Olaf Scholz ist empört – der Finanzskandal rund um den Dax-Konzern Wirecard sei „ein Skandal, der seinesgleichen sucht“. Eilends kündigte der Finanzminister nun „Reformen“ an und forderte kritische Fragen „an das Management, aber auch die Wirtschaftsprüfer“. Kritische Fragen sollten jetzt aber auch die Finanzaufsicht und ihr oberster Dienstherr Olaf Scholz beantworten. Jahrelang haben die Behörden nicht nur weggesehen, sondern Wirecard aktiv dabei geholfen, sich gegen berechtigte Vorwürfe zur Wehr zu setzen. In einer kruden Mischung aus Patriotismus und falsch verstandener Solidarität mit dem Finanzstandort Deutschland hat man sich so zumindest indirekt sogar zum Mittäter gemacht. Wer nach Verantwortlichen für die Milliardenpleite sucht, sollte daher seinen Blick auch auf die Finanzaufsichtsbehörden und das Bundesfinanzministerium richten. Klarheit könnte hier wohl am ehesten ein Untersuchungsausschuss bringen. Von Jens Berger.
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Wer das Handeln der Aufsichtsbehörden im Fall Wirecard verstehen will, muss zunächst einmal wissen, was Leerverkäufe sind und wie man dieses Finanzinstrument einordnen sollte. Wenn von Leerverkäufen die Rede ist, geht es in der Regel um sogenannte gedeckte Leerverkäufe. Und das funktioniert folgendermaßen: An der Börse kann man nicht nur auf steigende, sondern auch auf fallende Kurse wetten. Wer beispielsweise darauf spekuliert, dass der Kurs der Siemens-Aktie in den nächsten Tagen oder Wochen fällt, leiht sich gegen eine Gebühr von einem Siemens-Aktionär ein Aktienpaket und verkauft es sofort wieder an der Börse. Wenn der Kurs – wie prognostiziert – gesunken ist, kauft der Spekulant die Aktien zu einem dann niedrigeren Preis und gibt sie dem Verleiher zurück. Steht der Kurs heute bei 100 Euro und fällt in einer Woche auf 90 Euro, hat der Spekulant mit diesem Geschäft 10 Euro (minus Leihgebühr) Gewinn gemacht. Steigt der Kurs jedoch auf 110 Euro, macht der Spekulant spiegelbildlich 10 Euro (plus Leihgebühr) Verlust.
Solche Geschäfte sind alles andere als unüblich, werden aber in der öffentlichen und politischen Debatte zumeist sehr kritisch gesehen. Und das hat ja auch seinen Grund. In der – naiven – Theorie sind Aktien nun einmal immer noch lediglich eine besondere Form, Anteile an einem Unternehmen zu handeln und breit unter vielen kleinen Anteilseignern zu streuen. Anteilseigner haben natürlich immer ein Interesse an steigenden Kursen, so dass Spekulanten, die ein Interesse an fallenden Kursen haben, diese simple und der Praxis komplett widersprechende Erzählweise vom Wesen des Aktienmarkts ad absurdum führen. So verständlich die Kritik an Leerverkäufern ist, so kontraproduktiv ist sie im real existierenden Finanzkapitalismus, in dem Aktien im Nanosekundentakt ge- und verkauft werden und nur ein kleiner Bruchteil der Transaktionen von Personen oder Unternehmen stammt, die langfristig auf steigende Kurse setzen. Das zeigt das Beispiel Wirecard vortrefflich.
Die Wirecard-Aktie wurde über Jahre hinweg so sehr wie keine andere Aktie von Finanzmedien, online wie offline, und Finanztrolls in Foren und Blogs gepusht. Der Zahlungsdienstleister aus Aschheim wurde mit tatkräftiger Unterstützung des großspurigen Unternehmenschefs Braun als das nächste große Ding gepriesen; und welcher Aktionär träumt nicht davon, zu den frühen Anteilseignern eines Weltkonzerns á la Apple, Cisco, Tesla oder Amazon zu gehören? Je steiler die Kurse stiegen, desto klarer wurde es jedoch, dass bei den Zahlen des Unternehmens irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Die deutschen Medien übten sich jedoch in Desinteresse. In US-Finanzblogs und -foren wurden jedoch immer wieder auf Whistleblower gestützte Vorwürfe laut, Wirecard würde vor allem im asiatischen Geschäft Luftbuchungen vornehmen, Kunden und Umsätze erfinden und Gewinne ausweisen, die faktisch gar nicht erzielt wurden. Heute weiß man, dass diese Vorwürfe wohl stimmten, damals hätte man es zumindest ahnen müssen. Selbstverständlich waren all diese Vorwürfe auch den deutschen Aufsichtsbehörden bekannt. Man schaute jedoch zunächst angestrengt weg. Schließlich wollte man das Fin-Tech-Wunder made in Germany nicht in Gefahr bringen. Zu schön war dessen Erfolgsgeschichte – zu schön, um wahr zu sein.
Stattdessen folgte man einer Sprachregelung, die Wirecard selbst entworfen hat, um von den Vorwürfen abzulenken. Wirecard stellte sich als Opfer dar; als Opfer von Leerverkäufern, die falsche Anschuldigungen in die Welt setzten, um den Aktienkurs des unschuldigen Konzerns abstürzen zu lassen und damit dann Kasse zu machen. Diese Story ist durchaus geschickt, setzt sie auf genau jenen Vorurteilen auf, die viele Anleger, Medien und offenbar auch die Aufsichtsbehörde von den – und das ist ja auch in der Tat so – geldgierigen Hedgefonds aus London haben, die groß im Geschäft mit Leerverkäufen sind. Dabei hat man jedoch pflichtschuldig versäumt, sich auch einmal eine andere, viel plausiblere Lesart vorzustellen. Ein Unternehmen, das wirklich sauber arbeitet und dessen Aktienkurs nicht von interessierter Seite gnadenlos in die Höhe getrieben wurde, ist ein denkbar ungeeignetes Ziel für Leerverkäufer. Die stürzen sich nämlich mit Vorliebe auf die „faulen Eier“ im Korb, auf Blasen, die bald platzen werden. Und Wirecard war das faulste Ei im Korb des deutschen Aktienmarkts; ein gefundenes Fressen für die Hedgefonds aus London, die auf ein Platzen der Wirecard-Blase wetteten. Zum Höhepunkt der damaligen Attacke war jede vierte(!) Wirecard-Aktie an Leerverkäufer verliehen. Sie hatten jedoch nicht damit gerechnet, dass die deutschen Aufsichtsbehörden mit ihrem faulen Ei gemeinsame Sache machen.
Das führt zu jenen denkwürdigen Vorkommnissen im Frühjahr 2019. Wieder einmal hatte die britische Financial Times auf massive Unregelmäßigkeiten hingewiesen; wieder einmal hatte man Papiere von Whistleblowern aus dem Unternehmen gesteckt bekommen, wieder einmal ging es um Luftbuchungen, erfundene Kunden und Umsätze in Asien. Und was machte die deutsche Finanzaufsicht? Sie ermittelte nicht etwa gegen Wirecard, sondern gegen die FT-Journalisten, die den Skandal aufgedeckt hatten. Angeblich seien sie Teil einer Verschwörung, deren Ziel es war, den Kurs von Wirecard im Sinne der Leerverkäufer zu manipulieren. Sogar die Staatsanwaltschaft München ließ sich von Wirecard einspannen und nahm nicht etwa Ermittlungen gegen Wirecard, sondern gegen die Journalisten auf. Auch die oberste Aufsichtsbehörde BaFin ging nicht etwa den Vorwürfen der FT nach, sondern setzte ein Verbot von Leerverkäufen für die Wirecard-Aktie durch. Damit verhinderte sie auch die dringend notwendige Kurskorrektur nach unten und trug ihren Teil zu dabei, dass die Blase noch größer wurde und die paar arglosen Aktionäre, die wirklich getäuscht wurden, nun noch höhere Verluste verbuchen müssen. Und das Bundesfinanzministerium winkte dieses Vorgehen als oberste Aufsichtsbehörde durch. Wenn Olaf Scholz nun Fehler der Behörden beklagt, so muss man auch fragen, warum er als oberster Dienstherr seinerzeit diese Vorgänge, die alleine schon aufgrund der Medienberichterstattung ja nicht an ihm vorbeigegangen sein können, nicht überprüfen ließ. BaFin und Co. haben auf ganzer Ebene versagt, die politische Verantwortung dafür trägt jedoch Olaf Scholz.
Warum sind diese Vorgänge aus dem Frühjahr 2019 so wichtig? Heute fragt man sich, wie ein Unternehmen so blöd sein kann, nicht zu merken, dass 1,5 Milliarden Euro einfach so verschwinden. Diese Frage ist falsch. Richtiger wäre die Frage, wo diese – de facto ja gar nicht vorhandenen – 1,5 Milliarden Euro eigentlich herkommen? Die Antwort dürfte mit den Vorwürfen der FT zusammenhängen. Wer Luftbuchungen unternimmt, Umsätze und Renditen erfindet, muss die daraus entstehenden Summen ja irgendwo buchen. Bei den 1,5 Milliarden Euro Treuhandgeldern in Asien handelt es sich also mit großer Wahrscheinlichkeit um genau diese fiktiven Geschäftserlöse aus den fiktiven Geschäften, über die damals berichtet wurde. Über die Jahre hat Wirecard demnach 1,5 Milliarden Euro Scheingewinne erzielt; kein Wunder, dass die Aktien derart in die Höhe gingen. Ohne das aktive Wegsehen der deutschen Aufsichtsbehörden wäre es nie zu einem derartigen Fehlbetrag gekommen. Nicht nur das Management von Wirecard und die Bilanzprüfer von Ernst & Young sind für diesen Finanzskandal verantwortlich, sondern auch die deutschen Aufsichtsbehörden und letzten Endes auch deren oberster Dienstherr Olaf Scholz.
Der Wirecard-Skandal zeigt auch, dass die deutsche Politik nichts aus vergangenen Skandalen gelernt hat. Während jeder Bäcker dem Finanzamt bei einer Betriebsprüfung Rechenschaft über jeden einzelnen Euro in seinen Büchern ablegen muss, schaut man bei einem vermeintlichen Fin-Tech-Wunderkonzern, der Bayerns Leitspruch von Laptop und Lederhose so wunderschön entspricht, so angestrengt weg, dass man es nicht mitbekommt, dass über Jahre 1,5 Milliarden an fiktiven Einnahmen auflaufen … und das könnte nur die Spitze vom Eisberg sein, es ist wahrscheinlich, dass in den Büchern von Wirecard noch andere Leichen vergraben sind.
Wer auf Seiten der Behörden und der Politik wann was wusste oder wissen musste, ist auf Basis der öffentlich zugänglichen Informationen nur sehr schwer belegbar. Alleine die Höhe des Schadens gebietet es, sich hier über einen Untersuchungsausschuss Klarheit zu verschaffen. Ob man aus diesem Skandal lernt und die richtigen Schlüsse zieht, darf jedoch getrost bezweifelt werden. Kriminelle mit weißem Hemdkragen haben in Deutschland immer leichtes Spiel.
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