Chile und die Pandemie: Die katastrophalen Folgen von Sebastián Piñeras Heilslehre der „Herden-Immunität“ und die Inszenierung des Ausnahmezustands

Chile und die Pandemie: Die katastrophalen Folgen von Sebastián Piñeras Heilslehre der „Herden-Immunität“ und die Inszenierung des Ausnahmezustands

Chile und die Pandemie: Die katastrophalen Folgen von Sebastián Piñeras Heilslehre der „Herden-Immunität“ und die Inszenierung des Ausnahmezustands

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Am 3. März war es offiziell. In einer bundesweit ausgestrahlten Fernsehansprache gab Staatspräsident Sebastián Piñera den ersten Coronavirus-Fall im Lande bekannt. Ein 33-jähriger Arzt aus der Gemeinde San Javier in der zentralchilenischen Region Maule, Passagier eines Fluges aus Singapur, war in das Regionalkrankenhaus von Talca mit Covid-19-Symptomen eingeliefert worden. Von Frederico Füllgraf.

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Doch mit seiner Ansprache verbreitete Piñera zwei falsche Lagebeurteilungen, die verheerende Folgen haben sollten. „Mit dem ersten überprüften Fall breitete sich der Ausbruch auf das gesamte Staatsgebiet aus und erreichte die 16 Regionen des Landes“, hieß es in den darauffolgenden Pressemeldungen. Das war die erste Falschmeldung. Nicht Talca war der Ausgangspunkt der landesweiten Virus-Verbreitung, sondern die Hauptstadt Santiago. Wie im übrigen Lateinamerika kam die Covid-19-Pandemie nach Chile, als die Reichen zwischen Januar und Februar 2020 aus den Ferien in den USA und in Europa zurückkehrten, an den Flughäfen nicht getestet wurden und das Virus in ihre Wohnblocks, Restaurants und Büros einschleppten.

Piñeras zweite falsche Lagebeurteilung war sein pompös vorgetragener Satz, „wir sind bestens darauf vorbereitet!“. Die Ansammlung erratischer Entscheidungen des Präsidenten und seines Gesundheitsministers Jaime Mañalich in den Folgewochen dokumentierten in eklatanter Weise, dass Chiles Elite zwar seit Januar vom Ausbruch der Pandemie durch China informiert worden war, sich jedoch in keinster Weise auf dessen Bekämpfung vorbereitet hatte.

Erst nach dieser Erkenntnis und verspätet verfügte der Präsident am 18. März für die Dauer von 90 Tagen den „Katastrophen-Ausnahmezustand“. Damit wurde die erste Quarantäne-Maßnahme im Land erlassen. Doch nur eine halbherzige Teilabschirmung des Santiago-Oriente der Reichen. Die sich aber nicht angesprochen fühlten, nach wie vor auf den Straßen, in Einkaufszentren und auf den Konsummeilen zwischen Providencia und Vitacura flanierten. Daraufhin wurden die Shopping Malls geschlossen und am darauffolgenden 22. März verkündete Mañalich auf Anordnung Piñeras eine landesweite Ausgangssperre. Nicht aber eine tägliche Ausgangssperre, um die Menschen zum Verbleib zuhause und zu körperlicher Distanzierung zu zwingen, sondern eine nächtliche von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens, mit offensiver Überwachung durch das Militär.

Als Mittel- und Oberschicht zur Ausgangssperre gezwungen wurden, taten sie dies in komfortablen Wohnungen und Rückzugsorten der Eliten auf dem Land. Doch jemand musste ihnen den Haushalt und ihre Botengänge besorgen. Auch „die Wirtschaft muss weiter in Betrieb bleiben“, hieß es in nachdrücklichen Erklärungen von Unternehmerverbänden und Regierung. Und so wanderte das Virus aus dem „feinen“ Santiago-Oriente in die Armenviertel der Haushaltsgehilfen und Angestellten, die millionenfach jeden Tag per U-Bahn und Bussen in die 7-Millionen-Metropole strömen.

Eine Elite, die ihr eigenes Land nicht kennt

Es war während seiner Verkündung der Ausgangssperre, als Gesundheitsminister Mañalich für seinen ersten peinlichen Fernsehaufritt sorgte. Darauf angesprochen, aus welchen guten Gründen die Quarantäne nicht landesweit verhängt werde, antwortete der freigestellte Direktor einer privaten Elite-Klinik, „der damit verursachte Schaden ist viel größer als der angestrebte Nutzen. Es ist dumm und unnötig.“ Mit dem Hinweis, man habe es mit einem Virus zu tun, das permanent mutiere und dessen Eigenschaften man nicht kenne, fügte er hinzu: „Die Projektion von COVID 19 ist ungewiss, da es sich um ein ´Teilchen´ handelt, das nur unter einem Elektronenmikroskop sichtbar ist. Das Einzige, was es erzeugt, ist eine Erkältung, wie die meisten alten Coronaviren. – Was, wenn dieses Virus zum harmlosen Virus mutiert? Auf gut Chilenisch gesagt, sich in einen guten Menschen verwandelt?“

Das war vor drei Monaten. Wochen zuvor, kaum bescheiden, sondern eher arrogant, hatte Präsident Piñera in jener Fernsehsendung vom 3. März die Behauptung gewagt, „wir sind besser vorbereitet als Italien!“. Seitdem wütet Covid-19 im Andenstaat mit ungeheuerlicher Verbreitungsintensität. Mit nahezu 250.000 Infizierten (Stand: 22. Juni) übertrifft das 18-Millionen-Einwohnerland das 60-Millionen-Land Italien in absoluten Fallzahlen. Nach konservativen Angaben der Johns Hopkins Universität und der Weltbank rangiert Chile mit 7,622 Infizierungsfällen je eine Million Einwohner weltweit an zweiter Stelle, und zwar drei Positionen vor den USA (6,052). Mit nahezu 4.600 Toten schoss auch die Letalitätsrate von 1,0 auf 1,63. Im Verhältnis ausgedrückt, von je 100 Infizierten sterben in Chile zurzeit 1,63 Menschen.

Die verheerenden Ausmaße, die durchgängige Kritik auch der konservativen Medien und die trotz Quarantäne seit dem Sommer 2019 wieder aufflackernden Sozialproteste zwangen die Regierung Piñera schließlich am 13. März zur Entlassung von Gesundheitsminister Jaime Mañalich und seiner Ersetzung durch den Arzt Enrique Paris. Als konsequente Folgemaßnahme verlängerte die Regierung den Katastrophen-Notstand um weitere 90 Tage bis zum 14. September.

Zweifellos ist Chile das Land Lateinamerikas, in dem am meisten PCR je Million Einwohner getestet wurde. Doch was hat es gebracht? Das Desaster lässt sich auf die fatale Kurzformel bringen: Es wurde an den falschen Orten getestet und die Proliferationswege des Virus niemals verfolgt. Eine damit zusammenhängende, haarsträubende Erklärung Mañalichs von Ende Mai erklärt die schiefe Sichtweise der Regierung auf die Pandemie. „Ich hatte keine Ahnung vom Ausmaß der Armut und der räumlichen Zusammenpferchung in den Randgebieten Santiagos“. Die Schlussfolgerung von Medien und politischer Opposition ließ nicht lange auf sich warten: Chile wird von einer selbstzufriedenen, im Ausland ausgebildeten und neoliberal bekehrten Elite regiert, die ihr eigenes Land und ihre Leute nicht kennt.

Minister Mañalichs katastrophale Doktrin der „Herden-Immunität“

Am 2. April gab Gesundheitsminister Mañalich ein Fernsehinterview, in dem er erklärte, die Bemühungen seines Ministeriums bestünden darin, „dass die meisten Menschen mit Covid-19 infiziert werden sollten, aber ganz laaaangsam …“, untermalte der Arzt seine Theorie. Was Mañalich hier vertrat, war das Vorgehen Boris Johnsons in Großbritannien, das bald wegen des explosionsartigen Anstiegs der Todesfälle, mit der kompletten Auslastung der Krankenhaus-Kapazitäten und der hohen Anzahl Infizierter verworfen wurde.

Was ist zusammengefasst die Herdenimmunität? Sie wird auch als „kollektive Immunität“ bezeichnet und entsteht, wenn in einer Bevölkerungsgruppe eine große Anzahl von Personen während einer Epidemie Antikörper bilden, die sie vor Infektionen und Dritte vor Ansteckung schützen.

Zwei Monate später bestritt Regierungssprecherin Karla Rubilar im Fernsehsender Kanal 13, der im Besitz des Multimilliardärs Andrónico Luksic ist, die Regierung Piñera habe die sogenannte „Herdenimmunität“ angewendet. Rubilars Bemühung widerstand nicht der Erinnerung. Hunderttausendfach wurde sie in den sozialen Netzwerken und dann von den Medien mit Mañalichs kontroversem Interview vom 2. April konfrontiert.

Doch die unwissenschaftliche und verantwortungslose Doktrin des Ministers ermunterte die absolut abwegige und gemeingefährliche Regierungsempfehlung der „Rückkehr zur neuen Normalität“ von Ende April. Die offizielle Fallzählung verkaufte in jenen Tagen das trügerische Szenario einer „kontrollierten Epidemie“ und die Regierung legte den Grundstein für die Wiedereröffnung von Büros und Einkaufszentren. Doch dann passierte, was passieren musste. Mit einer täglichen Rate von über 5.000 neuen Positivfällen griff die Pandemie mit ungeahnter Intensität um sich. Auf zynisch anmutende Weise bemühte sich die Regierung, den Anstieg damit zu erklären, „dass mehr getestet worden sei“, anstatt zuzugeben, dass das Virus nun die Arbeiter- und Armenviertel erreicht hatte, in denen zuvor weder getestet noch die Verbreitungswege des Virus verfolgt worden waren.

Nun entblößte das ungezähmte Virus Chiles andere Pandemie: den Armutszuwachs als Folge der Einkommenskonzentration.

Syndemie, ein explosives gesundheits- und sozialpolitisches Gemenge

Seit dem Ausbruch der Pandemie predigten der mediale Mainstream, Behörden und Gesundheitsexperten, „das Virus nimmt keine Rücksicht auf soziale Stellung“. Nichts ist falscher als dieses Klischee, wird doch die Pandemie nicht allein an ihrem Ansteckungspotenzial, sondern an ihren wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen gemessen. Diese untersuchte ein Netzwerk chilenischer Sozialwissenschaftler der DESOC-Gruppe für Soziale Entwicklung in Zusammenarbeit mit dem Mikrodatenzentrum der Universität Chile und dem Studienzentrum für Soziale Konfliktforschung (COES) und legte im Juni ein sogenanntes „Sozialthermometer 3 (TS3)“ mit landesweiten repräsentativen Umfragen über Wahrnehmungen, Gefühle und Überzeugungen der Chilenen im aktuellen Kontext vor.

Eines der zentralen Umfrageergebnisse ist, dass 35 Prozent derjenigen, die zugeben, seit dem 16. März mit einem oder mehreren bestätigten Coronavirus-Positivfällen in Kontakt gewesen zu sein, im Wesentlichen Familien angehören, deren Einkommen weniger als 540.000 Pesos (umgerechnet ca. 600 Euro) beträgt. Mit anderen Worten handelt es sich um Bevölkerungs-Segmente, die wegen Arbeitsplatzverlust (52 Prozent der Fälle) oder Mangel an Nahrungsmitteln (34 Prozent der Fälle) kaum Einkommen erzielen und unter äußerst akuten finanziellen Schwierigkeiten die Quarantänemaßnahmen fristen.

Im März beschloss die Regierung Sebastián Piñera einen einmaligen Sozialhilfe-Bonus in Höhe von 60.000 Pesos – also umgerechnet gerade mal 70 Euro – mit denen mindestens 3 Millionen Chileninnen und Chilenen „die Krise“ überstehen sollten. Doch die Regierung hielt es nicht für nötig, die Menschen davor zu warnen, dass „der Krise“ keine Frist gesetzt war, ergo auch nicht dem sozialen Leid. So bewirkte die Verantwortungslosigkeit eine Syndemie, nämlich eine sich gegenseitig verschärfende Wechselwirkung zwischen Gesundheitsproblemen und sozialökonomischem Umfeld, vor allem im Hinblick auf nicht zugestandene Bedienung existenzieller Grundbedürfnisse der betroffenen Bevölkerung.

Scharfe Worte musste sich Sebastián Piñera selbst von der Agentur Bloomberg, im Besitz des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters und Turbo-Milliardärs Michael Bloomberg (Vermögen laut Forbes 2020: 60 Milliarden US-Dollar), gefallen lassen. „Pinera, ein Milliardär und in Harvard ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler, ordnete am 15. Mai eine Quarantäne für die gesamte Hauptstadt an … Die Regierung dachte über die Ausgangssperre von Menschen nach, so als ob ganz Chile die obere Mittelschicht wäre, Menschen, die zu Hause bleiben und arbeiten können“, warnte Claudio Fuentes, Politikwissenschaftler an der Universidad Diego Portales, im Bloomberg-Bericht. „Sie konnten die Isolation infizierter Menschen in ärmeren Gebieten nicht garantieren.“

Seit Ausbruch der Pandemie entließen die Unternehmer mehr als eine halbe Million Erwerbstätige, Experten der Universidad de Chile schätzen, bis August 2020 könne die Arbeitslosenzahl auf 1,6 Millionen, also auf bedrohliche 17 Prozent, ansteigen; ein Szenario, das mit den ohnehin 30 Prozent informeller – also vertraglich und arbeitsrechtlich nicht abgesicherter – Erwerbstätiger zum Jahresende 2020 verheerende Ausmaße annehmen kann. Während die Regierung einerseits nicht damit zögerte, rund 2,5 Milliarden US-Dollar zur „Rettung“ von Unternehmen an Privatbanken zu vergeben – die ohne Regierungsbeteiligung entscheiden, wer die Abstützung verdient – speiste sie die werktätige, aber durch Covid-19 arbeitslos gewordene Bevölkerung mit der vorzeitigen Ratenauszahlung ihrer eigenen Arbeitslosenversicherung ab, wofür inzwischen landesweit mehr als 900.000 Menschen Schlange stehen.

Lebensmittelpakete und Volksküchen zur Hungerlinderung statt Lohnzahlung

Tage später kam es im Viertel El Bosque, südliches Santiago, und vereinzelt in anderen Stadtteilen zu Unruhen wegen Lebensmittel-Mangel. Die Regierung hatte die Lieferung von Lebensmittelpaketen versprochen, doch das Programm wurde nur zögerlich gestartet und sah sich „logistischen Problemen“ gegenüber. „Wenn die Regierung Entscheidungen über eine Welt treffen will, die sie nicht kennt, sollte sie Menschen aus dieser Welt in den Entscheidungsprozess einbeziehen“, zitierte Bloomberg den Geschäftsführer des progressiven Think Tanks Espacio Público, Diego Pardow. „Das Problem mit dieser Regierung ist, dass sie sich nur mit ihren eigenen Leuten umgibt.“

„Wenn wir die ‘Schlacht von Santiago’ nicht ernst nehmen, geht der Krieg gegen Covid-19 verloren, denn jeder Ansteckungsfall, jede Person, die wie letzte Nacht in einer Gruppe von 400 Menschen im Bezirk Maipú teilnimmt, bedeutet ein Risiko für alle. Wir werden die Rolle der Gesundheitsbehörde betonen, die uns das Gesetz verleiht und zu der wir gezwungen sind“, hatte Gesundheitsminister Mañalich während einer seiner letzten Amtshandlungen im 130 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Hafen von Valparaíso gewarnt. Das sagte der Gesundheitsminister, umgeben von wohlgenährten Marineoffizieren, während unweit seines Auftrittsortes Dutzende Menschen sich um eine von Nachbarschaftsinitiativen und NGOs improvisierte Volksküche sammelten, wie sie zu Dutzenden in Chile die arbeitslosen und armen Chilenen mit Notmahlzeiten versorgen.

Die vom deutschen Reisemaler Moritz Rugendas in den 1840er Jahren verewigte und vom legendären niederländischen Dokumentarfilm-Regisseur Joris Ivens in den 1960er Jahren poetisch porträtierte, malerische Hafenstadt erlitt in den vergangenen Jahrzehnten verheerende Erdbeben und Brände, den Bedeutungsverlust des eigenen Hafens an die Nachbarstadt San Antonio und die Flucht der wohlhabenden Schichten in den benachbarten Badeort Viña del Mar. Obwohl die Stadt auch Sitz des chilenischen Kongresses (Parlaments) ist, scheint sie von einer Spirale des Niedergangs erfasst zu sein, der der linke Bürgermeister Jorge Sharp zumeist machtlos gegenübersteht. Chile ist seit seiner Unabhängigkeit um 1818 ein dem zentralistischen Diktat der Regierung in Santiago wahllos ausgeliefertes Gebilde, mit Provinzen ohne finanzielle Autonomie.

Mit 315.000 Einwohnern ist Valparaíso nach Santiago der zweite Coronavirus- Hauptinfektionsherd in Chile. Nach Angaben von Espacio Público leiden 19,5 Prozent des Einzugsgebiets an mehrdimensionaler Armut, in der Stadt selbst gibt es 55.000 sozial stark gefährdete Familien. In der letzten Maiwoche nahmen hier die Corona-Positiv-Fälle um 121 Prozent zu, allein am 16. Juni gab es 1.322 neu Infizierte und 20 Tote. Experten befürchten, dass die Pandemie das soziale Drama verschärfen wird. Ein Großteil der Bevölkerung geht informeller Beschäftigung nach und bewohnt prekäre Häuser ohne fließendes Wasser oder Heizung.

„Diese dreifache Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftskrise hätte vermieden werden können. Das Land kann mehr ausgeben, um schutzbedürftigen Familien und kleinen Unternehmen zu helfen. Es war ein großer Fehler von (Wirtschafts-) Minister Ignacio Briones, die „Munition für später aufzubewahren“ – wie er es formulierte – obendrein Haushaltskürzungen vorzunehmen und lächerliche und abnehmende finanzielle Hilfe wie das Noteinkommensprogramm (IFE) auf 65.000 Pesos pro Person zu begrenzen“, prangerte die oppositionelle Wochenzeitung Cambio21 in einem scharfen Leitartikel das Scheitern der Regierung Piñera an.

Kaum einem sogenannten Leitmedium fiel jedoch auf, dass angesichts der landesweiten Verelendung die Mitte Juni beschlossene staatliche Zusatzausgabe in Höhe von 12 Milliarden US-Dollar von der Finanzkommission des Parlaments der Regierung Piñera regelrecht aufgezwungen wurde. Die Mittel werden aus Chiles Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit einer Laufzeit von 24 Monaten finanziert. Das Parlament und der chilenische Ärzteverband gelangten zur Überzeugung, das Land hat steuertechnisch genug gespart, um der Krise zu begegnen; der dramatischsten der vergangenen 80 Jahre. Somit werden der wachsenden Zahl des bereits existierenden Arbeitslosenheeres weitere drei Monate Lohnausfall aus der staatlichen Kasse bezahlt. Drei weitere Monate. Was danach zu erwarten ist, wagt niemand auszusprechen. Das Fazit ist jedoch: Präsident Piñeras Tropfen-um-Tropfen-Doktrin ist erbärmlich gescheitert und hat dem Andenland nicht nur eine gesundheitliche, sondern eine explosive humanitäre Krise beschert.

Minister Mañalich musste seinen Hut nehmen, doch damit wurde er von seinen folgenschweren Fehlern nicht freigesprochen. Während Präsident Sebastián Piñera wegen den brutalen Einsätzen seiner Polizei sich demnächst vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten muss, erwarten auch seinen demissionierten Gesundheitsminister rechtliche Folgen: Mitte Juni reichten Berufsverbände der Krankenpfleger, der Pharmazeutiker, Chemiker sowie zahlreiche Parlamentarier eine Verfassungsbeschwerde mit Klage als Junktim ein.

Als Sebastián Piñeras letzte Machtstütze, neben seinen zerstrittenen rechten Regierungsparteien, patrouilliert in Chile schwerbewaffnetes Militär in Kampfanzügen zur Befolgung von „korrektem“ Sanitätsverhalten, das auch die demokratischen Grundrechte unter Quarantäne stellt und schlimmste Erinnerungen wachruft.

Titelbild: rozdemir/shutterstock.com

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