Ausbeutung mit Feigenblatt. Das avisierte Gesetz zur Durchsetzung von Menschenrechten in den Armenhäusern der Welt wird nicht halten, was es verspricht.

Ausbeutung mit Feigenblatt. Das avisierte Gesetz zur Durchsetzung von Menschenrechten in den Armenhäusern der Welt wird nicht halten, was es verspricht.

Ausbeutung mit Feigenblatt. Das avisierte Gesetz zur Durchsetzung von Menschenrechten in den Armenhäusern der Welt wird nicht halten, was es verspricht.

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Die Bundesregierung hat per Koalitionsvertrag angekündigt, deutsche Firmen bei Bedarf per Gesetz zu nötigen, die örtlichen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entlang ihrer Liefer- und Wertschöpfungsketten einzuhalten. Das tut bitter not: Nach den Befunden einer durch sie beauftragten Studie gibt die übergroße Mehrheit der international operierenden Unternehmen wenig bis gar nichts darauf, ob ihre Produkte unter menschenwürdigen Zuständen gefertigt werden. Das Ministertandem Hubertus Heil und Gerd Müller will deshalb zügig zur Tat schreiten und noch in der laufenden Legislaturperiode ein sogenanntes Sorgfaltspflichtengesetz durchs Parlament bringen. Mit der versammelten Kapitallobby und Wirtschaftsminister Altmaier als ihrem Erfüllungsgehilfen haben sie mächtige Widersacher. Dazu kommt seit März ein unsichtbarer und noch stärkerer Bremser: Corona. Von Ralf Wurzbacher.

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Achtung von Menschenrechten bei der Produktion im Ausland? Dazu noch während einer Pandemie? Nicht mit der deutschen Industrie! Wo sich die deutschen Textilriesen doch schon in Normalzeiten nicht darum scheren, unter welchen Umständen ihre T-Shirts, Hosen und Röcke im fernen Indien, Sri Lanka oder Äthiopien zusammengenäht werden. Warum dann ausgerechnet in der Corona-Krise damit anfangen? Nein, lasst mal gut sein, Ihr lieben Gutmenschen, Luxusdiskussionen sind aktuell so was von unangesagt – fast so wie Karottenjeans.

Ende Juni landete ein Zeugnis der Perfidie auf dem Schreibtisch des Vorsitzenden der CDU-Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus. In dem Schreiben beklagen sich die Chefs der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft über das Ansinnen der Bundesregierung, international operierende Unternehmen zu verpflichten, bei der Fertigung ihrer Güter in sogenannten Entwicklungsländern die Einhaltung der örtlichen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards sicherzustellen. Sollte es so weit kommen und tatsächlich in „Deutschland ein Lieferkettengesetz verabschiedet werden“, sei mit Nachteilen im globalen Wettbewerb zu rechnen, mahnen die Autoren.

Die Unterzeichner des Briefes, aus dem am Montag das „Handelsblatt“ zitierte (Artikel hinter Bezahlschranke), sind Ingo Kramer für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Kempf (BDI) für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Eric Schweitzer (DIHK) für den Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sowie Peter Wollseifer vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Ausdrücklich verweisen sie auf die besonderen Härten durch Corona, die die Wirtschaft „in die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt“ hätten. „Es gibt keine Aussicht auf eine schnelle Erholung“, heißt es weiter, „erst recht nicht mit zusätzlichen bürokratischen und finanziellen Belastungen durch ein Lieferkettengesetz“.

Wie in Kolonialzeiten

Hört, hört: Wenn ein Unternehmer Vorkehrungen trifft, dass entlang seiner Wertschöpfungs- und Lieferketten Menschen nicht ausgebeutet, nicht gequält, nicht versklavt, nicht physisch und psychisch kaputtgemacht, nicht entrechtet werden und ihr Leben und Überleben nicht durch exzessiven Raubbau an der Natur infrage gestellt werden, dann läuft dies in der Logik von Kapitallobbyisten unter verzichtbare, weil geschäftsschädigende, „bürokratische“ Mehrbelastung.

Am Dienstag hat Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) deren Kosten anhand zweier Beispiele beziffert. Eine in Bangladesch nach „fairen Kriterien“ produzierte Jeans schlägt demnach für die westlichen Bekleidungslabel mit einem Einkaufspreis von sieben Euro zu Buche. Bei Missachtung der Vorgaben sind es fünf Euro. Treibt es H&M, Esprit, ASOS, Zara oder Zalando in den Ruin, wenn sie zwei Euro mehr für ein Produkt hinlegen, das für ein Vielfaches über die Ladentheke geht?

Ein in Indien unter Einhaltung der dort geltenden Mindeststandards gefertigter Teebeutel kostet im deutschen Handel zwei Cent, andernfalls sind es 1,5 Cent. Ist ein halber Cent pro Tasse denn für den deutschen Verbraucher unerschwinglich? Nach Müllers Schilderung gleicht die Teeherstellung auf dem Subkontinent jener in „Kolonialzeiten“. Die Beschäftigten verdienten bei zwölf Stunden Arbeit und Bruthitze einen Dollar täglich. Zitat: „Da standen Frauen in Chemikalien, da gab es keinen Atemschutz.“

„Prozess ist kläglich gescheitert“

Man kann es dem Minister durchaus abnehmen, wenn er von einer „dramatischen“ Ausbeutung von Mensch und Natur in den betreffenden Ländern spricht. Er war vor Ort und hat sich ein Bild von der Lage gemacht. Der CSU-Politiker meint: „Wenn ich es nicht weiß, tut es nicht weh – das gilt nicht mehr.“ Gesagt hat er dies vorgestern in Berlin bei der Präsentation der Ergebnisse einer großangelegten Unternehmensbefragung, die ermitteln sollte, wie ernst es deutsche Firmen mit der Achtung von Menschenrechten in der Fremde nehmen. Die Befunde sind erschreckend: Von den rund 2.250 angeschriebenen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten haben lediglich 455 gültige Antworten zurückgeschickt. Von diesen konnten gerade einmal 91 die „Erfüllung“ der „Kernelemente menschenrechtlicher Sorgfalt“ nachweisen und belegen, dass sie kritisch und systematisch auf die Arbeitsbedingungen bei Zulieferern in Entwicklungs- und Schwellenländern schauen. Das entspricht einer Quote von 22 Prozent, bezogen auf die Gesamtheit ergibt sich ein Anteil von knapp über vier Prozent.

Die durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst&Young (EY) durchgeführte Studie war die zweite ihrer Art. Beim ersten Durchgang, dessen Resultate im vergangenen Dezember vorgelegt wurden, lag die Quote der „Erfüller“ bei 18 Prozent. Auch damals hatte ein Großteil der adressierten 2.600 Unternehmen gar keine Angaben gemacht, was den Schluss nahelegt, dass wohl die allermeisten unter ihnen es bei der Aufsicht und Kontrolle ihrer Zulieferer nicht so genau nehmen, beziehungsweise ihre Gründe haben, davon abzusehen. Angesichts von insgesamt 7.600 Unternehmen mit über 500 Beschäftigten, die im Fokus der Erhebung stehen, muss man davon ausgehen, dass der Anteil der „Nicht-Erfüller“ bei weit über 90 Prozent liegt.

Für Müller ist der Prozess damit „kläglich gescheitert“ und die Notwendigkeit gekommen, legislativ tätig zu werden. Tatsächlich hatten Union und SPD im Koalitionsvertrag festgehalten, die Unternehmen zur Achtung von Menschenrechten in Gestalt eines Lieferkettengesetzes zu nötigen, sofern die „freiwillige Selbstverpflichtung (…) nicht ausreicht«. Die Messlatte dafür liefert besagte Umfrage. Wenn weniger als 50 Prozent der Teilnehmer den Anforderungen nicht genügen, soll gemäß Vereinbarung noch in der laufenden Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz in Kraft gesetzt werden.

Verhinderungsmanöver

Müller und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ist die Sache offenbar vergleichsweise ernst. Wie sie am Dienstag gemeinsam ankündigten, wollen sie noch bis August Eckpunkte für ein entsprechendes „Sorgfaltspflichtengesetz“ ins Kabinett einbringen. Dieses soll laut Heil gewährleisten, dass Lieferanten im Ausland soziale und ökologische Mindeststandards einhalten sowie Sklaven- und Kinderarbeit verhindert werden. Dabei soll das Gesetz die Grundlage dafür schaffen, dass im Falle von Verstößen deutsche Unternehmer vor bundesdeutschen Gerichten auf Schadensersatz verklagt, sie von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden oder Behörden Bußgelder gegen sie erheben können.

Was vielversprechend klingt, ist alles andere als ein Selbstläufer. Nicht nur machen die Kapitalverbände massiv Front dagegen, mit Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) wissen sie dazu einen mächtigen Fürsprecher auf ihrer Seite. „Schnellschüsse verbieten sich bei so wichtigen Themen wie diesem“, ließ er eine Sprecherin ausrichten. Sollte es noch Optimierungsbedarf geben, werde es gemeinsam mit der Wirtschaft und innerhalb der Regierung Gespräche über weitere Maßnahmen geben. Nicht fehlen darf da die Warnung vor nationalen Alleingängen. Vielmehr müsse eine Lösung auf EU-Ebene her, wie er gegenüber dem Handelsblatt äußerte und dafür prompt Unterstützung durch das Wirtschaftsforum der SPD erhielt. Das Gesetz müsse europäisch gedacht werden, um „eine Zersplitterung des EU-Binnenmarkts durch unterschiedliche nationale Regelungen“ zu verhindern.

Solche Vorstöße dürften nur das Vorspiel eines systematischen Verhinderungsmanövers in den kommenden Wochen und Monaten sein. Genaugenommen ist dieses bereits lange im Gange. Gute Vorsätze, die Achtung von Menschenrechten und den Schutz von Natur und Ressourcen im kapitalistischen Verwertungsprozess zu institutionalisieren, gibt es seit vielen Jahren. 2011 beschloss der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen die „UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“, womit erstmals auch auf die Verantwortung von Unternehmen abgehoben wurde. Richtig in Fahrt kam die Diskussion allerdings erst durch die Brandkatastrophe in der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch im Jahr 2013, bei der über 1.100 Näherinnen und Näher ihr Leben verloren.

Papiertiger NAP

Seither gibt es wenigstens zaghafte Bestrebungen innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, das System der Verantwortungslosigkeit zu beenden. Seit 2014 verhandelt der Menschenrechtsrat der UN in Genf über ein verbindliches Abkommen zur Haftung multinationaler Konzerne bei Menschenrechtsverletzungen. Wesentliche Ziele sind die Haftung von Konzernen für ihre komplette Zulieferkette, Rechtsschutz für Geschädigte auch in den Heimatländern der Unternehmen, der Vorrang der UN-Menschenrechtsverträge vor Handels- und Investitionsschutzabkommen sowie die Schaffung von Mechanismen zur Einhaltung des Abkommens. Allerdings gehen die Bestrebungen maßgeblich auf das Betreiben der sogenannten Schwellenländer zurück, während die reichen Staaten des Westens den Prozess wie üblich bremsen.

Mit der durch die Rana-Plaza-Tragödie schlagartig gewachsenen Sensibilisierung für die in großen Teilen unwürdigen und gemeingefährlichen Arbeits- und Produktionsbedingungen, unter denen Menschen in Fernost und anderen Armutsstaaten dieser Welt die Wohlstandsgüter des Westens fertigen, geriet auch in Deutschland etwas in Bewegung. Zwecks Umsetzung der UN-Leitprinzipien verabschiedete die Bundesregierung 2016 den „Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP) und prüft seitdem per „Monitoringverfahren“, inwieweit Unternehmen ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nachkommen. Der große Haken an der Sache: Der NAP hat rein appellativen Charakter und setzt lediglich auf die Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung der Akteure. Spürbare und abschreckende Sanktionen, etwa Geldstrafen bis hin zu Produktionsverboten, oder konkrete juristische Haftungsmechanismen greifen im Falle von Verstößen nicht. Eher liefert der NAP Futter für die Marketingabteilungen transnationaler Konzerne, um den angekratzten Ruf mit schönen Greenwashing-Kampagnen aufzupolieren.

Immerhin sorgte die Ansage im Koalitionsvertrag, bei mangelndem Eifer ein Gesetz aufzulegen, für eine Resthoffnung, dass vielleicht doch ein Umdenken einsetzt. Wie sich gezeigt hat, war dies blauäugig. Und zu glauben, dass mit einem Gesetz, sofern es überhaupt kommt, alles besser wird, ist genauso naiv. Der Kapitalismus – insbesondere der Shareholder-getriebene – will und kann sich keine „Sentimentalitäten“ leisten. Was zählt, ist allein der Profit, und der ist umso größer, je billiger Rohstoffe und Beschäftigte zu haben sind. Die oft strapazierte Schutzbehauptung deutscher Unternehmer, sie könnten nicht über jeden ihrer Zulieferer wachen und dürften deshalb für deren Fehler nicht haften müssen, sollte man deshalb getrost überhören.

Wegsehen für den Profit

Wollte der Textildiscounter KiK seine Fast-Fashion-Mode wirklich von anständig bezahlten Arbeiterinnen nähen lassen, könnte er seine Zulieferer in Pakistan fraglos dazu verdonnern. Wer sitzt wohl am längeren Hebel? Oder: Was hat die BASF daran gehindert, ihre Geschäfte mit einer Platinmine im südafrikanischen Marikana zu beenden, nachdem dort vor acht Jahren 34 Kumpel bei einem Streik erschossen wurden? Vielleicht der Wille zur Wiedergutmachung? Weder gab es für die Opferfamilien nach dem Massaker eine Entschädigung, noch wurden die mordenden Polizisten strafverfolgt. Und die Arbeiter der Betreiberfirma – früher Lonmin, seit 2019 Sibanye-Stillwater – leben und hausen heute noch unter denselben erbärmlichen Bedingungen wie 2012. Dafür schürft der deutsche Chemieriese weiterhin dicke Gewinne aus dem Erdreich.

Damit die Geschäfte brummen, ist „Wegsehen“ erste Kapitalistenpflicht. Was nicht heißt, dass man von den Zuständen nichts wüsste, man tut nur so, als ahnte man von nichts. Das dürfte auch der Grund sein, warum die Mehrzahl der beim Ernst&Young-Monitoring Befragten sich eine Auskunft lieber verkniffen. So erspart man sich immerhin das Stigma des „Nicht-Erfüllers“. Denn dafür hat Wirtschaftsminister Altmaier gesorgt. Auf sein Betreiben hin wurden die Fragebögen zum Zwecke der Schönung der Ergebnisse überarbeitet. Zum Beispiel wurden die bewertungsrelevanten Fragen „erheblich reduziert“ und der „wichtige Comply-or-Explain-Mechanismus, der den Unternehmen die Möglichkeit gibt, die Nichterfüllung eines NAP-Merkmals zu heilen“ gestärkt.

So steht es in einem Brief des CDU-Mannes an den DIHK von August 2019, aus dem die „Initiative Lieferkettengesetz“ in ihrer am Mittwoch vorgelegten Studie „Verwässern – verzögern – verhindern: Wirtschaftslobby gegen Menschenrechte und Umweltstandards“ zitiert. Danach sei außerdem „die von der Zivilgesellschaft verlangte statistische Überprüfung des Ergebnisses zur Verhinderung einer
sogenannten Selektionsverzerrung verschoben“ worden. Und schließlich hat der Minister eben veranlasst, dass „unvollständig ausgefüllte Fragebögen „aus der Bewertung herausgenommen“ wurden, statt die betreffenden Unternehmen, wie ursprünglich beabsichtigt, als „Nicht-Erfüller“ zu werten.

Altmaier pariert

Viel besser wurde das Ergebnis dadurch nicht, die Hürde von 50 Prozent „Erfüllern“ wurde auch so klar gerissen. Allerdings zeigt die Analyse der Initiative, der inzwischen 100 zivilgesellschaftliche Organisationen angehören, wer im Ministerium Altmaier das Sagen hat. Wirklich „federführend“ bei der „sorgfältigen Verwässerung des Monitorings“ waren nämlich die großen Verbände BDA, BDI, DIHK sowie der Handelsverband Deutschland (HDE). Deren Forderungen nach „Verbesserungen“ hat der Minister quasi eins zu eins eingelöst. Er sei „zuversichtlich, dass es uns nach diesem wichtigen Schritt gemeinsam auch gelingen wird, das Monitoring und den NAP-Prozess insgesamt zu einem für alle Beteiligten guten Ergebnis zu führen“, gab er in seinem Schreiben an den DIHK zum Besten. Dafür gab es vom BDI prompt ein dickes Lob: Man bedanke sich, „dass sich das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie im Ressortkreis gerade bei diesen Punkten mit hohem Sachverstand eingebracht hat“. Die Korrespondenz ließe keinen Zweifel zu, resümieren die Verfasser der Studie: „Das Zusammenspiel zwischen den Wirtschaftsverbänden und dem Wirtschaftsministerium klappte wie geschmiert.“

Für das weitere Schicksal des „Sorgfaltspflichtengesetzes“ lässt das nichts Gutes befürchten. Dies auch vor dem Hintergrund, dass das Gesetz längst auf der Reise durchs Parlament hätte sein sollen. Eigentlich wollten Müller und Heil dessen Eckpunkte schon am 10. März veröffentlichen. Wegen der sich damals abzeichnenden Corona-Krise ließen sie davon ab – nach Intervention durch Altmaier und die Bundeskanzlerin. Erst müsse die Vorlage des zweiten Teils der EY-Umfrage abgewartet werden, lautete die Begründung. Außerdem wären dem Unternehmerlager im Zeichen der Krise vorerst keine neuen „Belastungen“ zuzumuten.

So könnte es unendlich weitergehen. Die Bundesregierung hat ein „Belastungsmoratorium« vereinbart, wonach einzelne Branchen bis zum Ende der Pandemie mit neuen „bürokratischen“ und „finanziellen“ Erschwernissen nicht zu behelligen sind. Was, wenn demnächst eine „zweite Welle“ übers Land schwappt und später noch eine dritte oder vierte? Auf die versprochene „Schonzeit“ berufen sich ausdrücklich auch die Wirtschaftsbosse in ihrem Brief an Brinkhaus: „Eine gesetzliche Regelung im Bereich der Lieferketten würde die Kluft zwischen politischen Entscheidungen und unternehmerischen Herausforderungen weiter vergrößern.“

Haftungsregeln entschärft

Eine Kluft besteht auch zwischen dem, was in Heils und Müllers ersten Eckpunkten für ein Lieferkettengesetz geschrieben stand, und dem, was davon übrig geblieben ist. Vor drei Wochen hatte das in der Sache bestens informierte „Handelsblatt“ über den bis heute nicht offiziell vorgelegten Entwurf berichtet. Nach dessen Wortlaut müssten die fraglichen Personen- und Kapitalgesellschaften prüfen, „ob sich ihre Aktivitäten nachteilig auf Menschenrechte auswirken und angemessene Maßnahmen zur Prävention und Abhilfe ergreifen“. Dabei gehe es beispielsweise um Kinderarbeit, Diskriminierung, Hungerlöhne, Landkonflikte oder Umweltverschmutzung.

So weit, so gut. Allerdings wurden die ursprünglich geplanten Haftungsregeln an entscheidenden Stellen entschärft. So müsse das geforderte Risikomanagement „verhältnismäßig und zumutbar“ sein, heißt es jetzt. Die Haftung soll demnach gestaffelt werden: „Je näher die Beziehung zum Zulieferer und je höher die Einwirkungsmöglichkeit, desto größer die Verantwortung zur Umsetzung unternehmerischer Sorgfaltspflichten.“ Zur Rechenschaft gezogen werden könnte ein Unternehmer nur im Falle einer Beeinträchtigung, „die bei Erfüllung der Sorgfaltspflicht vorhersehbar und vermeidbar war”. Sollte es dagegen zu Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferkette kommen, obwohl das Unternehmen seine Vorgaben erfüllt hat, wäre es nicht zur Verantwortung zu ziehen.

Bei Zuwiderhandlungen drohen dagegen Bußgelder und der zeitweilige Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge. Wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb, ist in den Beratungen ein anderer Punkt verschüttgegangen: Die Drohung mit dem Strafrecht. Demnach sollen „Sünder“ nur zivilrechtlich belangt werden dürfen, also selbst in Fällen, bei denen in ihrer wenigstens indirekten Verantwortung Todesopfer zu beklagen sind. Das wäre ein echter Freibrief zum zügellosen Wirtschaften. Ein paar Millionen Euro Schadenersatz macht der Vorstandsboss eines transnationalen Konzerns zur Not ganz locker locker. Die Drohung mit dem Knast hätte dagegen mehr Eindruck gemacht. Hätte, hätte, Lieferkette – so weit wollen nun aber selbst die Herren Müller und Heil nicht mehr gehen. Oder sie haben nur genau aufgepasst: Nach dem Durchsickern ihres ersten Eckpunktepapiers hatte BDA-Chef Kramer gemault, bei Umsetzung stünden Firmeneigner „mit beiden Beinen im Gefängnis“. Das war wenigstens ein Beitrag zur Ehrlichkeit.

Auf die ganz lange Bank

Zur Wahrheit gehört schon jetzt, dass ein „Sorgfaltspflichtengesetz“, so es denn irgendwann das Licht der Welt erblickt, ein veritabler Papiertiger sein wird. Davor hat auch die Initiative Lieferkettengesetz in einer Pressemitteilung gewarnt. Abseits der Frage nach der inhaltlichen Substanz stellt sich die nach der Praxistauglichkeit. Wer in den kaputtgesparten deutschen Behörden liest die ganzen Berichte, die Tausende Unternehmen alljährlich abliefern müssten, wer prüft die Plausibilität der Angaben, wer geht möglichen Zweifeln nach, am besten an den „Tatorten“ im Ausland? Wer kümmert sich um die avisierten Beschwerdemechanismen, wer an den personell ausgebluteten deutschen Gerichten verhandelt die kommenden Schadensersatzklagen? Oder sollen einmal mehr kapitalfreundliche private Schiedsgerichte einspringen?

So oder so fließt noch viel chemikalienverseuchtes Wasser die Flüsse dieser Erde runter, bis ein Gesetz wirklich steht. Dass es einen deutschen Alleingang geben wird, ist allein wegen des Holzhammerarguments Corona-Krise praktisch ausgeschlossen. Schon gar nicht wird die Regierung vor der nächsten Bundestagswahl Vollzug melden. Altmaier weiß bereits, wie die Sache läuft. „Ich setze mich für eine zügige europäische Lösung ein, um einen nationalen Flickenteppich und die damit verbundenen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU zu vermeiden.“ Man beachte die Worte „Europa“ und „zügig“ in einem Satz. Heute schon gelacht?

Titelbild: Hari Mahidhar / Shutterstock