Ein IAB–Forschungsbericht und der industrielle „Aufholprozess Ost“
Am 7. Juli 2010 erschien der IAB-Forschungsbericht 6/2010 zum Thema „20 Jahre Deutsche Einheit – Ein Vergleich der west- und ostdeutschen Betriebslandschaft im Krisenjahr 2009“ [PDF – 634 KB] .
Er fußt auf den aktuellen Betriebsbefragungen des IAB-Betriebspanels und bietet eine Fülle von empirischen Daten und darauf basierenden Aussagen.
Man erfreut sich offensichtlich im IAB der erreichten Angleichungsfortschritte, ohne die Chancen für den restlichen Aufholprozess abzuschätzen und den Weg dorthin aufzuzeigen. Damit wird abermals vermieden, die hemmenden neoliberalen Rahmenbedingungen direkt in Frage zu stellen. Ein kritischer Kommentar von Karl Mai.
Neben der ausführlicheren Darstellung des Betriebsvergleichs für West und Ost enthält der Bericht auch längere Abschnitte zum Arbeitsmarkt, zur atypischen Beschäftigung und zur betrieblichen Aus- und Weiterbildung. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Arbeitsmarktlage West und Ost werden hinreichend sichtbar und mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verknüpft.
Von besonderem Interesse im 20. Jahr der Einheit ist die industrielle Entwicklung in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland, da hiervon der verbleibende Niveauunterschied abhängt und die zukünftigen Chancen abhängig sind.
Zur Klärung dieses komplexen Sachverhalts werden im IAB-Bericht zahlreiche Angaben beigebracht und tendenzielle Interpretationen vorgetragen. Dabei wird die Brücke von den strukturellen Unterschieden der Industrie zu den verbliebenen Leistungsunterschieden in der Produktivität geschlagen, womit der aktuelle Stand der Analyse belegt wird.
Hier einige wichtige Aussagen (in Auswahl) des ca. 100-seitigen Textes dieses IAB-Forschungsberichts, die insbesondere für wirtschaftspolitische interessierte Leser in Ost und West von Belang sein könnten:
20 Jahre nach dem Mauerfall unterscheidet sich der ostdeutsche Wirtschaftsraum nach wie vor deutlich vom westdeutschen Raum. (S. 98)
Der relativ kleine industrielle Sektor, die geringe Anzahl von Großbetrieben, die Dominanz von Produktionsstätten ohne höherwertige Unternehmensfunktionen, das Defizit von wissensintensiven Unternehmensdienstleistungen, die schwächere Exportorientierung, der Rückstand bei FuE-Aktivitäten und ein geringer Anteil von Beschäftigten in hochproduktiven Betrieben führen trotz einer nicht zu vernachlässigenden Anpassung nach wie vor zu einem geringeren Produktivitätsniveau in Ostdeutschland. (S. 96)
Immer noch …bestehen zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland strukturelle Unterschiede, die sich vor allem negativ auf die Produktivität ostdeutscher Betriebe auswirken. (S. 96)
Der Status quo ist demnach enttäuschend, so dass der Bericht tröstend feststellt:
Vor dem Hintergrund des massiven Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft nach der Währungsunion des Jahres 1990 ist die Erneuerung der wirtschaftlichen Basis Ostdeutschlands weit vorangekommen. (S. 96)
Ja, im Vergleich zum katastrophal niedrigen Stand von 1991, als die ostdeutschen Betriebe im Zuge der „Tranformationsphase“ geschliffen wurden, ist die Erneuerung tatsächlich weit vorangekommen.
Im Verlauf der letzten 20 Jahre haben sich die Wirtschaftsstrukturen in Ost- und Westdeutschland nur leicht angenähert. Die massive staatliche Investitionsförderung hat zu einer Erneuerung und Modernisierung Ostdeutschlands und damit zu einem mit Westdeutschland vergleichbar guten technischen Niveau ostdeutscher Betriebe geführt sowie das Produktivitätsgefälle verringert. (S. 35)
Dennoch spricht der IAB-Bericht in einer etwas beschönigenden Feststellung von einem „weitreichenden Angleichungsfortschritt“ „dieses rasanten Aufholprozesses“ (S. 96)
Es folgt aber auch eine Einschränkung hierzu:
Der Angleichungsprozess erfolgte aber nicht gleichmäßig. Es gab in der Vergangenheit auch Zeitabschnitte, in denen der Produktivitätsabstand stagnierte oder sich vergrößerte. Der Verlauf der Produktivitätsangleichung der ostdeutschen an die westdeutschen Betriebe korrespondiert mit dem Konjunkturverlauf der Wirtschaft, allerdings im umgekehrten Verhältnis: In der Tendenz21 stagniert die Angleichung in wachstumsstarken Jahren in Deutschland (1995 bis 2000, 2006, 2007), in wachstumsschwächeren Jahren (2001 bis 2005, 2008) verringerte sich demgegenüber der Produktivitätsabstand zu Westdeutschland. Während im Jahr 2007 die ostdeutschen Betriebe 67 % des westdeutschen Produktivitätsniveaus erreichten, konnte 2008 der Abstand um insgesamt 4 Prozentpunkte verringert werden. (S. 29/30)
Daraus wird Folgendes erkennbar: Je niedriger das konjunkturelle BIP-Wachstum West im Vergleich zu Ost, um so schneller die Anpassungen im Niveauunterschied bei gegebenem bzw. konstantem Wachstumstempo Ost.
Es ist dies aber keine neue Erkenntnis, sondern sie bestätigt empirisch die Modelle der Anpassungstheorie, wonach die fortschreitende Angleichung ein langfristig höheres BIP-Wachstum Ost zu West erfordert:
Der Produktivitätsabstand ostdeutscher Großbetriebe hat sich aber zwischen 1995 und 2008 nicht wesentlich verringert.Trotz hoher Produktivitätssteigerungen in ostdeutschen Betrieben mit mehr als 250 Beschäftigten wurden 2008 nur etwa zwei Drittel des vergleichbaren westdeutschen Niveaus erreicht (vgl. Abbildung 17) (S. 33)
Die Jahre zwischen 1995 und 2008 waren also für den Aufholprozess enttäuschend, was sich natürlich nicht als „rasanter Aufholprozess“ (wie zitiert) verkaufen lässt:
Wann ostdeutsche Betriebe das westdeutsche Niveau erreichen werden, hängt einerseits von der Produktivitätsentwicklung in westdeutschen Betrieben selbst ab, andererseits vom bestehenden Produktivitätsabstand der ostdeutschen Betriebe und v. a. von der Dynamik der ostdeutschen Produktivitätsentwicklung. (S. 30)
Differenzierend zu unbegründeten Erwartungen stellt der IAB-Bericht jedoch fest:
Eine Annäherung der Produktivität ostdeutscher Großbetriebe an das höhere westdeutsche Niveau wäre zweifelsohne ein großer Erfolg, würde aber nicht zu einer Angleichung des Produktivitätsniveaus der ost- und westdeutschen Wirtschaft insgesamt führen. In ostdeutschland nämlich arbeiten anteilig deutlich weniger Beschäftigte in Großbetrieben als in Westdeutschland. Um den Angleichungsprozess zu forcieren, sind also insbesondere höhere Produktivitäten im einzelnen ostdeutschen Betrieb erforderlich, aber auch höhere Beschäftigungsanteile
produktiverer Betriebe. (S. 34)
Damit schließt sich der logische Kreis der Begründungen für die niedrigere ostdeutsche Produktivität:
Nach wie vor bestehen jedoch strukturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die sich auf die Produktivität auswirken. Insbesondere der unterschiedlich hohe Anteil von investitions-, innovations- und exportstarken Großbetrieben mit entsprechenden Innovationspotenzialen und ein unterschiedlich hoher Anteil an Beschäftigten in hochproduktiven Betrieben verbinden sich mit unterschiedlichen Durchschnittsproduktivitäten in Ost- und Westdeutschland. (S. 35)
Die ostdeutsche Wirtschaft wird also auf einen kräftigen Angleichungsprozess weiter warten müssen:
Der Angleichungsprozess allerdings ist immer noch nicht abgeschlossen. Ostdeutschland hat nach wie vor einen deutlichen Rückstand in der Wirtschaftsleistung und Produktivität, viele ostdeutsche Regionen haben eine höhere Arbeitslosigkeit als Westdeutschland und Ostdeutschland ist immer noch von monetären Transferleistungen Westdeutschlands abhängig.(S. 6)
So wundert es dann nicht, wenn wiederum festgestellt wird:
Während 1990 von den ostdeutschen Betrieben ca. 30 % des westdeutschen Produktivitätsniveaus erreicht wurden (vgl. BMWi 1996: 102), lag 2008 die durchschnittliche Produktivität ostdeutscher Betriebe bei 71 % des Westniveaus (vgl. ebenfalls Abbildung 14).
Die Erklärung hierfür liegt einfach in den „zu hohen Erwartungen“, die in und für Ostdeutschland gehegt wurden:
Zum anderen haben sich die Erwartungen an die Geschwindigkeit und Zielmarke des Angleichungsprozesses normalisiert (vgl. u. a. Hüther 2009, Scharr 2009, Ragnitz 2009, Brenke 2009, Brenke/Zimmermann2009, BMVBS 2009, Röhl 2009). (S. 6)
Damit sind wir im gegenwärtigen Alltag bei der vorherrschenden Ost-West-Analyse angelangt. Man erfreut sich offensichtlich im IAB der erreichten Angleichungsfortschritte, ohne die Chancen für den restlichen Aufholprozess abzuschätzen und den Weg dorthin aufzuzeigen. Damit wird abermals vermieden, die hemmenden neoliberalen Rahmenbedingungen direkt in Frage zu stellen.