Armut: „Kein Politiker kann sagen, er habe von nichts gewusst“

Armut: „Kein Politiker kann sagen, er habe von nichts gewusst“

Armut: „Kein Politiker kann sagen, er habe von nichts gewusst“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger, Geflüchtete: Die Corona-Krise hat auch diese Menschen vor besondere Herausforderungen gestellt. Der Mainzer Mediziner Gerhard Trabert, der seit vielen Jahren durch seine Arbeit den Armen vor Ort hilft und sie medizinisch betreut, zeigt im NachDenkSeiten-Interview auf, wie es den Armen in der Pandemie ergeht. Trabert kommt zu dem Fazit, dass auch in der Corona-Krise die Trennlinien zwischen Armen und Bessergestellten in unserer Gesellschaft deutlich sichtbar werden. Der Professor für Sozialmedizin kritisiert im Interview auch die Politik: „Gegenüber den Armen verhält Politik sich oft mit großer Distanz. Politiker kümmern sich mehr um die Lobbyisten dieser kapitalistischen Demokratie.“ Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Trabert, Sie sind Arzt, setzen sich schon seit langem aktiv für die Armen, die Benachteiligten in unserer Gesellschaft ein. Wie erleben Sie die Auswirkungen der Pandemie auf die Armen?

Schon zu Beginn der Pandemie war mir klar, dass es eine Gruppe gibt, um die wir uns besonders kümmern müssen: die obdachlosen, die wohnungslosen Menschen. Wenn wir uns mit dieser Personengruppe auseinandersetzen, erkennen wir sofort, was die Pandemie für die Ärmsten bedeutet. Ausgangsbeschränkungen wurden angeordnet, aber diese Menschen haben überhaupt keine Bleibe. Sie leben oft im Freien oder in Notunterkünften. Sie können gar nicht drinnen bleiben, weil ihnen eine Wohnung fehlt. Für unsere Patientinnen und Patienten war das eine dramatische Situation. Anlaufstellen, die normalerweise zumindest etwas Hilfe bieten, wie etwa Tafeln, Teestuben, diverse Beratungsstellen, haben plötzlich ihr Angebot runtergefahren, teilweise haben sie ganz geschlossen. Die obdachlosen Menschen waren ganz auf sich gestellt. Von Betroffenen, die im öffentlichen Raum übernachtet haben, weiß ich, dass auch die Toiletten geschlossen wurden.
Da das öffentliche Leben weitestgehend zum Erliegen kam, gab es auch kein Flaschenpfand mehr in den Papierkörben der Stadt. Die Realität ist: Für nicht wenige Arme ist das Flaschenpfand eine Einkommensquelle, die sie dringend benötigen.

Wie haben Sie den Menschen geholfen?

Wir sind durch unsere Arbeit natürlich sehr nah bei den Menschen, kennen ihre Lebenssituation, sehen, was ihnen fehlt. Wir haben bei der Politik frühzeitig angeklopft und angesprochen, welche Probleme es gibt.

Daraufhin wurden die Toiletten wieder geöffnet. Wir haben gefordert, dass Unterbringungsmöglichkeiten für wohnungslose Menschen zur Verfügung gestellt werden. Sei es in Pensionen, Hotels usw.

Wie hat die Stadt Mainz reagiert?

Schnell. In einem Hotel konnten beispielsweise 30 Menschen ohne Unterkunft unter Vermittlung und Finanzierung durch die Stadt Mainz und das rheinland-pfälzische Sozial- und Gesundheitsministerium untergebracht werden. Das schnelle Handeln war auch dringend notwendig, denn Obdachlose gehören zur Hauptrisikogruppe, was Covid-19 angeht, denn sie sind häufig chronisch krank, ihr Immunsystem ist belastet.

Wir haben einen sehr respektvollen Umgang miteinander beobachten können. Wir haben als Verein zusammen mit anderen Hilfsorganisationen die Menschen dort betreut. Ein Patensystem wurde aufgebaut. Das Hotel hat die Menschen mit Frühstück, Mittagessen und Abendessen und viel Empathie und Verständnis versorgt.

Wie haben Sie noch geholfen?

Wir sind durch die Stadt gefahren, haben Lunchpakete verteilt, haben unsere Poliklinik auf die Infektionssituation umgestellt, so dass wir weiterhin Menschen behandeln konnten, die erkrankt waren bzw. sind. Bei Bedarf konnten wir auch Covid-19-Tests durchführen. Unsere Sozialarbeiter begleiteten und unterstützen die betroffenen wohnungslosen Menschen ebenfalls weiter, unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen.

Gibt es weitere Gruppen, die von der Pandemie besonders betroffen sind?

Die Menschen, die von sozialen Transferleistungen leben, also Arbeitslosengeld 2, Sozialgeld und ergänzender finanzieller Hilfe.

Zu Beginn der Pandemie hat sich deutlich gezeigt: Während sich Menschen, die über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, mit Lebensmitteln und anderen zum Leben notwendigen Dingen eindecken konnten, war das für soziale Transferleistungsbezieher nicht möglich.

Sie konnten nicht auf Vorrat kaufen, waren so auch gezwungen, öfter nach draußen zu gehen, öfter für wenig Geld wenige Artikel zu kaufen. Dadurch haben sie sich auch einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt. Hinzu kommt, dass diese Gruppe öfter öffentliche Transportmittel nutzen muss, da kein eigenes Auto zur Verfügung steht. Auch daraus ergibt sich ein höheres Risiko, sich anzustecken. Des Weiteren fehlt das Geld für Masken. Zwar können auch handgefertigte oder, wie man sagt, „Alltagsmasken“ wie Tücher und Schals, benutzt werden, aber diese bieten nicht so viel Schutz. Die normalen OP-Masken sind besser. Wir haben die Anhebung der Hartz-IV-Sätze für die Zeit der Pandemie um 100 Euro gefordert.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat Hinweise veröffentlicht, wie mit den Masken hygienegerecht im Alltag umzugehen ist. Wenn man sich die Hinweise anschaut, muss man sagen, dass es im Alltag realistischerweise doch geradezu unmöglich ist, diese dauerhaft zu beachten.

Da haben Sie vollkommen recht, mit diesen Stoffmasken ist das so gut wie nicht umsetzbar. Wer über mehr Geld verfügt, hat also auch hier Vorteile. Er kann mehrere Masken kaufen, nach dem Gebrauch entsorgen, eine neue aufsetzen. Die Maske ist wie eine Trennlinie zwischen Armen und den Wohlhabenden.

Von politischer Seite hätten auch in leichter Sprache Informationen an die Bevölkerung weitergegeben werden müssen, wie die Masken zu handhaben sind. Eine Sprache in Piktogrammen würde ich für sehr sinnvoll halten. Wir dürfen nicht vergessen: In Deutschland gibt es fast 10 Millionen funktionelle Analphabeten, das heißt, das sind Menschen, die können zwar lesen und schreiben, haben allerdings Schwierigkeiten, komplexere Inhalte zu verstehen.

Wenn ich es richtig raushöre, haben Sie auf lokaler Ebene eine Politik beobachtet, die zumindest den Obdachlosen hilft, aber bei der Bundespolitik sieht das anders aus. Warum tut die Bundesregierung sich so schwer damit, den Armen zu helfen?

Die Stadt Mainz hat gut reagiert. Aber auch nicht bei allem und das trifft eben auch nicht auf alle lokalen Kommunen zu. Auch wenn es mir schwerfällt zu begreifen, vermute ich, dass es viel mit Ignoranz und Unwissenheit zu tun hat. Die Politik ist einfach zu weit von der Lebensrealität der Armen entfernt.

Sie reden doch auch viel mit Politikern. Haben Sie konkrete Erfahrungen gemacht?

Wir haben viel mit Vertretern des Gesundheitsministeriums in Rheinland-Pfalz zu tun. Einerseits hat das Ministerium die Versorgung Obdachloser in einem Hotel gefördert, andererseits war in Gesprächen dann beispielsweise zu hören, die Armen könnten sich doch einen Schal vor das Gesicht binden. All das, was ich in unserem Interview ausgeführt habe, wird da nicht beachtet.

Mir fällt bei solchen Gesprächen immer wieder auf, dass es an einem grundlegenden Wissen, was die Lebenssituation der armen Menschen angeht, fehlt. Gegenüber dieser von Einkommensarmut betroffenen Personengruppe verhält die Politik sich oft mit großer Distanz. Politiker kümmern sich mehr um die Lobbyisten dieser kapitalistischen Demokratie.

Wenn ich als Regierung 9 Milliarden zur Rettung der Lufthansa zur Verfügung stelle, dann muss ich auch das Geld haben, um alle Bezieher von Transferleistungen in der aktuellen Situation so zu unterstützen, damit diese ihre Gesundheit schützen und die Hygienestandards einhalten können.

Sie sagen, dass bei Politikern oft auch ein Unwissen vorherrscht. Aber im Grunde genommen ist doch schon seit langer Zeit bekannt, dass Armut in Deutschland eine Realität ist.

Das stimmt. Kein Politiker kann sagen, er habe davon nichts gewusst, gerade auch bezüglich der gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen. Die nationale Armutskonferenz, Betroffeneninitiativen, Vereine wie wir: Sie, wir alle, verweisen immer wieder auf die Zustände. Doch wirklich unternommen wird nichts – parteiübergreifend! Das ist für mich ein Skandal. Wenn man Politikern wirklich Unwissen zugute halten würde, müsste man davon ausgehen, dass sie mit Ignoranz geschlagen sind.

Politiker haben zwar Ausgangsbeschränkungen beschlossen, aber kaum ein Wort wurde darüber verloren, dass es einen Unterschied macht, ob sich ein finanziell gut dastehender Bürger mit geräumiger Eigentumswohnung oder eigenem Haus an die Verfügungen halten soll oder die alleinerziehende Mutter, die in der beengten Sozialraumwohnung ohne Balkon oder Garten lebt.

Ja, auch da sehen wir die Trennlinie. Insbesondere Kinder aus einkommensarmen Haushalten wurden und werden benachteiligt. Kinder aus Elternhäusern, die keinen Internetzugang und keinen Laptop bieten, haben Probleme. Für solche Kinder ist es keine einfache Situation, wenn sie sich in den engen Wohnverhältnissen nicht zurückziehen können, um in Ruhe Hausaufgaben zu machen.

Aber diese Verhältnisse sind nicht nur in der Corona-Pandemie ein Problem. Solche Kinder leiden auch schon, wenn alles „normal“ ist. Die Pandemie verstärkt die Bildungsbenachteiligung aber eben noch einmal. Die OECD sagt schon seit Jahren, dass in keinem europäischen Land der soziale Status der Eltern so einen Einfluss auf die Schul- und Bildungskarriere von Kindern wie in Deutschland hat. Auch da muss Politik dringend handeln.

Wir haben über die Obdachlosen und die Hartz-IV-Bezieher gesprochen. Gibt es noch eine Gruppe, die unter der aktuellen Situation besonders leiden muss?

Die Gruppe der Geflüchteten. Es ist eine Katastrophe, dass diese Menschen in den engen Sammelunterkünften leben müssen. Wir haben dort immer wieder Covid-19-Infektionen. Hier hätte die Politik viel früher reagieren müssen.

Die Probleme betreffen also viele Menschen.

Ja, natürlich. Die Krise macht, wie unter einem Brennglas, viele seit Jahren bestehende strukturelle Benachteiligungen sichtbarer.

Da ist das Problem der „Billiglöhner“, also der Menschen, die aus Rumänien, Bulgarien, Polen kommen, die in der Landwirtschaft unter schwierigsten Bedingungen arbeiten. Die Pandemie hat gezeigt, wie abhängig wir doch von diesen Arbeitern sind, aber auch wie wichtig ihre Arbeit ist.

Oder die Arbeiter in der fleischverarbeitenden Industrie. Über die katastrophalen Zustände dort wurde ja breit berichtet. Gerade auch die menschenunwürdigen Lebensbedingungen, insbesondere die Wohnbedingungen hier in Deutschland, denen diese Menschen ausgeliefert sind, müssen sofort abgestellt werden. Das ist in meinen Augen eine moderne Form der Sklaverei.

Nicht zu vergessen die Pflegekräfte. Ende März wurde dort die Höchstarbeitszeit von 10 auf 12 Stunden erhöht. Sobald sich die Lage entspannt, muss das wieder geändert werden. Auch bezüglich der Pflegekräfte haben wir gesehen, wie wertvoll und wichtig ihre Arbeit ist. Beifall reicht für die Pflegekräfte nicht aus. Die Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden, der Lohn muss erhöht werden.

Oder denken wir an das Kurzarbeitergeld. Wir können sehen, dass hierzulande der Lohn immer noch viel zu gering ist. Verdienstausfälle können von einem Teil der Arbeiter nicht oder allenfalls nur für kurze Zeit kompensiert werden. Der Mindestlohn müsste deutlich erhöht werden.

Die Politik muss die Erkenntnisse nun schnellstens nutzen, um genau auf diese defizitären Bereiche einzugehen. Sie muss jetzt strukturelle Maßnahmen ergreifen, um die Zustände nachhaltig zu verbessern.

Titelbild: Srdjan Randjelovic/shutterstock.com