Rund 1.500 Menschen sollen iranische Sicherheitskräfte während der Proteste im vergangenen November getötet haben. Mit diesem Vorwurf begründen die USA ihre harte Politik gegenüber dem Iran. Doch der Ursprung der Zahl ist höchst zweifelhaft. Von Fabian Goldmann.
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Nicht die Zahl von Toten oder Infizierten, sondern ein Brief des iranischen Präsidenten Hassan Rohani war es, der offenbarte, wie schlimm die weltweite Corona-Pandemie sein Land getroffen hatte. In einem für iranische Verhältnisse ungewöhnlichen Hilfsappell bat Rohani die internationale Staatengemeinschaft am 14. März 2020 um humanitäre Hilfe für sein Land, das sich aufgrund der US-Sanktionspolitik kaum selbst mit dem nötigen medizinischen Material versorgen könne. Washingtons Antwort folgte umgehend: Als „Sanctions Relief Scam“ [in etwa: Schwindel zur Erleichterung von Sanktionen) wies US-Präsident Donald Trump am 2. April das Hilfsgesuch der Iraner zurück. Einer der Gründe, warum seine Regierung auch in der Coronakrise nicht zu einer Lockerung der Sanktionen bereit sei, seien die 1.500 Menschen, die iranische Sicherheitskräfte während der Proteste im November 2019 getötet hätten. Der Tenor seines Statements: Wer Geld habe, seine Sicherheitskräfte auf die eigene Bevölkerung schießen zu lassen, habe auch Geld, um die Kranken zu versorgen.
Die Zurückweisung von Irans Hilfegesuch in der Coronakrise ist nur eines von vielen Beispielen, wie die USA die gewalttätigen Ereignisse im Iran Ende vergangenes Jahr nutzen, um ein härteres Vorgehen gegen die Islamische Republik zu begründen. Ob es um die Verhängung neuer Sanktionen geht, die Rechtfertigung der gezielten Tötung des Generals Soleimani oder die Verhängung von noch mehr Sanktionen: Die Geschichte von 1.500 getöteten Demonstranten, die im friedlichen Kampf gegen ein brutales Regime ihr Leben ließen, ist aus der Iran-Politik der USA nicht mehr wegzudenken. Aber stimmt sie eigentlich? Haben iranische Sicherheitskräfte bei den Protesten Ende vergangenen Jahres wirklich rund 1.500 Menschen getötet?
Ein bisher einmaliger Leak aus Khameneis engstem Umfeld?
Sicher ist: Als ab dem 15. November 2019 infolge steigender Benzinpreise immer mehr Iraner auf die Straße gingen, antworteten Sicherheitskräfte vielerorts mit Gewalt. Von einer „brutalen Niederschlagung“ der Proteste berichtete die New York Times am 1. Dezember des vergangenen Jahres. Dutzende Tötungen rekonstruierte France24 in einer aufwändigen Recherche auf Basis von Handy-Videos. Doch auf die Frage, von wem die Gewalt ausging, lieferten Beobachter ebenso unterschiedliche Angaben wie zur genauen Anzahl der Todesopfer. Nach zwei Wochen Unruhen reichten die Schätzungen von „einigen“ des iranischen Staatsfernsehens bis zu „Hunderten“ durch das US-Außenministerium.
Erst am 23. Dezember, also rund drei Wochen nachdem die Proteste weitgehend abgeflaut waren, sollte die Ungewissheit ein Ende haben: An diesem Tag schien die Nachrichtenagentur Reuters die Antwort auf alle offenen Fragen zu liefern und dabei selbst die schlimmsten Befürchtungen zu übertreffen. „Rund 1.500 Menschen wurden in weniger als zwei Wochen der Unruhen getötet, die am 15. November begonnen haben“, schrieb Reuters. Nicht nur die Höhe der Todesopfer, auch die Quelle, auf die sich die namentlich nicht genannten Autoren beriefen, schien sensationell: Drei Beamte des Innenministeriums, die zudem aus dem „inneren Zirkel“ von Revolutionsführer Khamanei stammen sollten, hätten Reuters die Informationen zugespielt. Aus Angst vor einem Sturz des Regimes habe Khamenei die gewaltsame Niederschlagung der Proteste angeordnet. Selbst den genauen Wortlaut der Anordnung kannte Reuters: „Tun Sie, was immer nötig ist, um es zu beenden.“
Selbst die iranische Opposition geht von weniger Toten aus
Mehrere Sachen fallen an der Exklusiv-Geschichte auf. Der auffälligste Aspekt: die schiere Höhe der Todeszahl. Mit 1.500 getöteten Demonstranten liegt Reuters nicht nur über den Angaben der US-Regierung, bevor diese die Reuters-Zahl übernahm. Reuters stellt auch sämtliche anderen im Umlauf befindlichen Schätzungen in den Schatten: „Mindestens 304 Menschen bei Protesten getötet.“ Dies berichtete am 16. Dezember 2019 die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die bisher kaum im Verdacht stand, die Menschenrechtssituation im Iran verharmlosen zu wollen. Wie genau ihre Beobachter zu den Zahlen kamen, verriet auch Amnesty nicht. Im Bericht ist lediglich von „glaubwürdigen Quellen“ und „Interviews mit dutzenden Menschen im Iran“ die Rede.
Noch verwunderlicher: Selbst die Angaben der iranischen Opposition, die allen Grund hätte, die Machthaber der Islamischen Republik in ein schlechtes Licht zu rücken, reichen nicht annähernd an die Zahlen von Reuters heran: Von 366 Getöteten berichtete die Oppositionswebsite Kalemeh gegen Ende der Proteste am 28. November. Anfang Januar 2020 erhöhte Kalameh, das dem 2009 gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Hossein Mousavi nahe steht, die Schätzung und gab 631 Getötete an.
Iran-Kenner bezweifeln die Echtheit des Berichts
Nicht nur die hohe Zahl der möglichen Todesopfer aus dem Reuters-Bericht gibt Anlass zu Zweifeln. In den vergangenen Monaten meldeten sich renommierte Iran-Experten, die auf zahlreiche weitere Ungereimtheiten aufmerksam machten: „Kann irgendein anderer unabhängiger Journalist oder irgendeine Menschenrechtsgruppe die Reuters-Geschichte bestätigen?“, fragte die iranisch-amerikanische New-York-Times-Journalistin Farnaz Fassihi schon kurz nach der Veröffentlichung auf Twitter. „Selbe Zweifel von meinen Quellen im Iran“, antwortete Armin Arefi, Iran-Korrespondent für das französische Polit-Magazin „Le Point“. Positive Rückmeldungen gab es keine. Ihre Frage beantwortete Fassihi kurzerhand selbst: „Ich war dazu nicht in der Lage und ich höre Zweifel aus allen Richtungen.“ Dass über dem Reuters-Text kein Autorenname erscheine, verstärke diese Zweifel noch.
Auch Najmeh Bozorgmehr, Teheran-Korrespondentin der Financial Times, äußerte Kritik an der Geschichte: „Frauen spielten in diesen Protesten keine große Rolle. Wie können hunderte von ihnen getötet worden sein“, fragte Bozorgmehr mit Blick auf die Reuters-Darstellung, wonach 400 der 1.500 Todesopfer weiblich gewesen sein sollen. Zweifel an der Authentizität von Reuters’ Quellen hat auch Ali Noorani, „Iran ist anders als viele andere. Für loyale Beamte aus dem ‘inneren Zirkel’ wäre das Reden hinter dem Rücken ihres Vorgesetzten nichts anderes als Verrat“, schreibt der ehemalige Iran-Reporter der Nachrichtenagentur AFP.
Es habe schon häufiger Zweifel an Reuters-Berichten gegeben, die sich auf ungenannte Quellen stützen, erklärt auch die Journalistin Mitra Amiri gegenüber dem Autor dieses Textes. Amiri, die selbst für Reuters im Iran gearbeitet hat, verweist darauf, dass das Reuters-Büro in Iran seit 2001 geschlossen sei und derzeit keine Journalisten der Nachrichtenagentur in dem Land akkreditiert seien: „Ich bin zurzeit sehr misstrauisch, was Reuters-Berichte über den Iran angeht.“
Die Reuters-Zahlen füllten die Lücke, die Irans Behörden hinterließen
Trotz aller Zweifel: Nicht nur in der US-Regierung stieß der Reuters-Bericht von den 1.500 getöteten Demonstranten auf dankbare Rezipienten. In Tausenden Medienberichten finden sich heute die Angaben der großen britischen Nachrichtenagentur. Ein Hinweis auf die fragwürdige Quellenlage fehlt meist ebenso wie die Erwähnung alternativer Berichte zu Opferzahlen. Wie konnte die Geschichte eines anonymen Autoren, die sich auf nicht nachprüfbare Quellen beruft, deren Glaubwürdigkeit von vielen unabhängigen Iran-Kennern in Zweifel gezogen wird und deren Angaben selbst der Darstellung von Menschenrechtsorganisationen und der iranischen Opposition widerspricht, so großen Anklang finden?
Ein Akteur, der zum Erfolg der Reuters-Geschichte beigetragen hat, sind die Machthaber der Islamischen Republik selbst: Monatelang weigerten sich iranische Politiker und Behördenvertreter, eigene Opferzahlen zu veröffentlichen. Selbst nach der Veröffentlichung des Reuters-Berichts tat die iranische Regierung wenig, um das entstandene Bild mit Fakten zu entkräften. Zu lange versäumten es die Mächtigen in Teheran, dem Narrativ von der brutalen Niederschlagung friedlicher Proteste mit Transparenz und schonungsloser Selbstkritik eine glaubwürdige Alternative entgegenzusetzen. Statt die juristische und politische Aufarbeitung der Ereignisse offensiv voranzutreiben und die Verantwortlichen für Gewalttaten zur Rechenschaft zu ziehen, beließen es die Mächtigen in Teheran zu lang dabei, Berichte über die Niederschlagung der Proteste als ausländische Propaganda abzutun. So schuf Teheran erst das Informationsvakuum, in dem sich unseriöse Anschuldigungen ungehindert ausbreiten konnten.
Es dauerte über ein halbes Jahr, bis Vertreter der iranischen Regierung selbst Angaben dazu machten, wie viele Menschen bei den Protesten Ende des Jahres 2019 getötet wurden: 200 bis 225 Menschen hätten in dieser Zeit ihr Leben verloren, erklärte Innenminister Rahmani Fazli am 31. Mai 2020 in einem Fernsehinterview. Auch nach seiner Darstellung waren es vor allem seine eigenen Sicherheitskräfte, die tödliche Gewalt einsetzten: 80 Prozent der Toten gingen auf ihr Konto, 20 Prozent der Getöteten lastete Fazli Gewalttätern in den Reihen der Demonstranten an. Es gibt keinen Grund, den offiziellen Angaben der iranischen Regierung unkritisch Glauben zu schenken. Auffällig ist jedoch, dass sich auch diese Zahl in derselben Größenordnung bewegt wie jene, die vor der Reuters-Story durch unabhängige und regierungskritische Akteure verbreitet wurden.
So exklusiv war die Reuters-Geschichte gar nicht
Unabhängig von der Frage, was man von den offiziellen iranischen Angaben hält, bleibt die Frage: Wie kam Reuters zu einer Zahl, die alle anderen im Umlauf befindlichen Angaben um ein Vielfaches übersteigt? Vielleicht hat der ehemalige AFP-Iran-Reporter Ali Noorani recht. „Es würde mich nicht überraschen zu hören, dass ein dritter Staat Reuters hat glauben lassen, dass sie es mit Khameneis Gehilfen zu tun haben. Ich weiß es nicht. Denke nur laut nach“, spekulierte Noorani kurz nach Veröffentlichung der Reuters-Geschichte auf Twitter.
Möglicherweise ist genau das geschehen. Nur, dass es nicht ein anderer Staat, sondern eine politische Bewegung war, auf deren Information die Reuters-Story basierte. Reuters waren nicht die ersten, die die Zahl von 1.500 getöteten Demonstranten in die Welt setzten. „Über 1.500 Getötete im landesweiten Aufstand des iranischen Volkes“, hieß es schon am 15. Dezember in einer Pressemitteilung, also acht Tage bevor Reuters seine vermeintliche Exklusiv-Story veröffentlichte. Bei der Niederschlagung der Proteste, so geht die Mitteilung weiter, habe es sich “zweifelsohne um eines der schockierendsten Verbrechen des 21. Jahrhunderts“ gehandelt. Die Verfasserin der Erlärung: Maryam Rajavi, Vorsitzende der militanten Iranischen Oppositionsbewegung der Volksmudschahedin (MEK).
Es verwundert nicht, dass bis zur Veröffentlichung des Reuters-Berichts kaum ein Medium die Angaben von 1.500 getöteten Demonstranten aufgriff und bis heute keine Regierung auf die Volksmudschahedin verweist, um Iran für die Brutalität seiner Sicherheitskräfte anzuprangern. Schließlich gelten die Volksmudschahedin kaum als unabhängige und seriöse Quelle. Seit vier Jahrzehnten führt die einst stalinistische Bewegung auf allen Ebenen und mit allen Mitteln den Kampf gegen die Islamische Republik: mal an der Seite Saddam Husseins, mal unterstützt von der CIA, mal mit Terroranschlägen, mal mit Worten. MEK-Meldungen, die die iranische Regierung regelmäßig der schlimmstmöglichen Verbrechen beschuldigen, sind so zahlreich wie die Berichte, die den baldigen Untergang der Islamischen Republik vorraussagen. Faktenbasiert sind sie selten.
Die Opfer sind die Menschen im Iran
Kann es sein, dass der Ursprung für die Reuters-Geschichte von 1.500 getöteten Demonstranten in der Öffentlichkeitsarbeit einer Organisation liegt, die lange Zeit auf der Terrorliste von EU und USA stand? Gab es die drei iranischen Beamten aus Khameneis innerem Zirkel womöglich nie? Hat der ungenannte Reuters-Autor einfach bei MEK abgeschrieben? Oder haben MEK-Leute der renommierten Nachrichtenagentur vermeintliche Aussagen angeblicher iranischer Offizieller untergejubelt? Diese und viele andere Fragen zur Authentizität und Entstehungsgeschichte des Berichts vom 23. Dezember 2019 hat der Autor dieses Textes an Reuters geschickt. Eine Antwort auf die Fragen lieferte Reuters ebenso wenig wie ein Dementi, dass MEK-Informationen zur Story von den 1.500 Getöteten beigetragen haben könnten. Eine Floskel vom PR-Manager der Nachrichtenagentur blieb nach mehreren Nachfragen die einzige Antwort: „Reuters steht zu seiner Story, die sorgfältig, gründlich belegt und überprüft und im öffentlichen Interesse veröffentlicht wurde.“
Auch über ein halbes Jahr nach den Protesten im Iran bleibt unklar, wie viele Menschen damals ihr Leben ließen. Von „einer erschreckend hohen Todeszahl“ und einem „sehr großen Gewaltniveau“ geht Adnan Tabatabai aus. Die Reuters-Zahlen bewertet der Leiter des Nahost-Forschungsinstituts „Center for Applied Research in Partnership with the Orient“ (CARPO) dennoch als „maßlos überzogen.“ „Mir scheint, dass die Wahrheit in der Mitte zwischen den Zahlen von Amnesty und den Aussagen des iranischen Innenministeriums liegt – wir landen da also bei ca. 250-300 Toten“, erklärt Tabatabai gegenüber dem Autor dieses Textes und verweist auf eigene Kontakte im Land.
Auch wenn die genauen politischen Ereignisse, auf denen der Reuters-Bericht basiert, weiter unklar sind, sind die politischen Folgen des Berichts äußerst real: Die Konsequenzen der Reuters-Story für die Menschen im Iran zeigen sich, wenn die US-Regierung mit Verweis auf 1.500 getötete Demonstranten jene Wirtschaftssanktionen verschärft, die mit zum Ausbruch der Proteste im vergangenen November beigetragen haben, oder humanitäre Hilfe zur Bekämpfung der Coronakrise verweigert. Sie zeigen sich aber auch, wenn Irans Mächtige die berechtigten Forderungen von Opfern und Hinterbliebenen nach juristischer und politischer Aufarbeitung und Wiedergutmachung mit Verweis auf die Reuters-Zahlen leichtfertig als Produkt ausländischer Propaganda abtun können. So schadet Reuters’ zweifelhafte Geschichte von den 1.500 getöteten Demonstranten letztlich auch jenen, auf deren Leid sie eigentlich aufmerksam machen sollte.
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