„Das ist ganz klar kein Einzelfall, und genau da liegt das Problem.“ Das sagt der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow im NachDenkSeiten-Interview zum Fall Philipp Amthor. Bülow, der aus der SPD ausgetreten und fraktionsloses Mitglied des Bundestages ist, kritisiert seit langem die Nebentätigkeiten von Politikern. Den Fall des 27-jährigen Amthors, der derzeit im Zentrum einer Lobbyismus-Affäre steht, bezeichnet er im Interview als „besondere Zuspitzung eines weitaus größeren Problems.“ Mit deutlichen Worten kritisiert Bülow Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der sagte, er sehe derzeit keine Verstöße Amthors. „Ein Bundestagspräsident“, so Bülow, „der sich schützend vor eine Person mit diesen Auswüchsen stellt, wird seinem Amt in keiner Weise gerecht.“ Ein Interview über Lobbyismus im Bundestag und die Frage, warum das Problem so schwer in den Griff zu bekommen ist. Von Marcus Klöckner.
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Herr Bülow, Sie setzen sich schon länger für ein Lobbyregister ein und kritisieren immer wieder den Einfluss von Lobbyisten. Sehen Sie sich durch den Fall Amthor nun bestätigt?
Ja, leider. Der Fall Amthor offenbart vieles, was schon seit Jahren im Umgang mit der Profitlobby grundlegend schiefläuft.
Wie ordnen Sie das Verhalten von Amthor ein?
Amthor hat sich zuletzt als der personifizierte Anstand dargestellt. Der Skandal zeigt, wie doppelzüngig ein Teil der Politik funktioniert. Genau da sehe ich das Problem: Das Verhalten von vielen Politikern entspricht nicht dem Schein, den man versucht zu wahren.
In den vergangenen Tagen wurde in den Medien stark auf die Person Amthor fokussiert. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, das Verhalten habe lediglich den Charakter eines Einzelfalls. Wie sehen Sie das?
Das ist ganz klar kein Einzelfall, und genau da liegt das Problem. Die Reaktionen in der Union zeigen, dass es kein Unrechtsbewusstsein gibt, sondern nur einen Unmut darüber, dass die ganze Sache aufgeflogen und öffentlich geworden ist.
Der Fall Amthor ist eine besondere Zuspitzung eines weitaus größeren Problems. Dass Abgeordnete, MinisterInnen und StaatssekretärInnen neben ihren Ämtern noch Nebentätigkeiten nachgehen und dafür hohe Gehälter bekommen, in gleich mehreren Aufsichtsräten sitzen, ein hohes Honorar für Vorträge erhalten oder ihnen Posten in der Wirtschaft versprochen werden, ist gang und gäbe. Vor allem bei denen, die Karriere machen oder viel politischen Einfluss haben. Amthor ist ein Symbol dafür, dass das ganze Spiel schon im Alter von 27 Jahren beginnt.
Ist Lobbyismus im Bundestag weiter verbreitet, als es für eine Demokratie gesund ist?
Grundsätzlich ist Interessenvertretung in einer Demokratie völlig in Ordnung. Das Problem dabei ist, dass es ein großes Ungleichgewicht zwischen der Profitlobby auf der einen Seite und Vereinen, Initiativen und der Bevölkerung auf der anderen Seite gibt. Einige mächtige Profitlobbyisten haben sehr viel Macht und die Interessen der Bevölkerung und des Allgemeinwohls gehen unter. Sie haben nur noch verschwindend geringe Möglichkeiten, Einfluss auf politische Entscheidungen auszuüben.
Das, was ich Wohlfühllobbyismus nenne, ist nicht illegal, aber trotzdem ungesund für unsere Demokratie, weil es fast keine Regelungen diesbezüglich gibt. Im Gegensatz zu Mitarbeitern in Behörden oder in großen Unternehmen mit Compliance-Abteilungen kann ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete fast alles machen, was er oder sie will. Geldspenden, Aktienoptionen, Nebengehälter oder Honorare dürfen angenommen werden, sie müssen lediglich beim Bundestagspräsidenten angegeben werden und das nicht einmal als exakte Angabe.
Warum tut sich der Bundestag so schwer damit, das Problem in den Griff zu bekommen?
Weil es eigentlich nicht anders gewollt ist. Wir sehen das gut am Beispiel des Lobbyregisters. Die SPD, die sich auf Parteiebene eigentlich für ein Lobbyregister ausgesprochen hat, hat die Einführung in den letzten Koalitionsverhandlungen als Erstes unter den Tisch fallen lassen. Deswegen ist am Ende nie etwas daraus geworden.
Die Einführung eines Lobbyregisters ist aber sowieso nur der erste Schritt in Richtung mehr Transparenz. Was wir wirklich brauchen, ist ein Verhaltenskodex für Profi-Politiker, in dem klare Grenzen des Mandats formuliert sind. Das beinhaltet zum Beispiel eine Begrenzung und erweiterte Veröffentlichungspflicht bei Nebentätigkeiten und -einkünften.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte in einem Interview am Wochenende gesagt, er sehe derzeit keine Verstöße von Amthor. Was halten Sie von dieser Aussage?
Beschönigungen und Verharmlosungen des Falls Amthor sind der eigentliche Skandal und zeigen die Missstände in einigen Teilen der Politik auf. Ein Bundestagspräsident, der sich schützend vor eine Person mit diesen Auswüchsen stellt, wird seinem Amt in keiner Weise gerecht. In diesem Fall vermisse ich Norbert Lammert, der sicherlich ganz anders reagiert hätte.
Leider stimmt es allerdings, dass die Entgegennahme von Aktienoptionen, Geschenken oder bezahlten Reisen gegen kein Gesetz verstößt. Anstatt Amthor jetzt aber in Schutz zu nehmen, müsste erst einmal geprüft werden, ob er nicht doch gesetzeswidrig gehandelt hat. Dafür muss Amthor alles auf den Tisch legen. Am Ende entscheiden im Zweifelsfall dann die Gerichte und nicht Schäuble, ob Amthors Verhalten rechtmäßig war.
Was ist Ihr Eindruck: Wie groß sind die Einflüsse der Lobbyisten im Parlament? Laut Schätzungen soll es etwa 6000 Lobbyisten geben, die versuchen, Abgeordnete zu beeinflussen.
Aufgrund mangelnder Transparenz ist das schwer überblickbar. Klar ist aber, dass der Einfluss der Profitlobby zunimmt, das habe ich in den letzten 17 Jahren im Bundestag erlebt. Der Einfluss wird jedoch nicht nur mehr, er differenziert sich auch aus. Die Beeinflussung findet immer mehr auf Ebene der Ministerien statt, bei den Ministerinnen und Ministern, den Staatssekretären und Staatssekretärinnen. Dort werden die wirklichen Entscheidungen getroffen, oft in freundlicher Zusammenarbeit mit Lobbyisten. Im Bundestag geht es eigentlich nur noch um Schlüsselstimmen und um Abgeordnete, die wichtige Funktionen innerhalb der Fraktion spielen oder Karriere machen wollen.
Wie gehen Lobbyisten vor? Fängt das zuerst harmlos an?
Das ist sehr unterschiedlich. Kleine Initiativen oder NGOs haben viel weniger Personal und können darum oft nur Pressemitteilungen oder Aufforderungen schreiben. Vielleicht haben sie vereinzelt auch mal Zeit, in ein Büro eines Abgeordneten zu kommen, aber oft ist das dann verbunden mit gleich 15 anderen Terminen am Tag. Die Profitlobby hat viel mehr finanzielle und personelle Ressourcen. Damit können sie einen richtigen Wohlfühllobbyismus betreiben, laden Abgeordnete oder Minister auch mal zum Essen ein. Das sind dann im Gegenzug auch die Lobbyisten, die Druck ausüben, wenn Abgeordnete zu bestimmten Gesprächen nicht bereit sind. Das wird dann gerne auch mal an die Fraktionsspitze weitergeleitet und kann schnell einen negativen Einfluss auf die Karriere der Abgeordneten haben.
Was müsste getan werden, damit es zu keinem weiteren Fall dieser Art kommt?
Es wird immer Fälle wie Amthor geben. Ich glaube, es hat System, die Profitlobby zum eigenen Vorteil zu nutzen. Heutzutage ist das ein Karrieresprungbrett und eine Möglichkeit für viele Abgeordnete, ihre Netzwerke aufzubauen und Kungeleien einzugehen. Genau deswegen muss das System geändert und dieser Trend gebrochen werden.
Wie kann das geschehen?
Wir brauchen dafür einen Ethik-Kodex für Profi-Politiker mit klaren Einschränkungen und Veröffentlichungspflichten für Nebentätigkeiten und -einkünfte. Außerdem fordere ich ein verbindliches, detailliertes und unabhängig kontrolliertes Lobbyregister und die Einführung eines legislativen Fußabdruckes für alle Gesetze. Um den Drehtür-Effekt von der Politik in die Wirtschaft zu begrenzen, brauchen wir außerdem eine Karenzzeitregelung von zwei bzw. drei Jahren auch für Abgeordnete. Relevant ist ebenfalls eine Neuregelung von Parteispenden und -sponsoring mit einer Obergrenze und strengeren Veröffentlichungsregeln.
Um langfristig das Vertrauen der Bürger in die Politik wieder aufzubauen, benötigt es außerdem mehr Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger, beispielsweise in Form von Bürgerversammlungen oder direktdemokratischen Elementen.
Grundlegend benötigt es aber auch einer neue politische Kultur. Der Leitsatz muss heißen: Wir Abgeordneten sind nicht der Fraktionsspitze, keiner Regierung und schon gar keinem Konzern verpflichtet, sondern der Bevölkerung. Sie ist unsere Chefin.
Welche Möglichkeiten haben Sie als parteiloser Abgeordneter?
Als parteiloser Abgeordneter habe ich im Endeffekt nicht weniger Gestaltungsmöglichkeiten als andere Abgeordnete. Die Mitglieder der Regierungsfraktionen nicken meist auch nur das ab, was von der Regierung vorgegeben wird, da gibt es fast nie Ausreißer. Oppositionsmitglieder haben im Prinzip auch sehr eingeschränkte Möglichkeiten, Gesetze einzubringen oder zu gestalten. Selbst wenn die Regierungsfraktion einen Vorschlag der Opposition eigentlich begrüßt, wird er als Oppositionsantrag abgelehnt. In meiner Position bin ich freier als viele andere. Ich kann Reden halten, Anfragen stellen und der Stachel im Fleisch sein, ohne jemanden vorher fragen zu müssen und mich daran hindern zu lassen. Ich kritisiere schon lange die Art, in welcher Anhörungen im Bundestag ablaufen. Das ist nicht mehr als ein abgekartetes Spiel, in dem immer die gleichen Interessensvertretungen eingeladen werden. Letztes Jahr habe ich deswegen das Format „re:claim the house“ gestartet, in dem ich soziale Bewegungen, wie zum Beispiel die Klimabewegung, in den Bundestag hole. Wir bräuchten im Bundestag viel mehr Austausch mit der Bevölkerung, zivilgesellschaftlichen Initiativen und sozialen Bewegungen. Ich bemühe mich, diese Lücke zu füllen.
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