte, die DVRK am liebsten in Schutt und Asche zu bomben. Genosse Kim punktete politisch und diplomatisch, während der eigentliche Motor und Mediator bei alledem, Südkoreas Präsident Moon, mit gutem Recht für seine Gastgeberrolle und Statur gewürdigt wurde.
Debakel in Hanoi
Zwei Jahre später, im Sommer 2020, scheint auf einmal das Gewonnene zerronnen zu sein. Ein zweites Gipfeltreffen zwischen dem Vorsitzenden Kim und dem US-amerikanischen Machthaber Trump in Vietnams Hauptstadt Hanoi Ende Februar 2019 scheiterte im letzten Moment. Architekt dieses Debakels war Trumps damaliger Nationaler Sicherheitsberater John R. Bolton, der zuvor öffentlich schwadroniert hatte, für Nordkorea käme bestenfalls eine „libysche Lösung“ in Betracht. Das bringt heute Trump auf die Palme und in Rage gegen seinen längst gefeuerten „Berater“. Und in seinem neuesten Buch zieht Bolton alle Register, um – vornehm formuliert – seinen früheren Chef in die Pfanne zu hauen und ihn der Naivität zu zeihen.[1] Ein Streit, der infantile Züge trägt. Da ward zwei nörgelnden Kids ihr Lieblingsspielzeug entwendet worden und schon ging eine wüste Rauferei los.
Weil seit Hanoi ein erneutes „Warten auf Godot“ angesagt war und Pjöngjang sich unter anderem darüber erbost zeigte, dass Seoul seine 2018 gemachte Zusage, künftig die Entsendung von Heißluftballons mit anti-nordkoreanischem Propagandamaterial von seinem Territorium aus zu unterbinden, nicht eingehalten hat, ließ die nordkoreanische Führung das gemeinsam im Süden der DVRK unterhaltene Liaisonbüro in Kaesong Mitte Juni sprengen.[2] Geschlagen wurde damit der südkoreanische Sack, wenngleich aus Pjöngjanger Sicht der Hieb dem US-amerikanischen Esel galt. Jedenfalls nahm Moons Image einen schweren Schaden.
Die erzkonservativen und stockreaktionären Kräfte in ROK witterten auf einmal Morgenluft und machten ihren Präsidenten für die desolate Lage verantwortlich. Er sei, so ihr Vorwurf, naiv gewesen und hätte zu sehr der nordkoreanischen Seite vertraut. Moon nahm nolens volens ein Revirement in seinem Kabinett vor und besetzte die Posten des Nationalen Sicherheitsberaters und Vereinigungsministers neu. Außerdem setzte die Regierung ein Verbot der Ballonaktionen am 38. Breitengrad durch und sanktionierte Gruppierungen, die sich in der Vergangenheit dafür stark gemacht und solche Aktionen initiiert hatten. Das wiederum ließ Regierungskritiker und -gegner argwöhnen, der Präsident schnüre demokratische Rechte wie das auf freie Meinungsäußerung ein.
Mr. Park & General Paik
Und dann das: Am 9. Juli beging Seouls 64-jähriger Bürgermeister Park Won-Soon Selbstmord, nachdem seine ehemalige Sekretärin ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte. Der seit 2011 bis zu seinem Tod amtierende Bürgermeister erfreute sich großer Beliebtheit und war eigentlich als renommierter Menschenrechtsanwalt als aussichtsreicher Kandidat der regierenden Demokratischen Partei bei der nächsten Präsidentschaftswahl im Jahre 2022 vorgesehen worden.
Park war wegen seiner Teilnahme an der Studentenbewegung im Jahr 1975 gegen das diktatorische Militärregime Park Chung-Hee von der Seoul National University zwangsexmatrikuliert und vier Monate ins Gefängnis gesperrt worden. Erst später konnte er sein Studium wieder aufnehmen und machte sich ab 1982 als Rechtsanwalt sowie Aktivist für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte einen Namen. Vieles in seiner Biographie ähnelt dem Werdegang Moons, weshalb beide Politiker eine enge Freundschaft verband.
Am 10. Juli starb Südkoreas erster Vier-Sterne-General Paik Sun-Yup im Alter von stolzen 99 Jahren. Tags darauf teilten das Ministerium für Patrioten- und Veteranenangelegenheiten sowie die südkoreanische Armee mit, Paiks Leichnam auf Wunsch der Hinterbliebenen auf einem Friedhof für ehemalige Generäle auf dem Daejeon-Nationalfriedhof beisetzen zu lassen. So umstritten die Person Paik während seiner aktiven militärischen Laufbahn und Zeit seines Lebens war, so kontrovers ward auch über seine letzte Ruhestätte gestritten.
Paiks Tod entfachte eine scharfe ideologische Kontroverse in der politischen wie in der zivilen Arena. Für Kriegsveteranen, große Teile der alten Generation und Oppositionsparteien in der Seouler Nationalversammlung war der General stets eine Galionsfigur, die sein Land heldenhaft verteidigte – in Kriegs- wie in Friedenszeiten. Seine militärischen Sporen verdiente sich Paik während der japanischen Kolonialherrschaft in Korea, als er 1941 Offizier der Kaiserlichen Armee Mandschukuos wurde. Mandschukuo war ein von Japan in der Mandschurei errichteter Marionettenstaat. Nach Angaben des Zentrums für historische Wahrheit und Gerechtigkeit in Seoul kämpfte die Armee auch gegen koreanische Guerilleros und Partisanen. Im Jahr 2009 wurde Paik deshalb von einem präsidialen Wahrheitsfindungskomitee auf eine Liste pro-japanischer Kollaborateure gesetzt.
Für die jüngere Generation und vor allem für all jene, die jahrelang gegen die herrschenden Militärregimes unter Park Chung-Hee (1961-79) und Chun Doo-Hwan (1980-88) gekämpft und aktiv für Freiheit und Demokratie gestritten hatten, ist Paik der ideelle Gesamtkollaborateur und „Kommunistenjäger“ par excellence, der erst den verhassten japanischen Besatzern und später eben jenen Militärregimes in ROK als Korsettstange gedient hatte. Paik war bei Kriegsende First Lieutenant und wurde umgehend rekrutiert, als die USA Südkorea nach der Teilung der Koreanischen Halbinsel beim Aufbau eines Militärs halfen. Zu Beginn des dreijährigen Koreakrieges diente Paik als Kommandeur der 1. Infanteriedivision.
Während des Krieges machte sich der General einen Namen als „Kommunistenjäger“. Er befehligte die Operation Rattentöter, die von den Streitkräften der Republik Korea und US-Beratern von Dezember 1951 bis Februar 1952 durchgeführt wurde. Sie zielte darauf ab, die kommunistischen Guerillakräfte „auszurotten“, die hinter den Frontlinien in der südlichen Jiri-Bergregion operierten. An dieser Operation waren zwei Divisionen der südkoreanischen Armee, mehrere Regimenter der südkoreanischen Nationalpolizei, ein ROKAF-Geschwader von Mustang-Kampfbombern sowie etwa sechzig US-Counterinsurgency-Experten beteiligt. Nach der Operation waren die kommunistischen Guerillakräfte stark geschwächt, wenngleich Tausende von Polizeikräften der ROK im fraglichen Gebiet bleiben mussten, unterstützt von bis zu 11.000 lokalen Milizen – bekannt als sogenannte Junge Freiwillige – um ein neuerliches Erstarken der verbliebenen Guerillakräfte zu verhindern.
Nach Angaben der Republik Korea wurden während der Operation Rattentöter 5.800 Guerillakämpfer getötet und 5.700 gefangen genommen. US-Aufzeichnungen behaupten, dass 9.000 Guerillakämpfer getötet wurden, während andere Quellen von bis zu 10.000 Opfern sprechen.
Die in Seoul regierende Demokratische Partei Koreas (DPK) gab weder anlässlich des Todes von General Paik Sun-Yup noch zur Kontroverse um seine militärische Laufbahn und Beerdigung eine Stellungnahme ab. Jedenfalls offenbarten allein die Ereignisse im Juni und Juli 2020, wie volatil das innerkoreanische Verhältnis ist und welch nach wie vor tiefe Kluft sich in Südkoreas Gesellschaft auftut, wenn es um historische, politische und ideologische Bewertungen und Einschätzungen geht, die aus jeweils gänzlich unterschiedlichen Erlebnis- und Erfahrungshorizonten resultieren.
Quo vadis?
In ihrem am 19. Juli in der WELT veröffentlichten Gastkommentar mit dem Titel „Ist Frieden mit Nordkorea wirklich unmöglich?“[3] kommen die vier Autoren zu dem Schluss, dass dies sehr wohl möglich ist. Am Schluss ihres Beitrags appellieren sie an die EU und vor allem an die Regierung der Bundesrepublik, die bis Ende dieses Jahres die EU-Ratspräsidentschaft innehat, verstärkt auf der Koreanischen Halbinsel Flagge zu zeigen und den dortigen Friedensprozess tatkräftig zu unterstützen. So weit, so gut. Allerdings vergaßen die Autoren, darauf hinzuweisen, dass eine Friedensregelung mit der DVRK nie dermaßen große Erfolgschancen hatte wie bereits zur Jahreswende 2000/2001!
In der Endphase der US-Präsidentschaft von Bill Clinton besuchte seine Außenministerin Madeleine Albright Pjöngjang und er selbst hatte sogar als seine letzte Amtshandlung eine Reise in die DVRK erwogen. Gleichzeitig war die EU (vor allem unter der schwedischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2001) diplomatisch und politisch in einer Weise aktiv, wie das weder vorher noch nachher der Fall war. Auch und gerade im Vorfeld und nach dem dritten Asien-Europa-Gipfel (ASEM-Prozess), der vom 20. bis zum 22. Oktober 2000 in Seoul stattfand, herrschte seitens der EU-Politiker eine rege Shuttle-Diplomatie zwischen Seoul, Peking und Pjöngjang. All das ward beflügelt durch Südkoreas seinerzeit verfolgte „Sonnenscheinpolitik“ vis-à-vis dem Norden, für die Südkoreas Präsident Kim Dae-Jung just im Dezember 2000 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Gänzlich aus den Fugen geriet dieser konzertierte Friedensprozess (gleichzeitig die dritte innerkoreanische Annäherung nach 1972 und 1991/92) wenige Wochen nach dem Amtsantritt von US-Präsident George W. Bush. Dieser hatte Nordkorea seit März 2001 plötzlich als „Bedrohungsfaktor in Ostasien“ ausgemacht und das Land Anfang 2002 gar als Teil seiner ominösen „Achse des Bösen“ (nebst Iran und Irak) gebrandmarkt. Seitdem ist seitens der EU keine nennenswerte, geschweige denn eine eigenständige EU-Politik mit Blick auf die Förderung des innerkoreanischen Dialogs unternommen worden. Stattdessen entsprach die Politik der EU dem devoten Verhalten von Messdienern, die gemäß der Partitur des transatlantischen „Big Brother“ brav ihre Glöckchen klingelten und immer dann in den martialischen Chorgesang strammer anti-nordkoreanischer Stimmungsmache einfielen, wenn Uncle Sam dies reflexartig einforderte. Kein Wunder, dass einer der vier Verfasser des genannten WELT-Gastkommentars gegenüber diesem Autor im Jahre 2004 trocken erklärte, der Bundesrepublik und der EU seien schlicht die Hände gebunden, was eine eigene Nordkorea-Politik betrifft.
Zurück zur Ausgangsfrage: „Ist Frieden mit Nordkorea wirklich unmöglich?“ Die Antwort lautet: Frieden und Entspannung auf der Koreanischen Halbinsel sind sehr wohl möglich, sofern dem innerkoreanischen Dialog- und Annäherungsprozess nicht stets in entscheidenden Augenblicken von außen in die Parade gefahren wird. Das ist leider solange der Fall, wie zwei Anachronismen weiterhin bestehen. In Südkorea sind noch immer 28.500 Soldaten der United States Forces Korea stationiert. Ihr dort ebenfalls domizilierter Kommandeur, aktuell der Vier-Sterne-General Robert B. Abrams, ist in Personalunion gleichzeitig Befehlshaber des United Nations Command und gemäß dem seit Anfang November 1978 existierenden ROK/U.S. Combined Forces Command (CFC) im Kriegsfall auch Chef der südkoreanischen Streitkräfte!
„Wer auf der Matte schläft“, lautet ein koreanisches Sprichwort, „der fällt nicht tief.“ Doch solange eine Partei sich anmaßt, Politik von einem imperialen Hochsitz aus zu diktieren, können keine Gespräche auf Augenhöhe und im Geiste gegenseitigen Respekts zustande kommen. Letzterer aber ist die Grundvoraussetzung einer Politik, die Konfliktlösungen avisiert, anstatt neue Konflikte zu schüren. Mr. Trump sorgte im eigenen politischen Lager für Furore, als er in den vergangenen Tagen erneut eine Truppenreduzierung der US-Streitkräfte in Südkorea ins Gespräch brachte, da sich Seoul nicht angemessen an den Stationierungskosten der GIs beteilige. Dabei machte er eine für ihn typische Bemerkung, die seine „engen südkoreanischen Freunde“ frontal brüskierte.
Die Korea Times (Seoul) zitiert den nordamerikanischen Machthaber in ihrer Ausgabe vom 17. Juli[4] mit den Worten: „Laut Larry Hogan, dem Gouverneur von Maryland, fand US-Präsident Donald Trump im Februar anlässlich eines privaten Abendessens, das von der republikanischen Gouverneursvereinigung gesponsert wurde, harte Worte für Südkorea, den Geburtsort der Frau des Gouverneurs, Yumi: ‘Ich erinnere mich nicht, dass er den Virus erwähnte’, sagte Hogan, ‘aber er sprach darüber, wie sehr er Präsident Xi Jinping von China respektierte; wie gerne er mit seinem Kumpel ‘Shinzo’, Premierminister Abe von Japan, Golf spielte; wie gut er mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-Un auskam. ‘Dann der unruhige Teil’, fuhr er fort. ‘Trump sagte, dass er es wirklich nicht mochte, mit Präsident Moon aus Südkorea zu tun zu haben. Die Südkoreaner seien ‘schreckliche Menschen’, sagte er, und er wisse nicht, warum die Vereinigten Staaten sie all die Jahre beschützt hätten. Sie bezahlen uns nicht’, klagte Trump.“
Wer denn solche Freunde hat, bedarf wahrlich keiner Feinde mehr.
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