Wem das friedliche Zusammenleben der Völker in Europa ein Anliegen ist, wird sich oft und nicht erst seit Putin darüber wundern, wie zielstrebig am Feindbild Russland gemalt wird. Russophobie ist in. Im Mai-Heft von „Le Monde Diplomatique“ ist ein Artikel des Jerusalemer Professors für internationale Beziehungen Guy Laron zum Thema erschienen. Der Titel lautet übersetzt: „Eine kleine Geschichte der Russophobie“. Der Autor berichtet, dass schon seit mindestens zwei Jahrhunderten am Feindbild Russland gearbeitet wird. Und er belegt, dass zu diesem Zweck Dokumente gefälscht und Geheimdienste eingeschaltet worden sind. Im Westen nichts Neues. Gerhard Kilper hat den Artikel für die NachDenkSeiten zusammengefasst. Dafür und für den Hinweis auf den Artikel, der ausgesprochen interessant und aktuell ist, gebührt ihm der Dank der NachDenkSeiten-Leserschaft. Albrecht Müller.
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Eine kleine Geschichte der Russophobie
Zusammenfassender Bericht von Gerhard Kilper über einen in der Mai-Ausgabe 2020 der französischen Monatszeitung «Le Monde diplomatique» erschienenen Artikel mit dem Originaltitel «Petite histoire de la russophobie»
Von Guy Laron, Professor für internationale Beziehungen an der hebräischen Universität in Jerusalem.
Laron weist in seiner Einleitung auf das juristische Scheitern der amerikanischen Demokraten bei ihrem Versuch hin, Donald Trump für die Präsidentenwahl 2016 eine heimliche Zusammenarbeit mit Moskau unterstellen zu können.
Die innenpolitische Instrumentierung krankhafter antirussischer Zwangsvorstellungen habe in den westlichen Ländern eine lange Tradition. Britische Konservative hätten nicht davor zurückgescheut, mit bewusst lancierten Falschdokumenten eine russophobe Stimmung zu erzeugen, a) um Wahlen zu beeinflussen und b) um von Problemen verschärfter gesellschaftlicher Inegalität abzulenken.
Ein machiavellistischer Autokrat, Herrscher eines barbarisch-asiatischen Landes bedroht mit seinen allmächtigen Geheimdiensten, die ihre Fangarme über die ganze Welt ausgebreitet haben, die westliche Zivilisation… Diese Karikatur-Bilder-Flut russischer Allmacht, die sich täglich über die westlichen Länder ergießt, gibt es nicht erst, seit Wladimir Putin in den Kreml eingezogen ist.
Der antirussische Wahn, mit historischen Wurzeln schon im 15. Jahrhundert, hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Kreierung des „Russophobie“-Begriffes geführt. Russophobie stand für bewusste Schürung irrationaler Russland-Ängste und für Übertreibungen einer von Russland ausgehenden Gefahr.
Hintergrund der im 19. und 20. Jahrhundert künstlich erzeugten russophoben Panik war die mit der Industrialisierung sich verschärfende gesellschaftliche Ungleichheit und das Aufkommen der Arbeiterbewegung. Konservative Eliten sahen in der Russenangst ein probates politisches Vehikel zur Ablenkung der Öffentlichkeit von den tatsächlich bestehenden Problemen der inegalitären britischen Gesellschaft.
Im Jahr 1817, zwei Jahre nach Ende der Napoléonischen Kriege, lancierte der zu Beginn des Krieges als Geheimagent und Verbindungsoffizier nach Russland geschickte britische General Sir Robert Wilson über die britische Tageszeitung „Morning Chronicle“ ein Falschdokument als vorgebliches „Testament“ Peters des Großen (1672-1725).
Das Papier, das Wilson erstmals 1812 zu Gesicht bekommen hatte, enthielt angebliche Expansionsempfehlungen Peters des Großen an seine Nachfolger. In Wirklichkeit war es ein von den Franzosen verfasstes Propagandapapier, das frz. Truppen auf ihrem Rückzug hinterlassen hatten.
Wilson war vollkommen klar, dass es sich bei dem angeblichen Testament um ein französisches Falschpapier zur Legitimierung der Russlandinvasion handelte. Dennoch publizierte er 1817 ein Buch, in dem er sich – unter Bezug auf die Fälschung – zur Vorhersage verstieg, Russland werde für Großbritannien ein schlimmerer Feind werden als das jüngst im Bündnis mit Russland besiegte Frankreich.
Zwar war Wilson als Kriegsteilnehmer die entscheidende Bedeutung der russischen Landarmee bei der Besiegung Napoléons klar, doch das war jetzt für ihn nur noch ein weit zurückliegendes Erinnerungsstück.
Woher dieser plötzliche Bündnis-Sinneswandel[1]?
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts blickte Großbritannien auf drei Jahrhunderte Freihandel und auf freundschaftliche Beziehungen zu Russland zurück, das ihm insbesondere als Rohstoffquelle diente. Ab der Wende zum 19. Jahrhundert unternahmen jedoch die Zaren Alexander I. (1801-1825) und Nikolaus I. (1825-1855) verstärkte Anstrengungen zur eigenen Industrialisierung und führten ein System von Schutzzöllen ein. Der englische Export wurde dadurch eingeschränkt und die massiven russischen Getreideexporte führten zu einem Handelsbilanzüberschuss Russlands gegenüber Großbritannien [2].
Russland beließ es jedoch nicht dabei, nur ökonomisch gegenüber dem Westen aufzuholen, sondern versuchte auch, sich territorial nach Süden und Osten auszudehnen. So im Krimkrieg 1853-56 gegen das von einer britisch-französischen Koalition unterstützte Osmanische Reich und mit Eroberungen im Kaukasus sowie in Zentralasien. Diese Expansionsbemühungen ließen in Großbritannien Befürchtungen aufkommen, Russland plane eine Invasion Indiens.
Die kriegerische russische Außenpolitik erinnerte die Europäer an Wilsons vorgebliches Testament Peters des Großen. Alle politischen Debattenteilnehmer, von den ungarischen, baltischen und polnischen Nationalisten bis zu Karl Marx, Friedrich Engels und den britischen Konservativen gingen von der Echtheit des Dokuments aus, das 1856 gar zum Thema historischer Forschungen wurde.
1876 befragte ein britischer Diplomat den Zaren Alexander II. direkt zur Authentizität des Testaments Peters des Großen. Der russische Zar wies ohne Umschweife die Echtheit des Dokuments zurück. Alles, was je über das Testament Peters des Großen und die Pläne Katharinas II. gesagt worden sei, beruhe auf Phantasien und Illusionen [3].
1879 einigten sich die untersuchenden Historiker auf die Hypothese einer Dokumentenfälschung. Das hinderte jedoch interessierte Kreise nicht daran, das Falschpapier weiterhin als probates Beweisstück zur Entschlüsselung russischer Außenpolitik anzusehen.
Auch die von britischen Konservativen im 19. Jahrhundert vermuteten militärischen Kapazitäten Russlands waren Übertreibungen, wie die russischen Niederlagen 1853-1856 im Krimkrieg und 1905 im Krieg gegen Japan offenbarten. Aufgrund fehlender moderner Technologien im Nachrichten- und Transportwesen wäre die russische Armee, trotz ihrer zahlenmäßigen Größe, nie dazu in der Lage gewesen, das Osmanische Reich zu besiegen oder in Indien einzumarschieren.
Doch die britischen Russophoben schürten weiterhin ihre Panik und beschuldigten den eigentlich eine harte Linie gegen Russland fahrenden Premierminister Lord Palmerston nicht nur, von Russland an der Nase herumgeführt zu werden, sondern auch der geheimen Komplizenschaft bei Russlands Plänen einer Vernichtung des Britischen Empire [4].
Britische Staatsmänner schwankten in ihrer Einschätzung der von Moskau ausgehenden Bedrohung je nach Parteizugehörigkeit.
Konservative als Interessenvertreter der Londoner City standen eher für ein hartes Vorgehen, während die der Industrie nahestehenden Liberalen zwecks Erleichterung britischer Exporte eine eher geschmeidige Haltung einnahmen [5].
Die Tories bedienten sich der Russophobie auch in ihrer Kampagne gegen die Ausweitung des Wahlrechts (1867 waren nur 10% der Briten wahlberechtigt).
1907 wurde die seit den Napoléonischen Kriegen latent bestehende englisch-russische Feindschaft dann in einer Art Waffenstillstandsvertrag vorläufig beendet.
Die Situation der Beziehungen änderte sich grundlegend mit der Oktoberrevolution 1917. Die Sowjetunion wurde von britischen Konservativen fortan als „Alptraum“ wahrgenommen, da sie den Freihandel nicht fortführte und Gewerkschaften sowie antikoloniale Freiheitsbewegungen unterstützte.
In den 1920er Jahren waren britische Konservative geradezu besessen von der Furcht, kommunistische Propaganda und Subversion könnten die Grundlagen des Britischen Empire erschüttern. Zur Russophobie hatte sich nun die Kommunistenphobie gesellt [6].
Im Januar 1924 wurde als Novum der britischen Geschichte unter Führung des Liberalen Ramsay MacDonald die erste Arbeiterregierung gebildet. Diese, die konservativen Führungsfiguren um Stanley Baldwin und Winston Churchill beunruhigende, Regierung schaffte es in kurzer Zeit, die Lage der Arbeiterschaft durch mehr Rechte bei Arbeitslosigkeit und durch ein Gesetz zur Beschaffung bezahlbaren Wohnraums zu verbessern. Die Arbeiterregierung versuchte auch, den Export britischer Maschinen in die Sowjetunion wieder in Gang zu bringen – worauf die Tories die neue Regierung der heimlichen Zusammenarbeit mit Moskau bezichtigten.
Im November 1924, am Vorabend der Unterhauswahlen, wurde von der konservativen britischen Tageszeitung Daily Mail ein vom britischen Geheimdienst MI6 erstelltes Falschdokument als angeblich echter Brief des Komintern-Spitzenmanns Grigori Zinoviev veröffentlicht. Der Brief, schon vor seinem Bekanntwerden den Konservativen zugespielt worden, schien zu beweisen, dass die Sowjetunion versucht, die Unterhauswahlen zugunsten der Arbeiterpartei zu beeinflussen. Wie dem auch sei, jedenfalls siegten im Gefolge dieser spektakulären medialen „Enthüllung“ die Tories prompt bei den nachfolgenden Wahlen [7].
1926 lösten in Großbritannien Unternehmenszusammenbrüche der Kohleindustrie eine Wirtschaftskrise aus, die zu einem Generalstreik führte. Ohne Beweise vorlegen zu können, behauptete die konservative Regierung, die Sowjetunion habe zu den Unruhen beigetragen und brach 1927 die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab. Die britischen Konservativen empfanden die drei epochalen Phänomene „Infragestellung des Freihandels, Aufstieg der Arbeiterparteien und Anwachsen antikolonialer Bewegungen“ als Bedrohung britischer Interessen.
In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre sahen die britischen Eliten – trotz des Machtaufstiegs von Mussolinis Italien und von Hitlers Nazi-Deutschland – in der Sowjetunion den Hauptfeind Großbritanniens.
Eine antifaschistische Koalition unter Einschluss der Sowjetunion war daher in den 1930er Jahren aus ihrer Sicht nicht vorstellbar [8].
Der bekannte britische Konservative Leo Amery empfahl 1936 eine „gegenseitige Neutralisierung der drei Gefahren Deutschland, Russland und Japan“. Premierminister Stanley Baldwin übernahm diesen Strategieansatz mit der Feststellung, wenn es einen Krieg in Europa geben sollte, dann den der „Bolschos“ gegen die Nazis [9].
Für die Konservativen war die Versuchung groß, die sich aus ihrer Sicht ergebenden Gefahren aus den o.g. drei Phänomenen den Machenschaften einer „fünften Kolonne“ unterzuschieben. Das bot zwar tagespolitische Vorteile, verhinderte jedoch die Bildung einer internationalen Koalition, die fähig gewesen wäre, dem Aufstieg des Nazismus Einhalt zu gebieten.
Aktuell erinnert das zunehmende Misstrauen gegenüber Russland in mancher Hinsicht an die Russophobie vergangener Zeiten.
Man könnte sich heute fragen, ob Historiker künftiger Generationen vielleicht eine Parallele zwischen dem Brief des Komintern-Mannes Zinoviev und dem Dossier des Ex-Agenten des britischen Geheimdienstes Steele sehen werden, der als Erster hypothetisch eine heimliche Zusammenarbeit zwischen dem Kandidaten Donald Trump und Russland aufbrachte.
Oder ob künftige Historiker vielleicht bedauern werden, dass in Zeiten verschärfter internationaler Spannungen, verbunden mit einem Wettlauf um den Besitz von Atomwaffen, kein einziger Politiker den Mut aufbrachte, Putin ein konstruktives (friedenspolitisches) Engagement vorzuschlagen.
Oder ob künftige Historiker vielleicht einen Zusammenhang zwischen den offensichtlich gewordenen Ungleichheiten unserer Gesellschaften und dem Wiederaufleben der Russophobie herstellen werden.
Antirussische Gefühle waren selten ein Ratgeber für kluge und vernünftige Politik – das lehrt uns die Geschichte.
[«1] Cf. Albert Resis, „Russophobia and the “Testament” of Peter the Great, 1812-1980”, Slavic Review, vol. 44, no.4, Cambridge, hiver 1985: et John Howes Gleason, The Genesis of Russophobie in Great Britain, Harvard University Press, Cambridge, 1950.
[«2] Cf. Boris Kagarlitsky, Empire of the Periphery, Russia and the World System, Pluto Press, Londres, 2008, et Margaret Miller, The Economic Development of Russia, 1905-1914, Frank Cass, Londres 1969.
[«3] Cité dans Albert Resis, op.cit.
[«4] Charles William Crawley, “Anglo-Russian relations 1814-1840”, The Cambridge Historial Journal, vo. 3, no.1, 1929.
[«5] Cf. Kevin Narizny, The Political Economy of Grand Strategy, Cornell University Press, 2007.
[«6] Lire Paul Hanebrink, “Quand la haine du communism alimentait l’antisémitisme », Le Monde Diplomatique, décembre 2019
[«7] Richard Norton-Taylor, « Zinvoviev letter was dirty trick by MI6”, The Guardian, Londres, 4 février 1999.
[«8] Lire Gabriel Gorodetsky, “Un autre récit des accords de Munich », Le Monde diplomatique, octobre 2018.
[«9] Cité dans Anne Perkins, Baldwin, Haus Publishing, Londres, 2006.