Wenn Medien über Armut und die Angehörigen der unteren Schichten berichten, liegt oft vieles im Argen. Das ist der Befund von Bernd Gäbler, der sich für die Otto-Brenner-Stiftung unter dem Titel „Armutszeugnis – Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt“ des Themas angenommen hat. „Armut ist ein zentrales gesellschaftliches Problem, wird aber an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt“, sagt Gäbler im NachDenkSeiten-Interview. Zudem stellt Gäbler fest, dass Medien „mit zu geringer Neugier und zu wenig Respekt berichten.“ Der Professor für Journalistik an der FHM Bielefeld wirft bestimmten TV-Formaten vor, dass sie unter dem Deckmantel der Dokumentation Menschen vorführen. Von Marcus Klöckner.
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Wie berichten Medien über das Thema Armut?
Oft unzureichend, gelegentlich mit gutem Willen und viel zu häufig so, dass ohnehin bestehende Ressentiments bekräftigt, ja noch verstärkt werden.
Der Reihe nach. Sie haben sich in einem 84-seitigen Arbeitspapier für die Otto-Brenner-Stiftung mit dem Thema Armut und Medienberichterstattung auseinandergesetzt. Warum ist dieses Thema von Bedeutung?
Weil die sozialen Unterschiede und Konflikte ein großes und grundsätzliches Problem unserer reichen Gesellschaft sind, über Armut aber mit zu geringer Neugier und zu wenig Respekt berichtet wird.
Die Wirklichkeitsbilder, die in den Medien vorkommen, haben Auswirkungen auch auf die konkrete Lebensrealität. Was bedeutet es, wenn Medien eine verzerrte Berichterstattung zum Thema Armut abliefern?
Dass die ohnehin bestehende Ausgrenzung sich weiter verfestigt. Bestimmte soziale Gruppen und kulturelle Milieus begegnen sich kaum noch: Man wohnt in anderen Stadtvierteln, geht woanders einkaufen, ist in der Freizeit in anderen Kneipen, Clubs oder Sportvereinen, geht in andere Konzerte. Selbst die Trink- und Essgewohnheiten differieren zunehmend. Armut ist ein zentrales gesellschaftliches Problem, wird aber an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt.
Wie sind Sie für Ihre Kurzstudie vorgegangen?
Ich habe vor allen Dingen sehr, sehr viel Fernsehen geschaut – querbeet alle einschlägigen Sender, und über hundert Stunden Sendungen von RTLzwei, die ansonsten von der Fernsehkritik wenig beachtet werden. Es ist also eher ein durch Beobachtung gestützter größerer Essay, keine empirische Studie.
Worauf haben Sie noch geachtet?
Ich habe sehr genau hingeschaut, besonders auf die jeweiligen Inszenierungsstrategien. Das geht von der Kameraführung bis hin zum Einsatz von Musik und den Stimmen der Kommentatoren. Ich habe sehr exakt protokolliert und dies nach nachvollziehbaren übergeordneten Rubriken sortiert.
Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Dass es in den öffentlich-rechtlichen Sendern zwar einige sehenswerte Dokumentationen gibt, aber insgesamt keine kompakte Programmstrategie zur Armutsberichterstattung erkennbar ist. Dass RTL entweder Kitsch (Vera Int-Veen) bietet oder Zynismus (Ein Koffer voller Chancen), während RTLzwei quantitativ am meisten über soziale Brennpunkte berichtet, aber unter dem Deckmantel des angeblich Dokumentarischen auch am schlimmsten arme und kranke Leute vorführt.
Was ist Ihnen noch aufgefallen?
Dass Unterschichten-Figuren in fiktionalen Produktionen oft wie Karikaturen erscheinen, dass klassische Sozialdokumentationen in vielen Redaktionen als langweilig gelten, dass es also mehr Austausch und Anstrengungen geben muss, um eine adäquate Bildsprache für eine zeitgemäße Armutsberichterstattung zu entwickeln.
Wie erklären Sie sich die Ergebnisse Ihrer Untersuchung?
Ehrlich gesagt: relativ einfach. Die tiefe gesellschaftliche Kluft wird von Medien nicht nur fortgesetzt und gespiegelt, sondern dadurch zugleich reproduziert und verfestigt.
Schon seit langem ist bekannt, dass Medien, was ihre soziale Zusammensetzung angeht, sehr einseitig besetzt sind. Im vergangenen Jahr wurde in einer entsprechenden Studie gefragt: Wo ist die Arbeiterklasse im Journalismus? Was bedeutet es, allgemein, wenn Medien sozial zu einheitlich aufgestellt sind, aber auch speziell im Hinblick auf das Thema Armut?
Der Journalismus ist mittlerweile ein durchakademisierter Beruf. Es sind meist Angehörige der auf Individualismus ausgerichteten urbanen Mittelschichten, die bevorzugt über ihresgleichen berichten oder zumindest aus dieser Perspektive auf die Welt schauen. Wenn dann noch Moralisieren und Didaktik das Handwerk überlagern, müssen wir uns über Ausgrenzung oder „Exotisierung“ der Armut nicht wundern.
Die Chefredakteurin von RTLzwei hat sich in einem längeren Beitrag zu Wort gemeldet und Ihr Arbeitspapier kritisiert. Sie sagt, Sie hätten „ein als wissenschaftliche Arbeit getarntes Meinungsstück, das nur unbelegte Behauptungen und Polemik zu bieten hat, und bei dem es der Autor für verzichtbar gehalten hat, auch mal mit uns zu reden“ veröffentlicht. Wie gehen Sie mit der Kritik um?
Ich möchte auf mediale Missstände aufmerksam machen, Frau Beyer will ihren Job retten. Wir agieren also auf völlig unterschiedlichen Ebenen. Einige Medien wollten ein „Duell“ zwischen Frau Beyer und mir. Sie zeigen damit nur, dass sie gar nicht begriffen haben, worum es geht. Die Frau ist mir herzlich egal, aber nicht egal sind mir die Menschen, die von RTLzwei vorgeführt werden.
Die Chefredakteurin versucht in ihrem Beitrag, wie sie sagt, „Dinge geradezurücken“. Sie sagt, in den entsprechenden Sendungen werde einfach die Realität unverblümt gezeigt, aber es gehe eben gerade nicht darum, Menschen vorzuführen. Gestatten Sie mir bitte, eine längere Passage aus dem Beitrag anzuführen. Darin heißt es:
„Wir geben Menschen und Geschichten einen Raum, die sonst in den Medien nicht vorkommen, oder nur als Problem, über das andere reden. Oft sind das Bilder, die schwer anzuschauen sind, das ist wahr. Aber sie vermitteln direkt und ehrlich, was soziale Probleme sind und wie Menschen in diesem Land leben. In Talkshows oder Expertengesprächen kommen die von Armut betroffenen Menschen selten selber zu Wort. Wir wählen diese Genres deshalb bewusst nicht. Wegschauen und abstrahieren, das passiert viel zu oft. Auch das hätten manche Kritiker lieber, wenn sie wie Gäbler fordern, die gezeigten Personen zum Aufräumen ihrer Wohnungen zu ermahnen, sie von Aussagen abzubringen oder sie nachträglich ändern zu lassen, bis hin zum Recht auf Abnahme und Freigabe des Sendematerials durch die Mitwirkenden. Das wäre dann journalistisch sauber und nicht manipulativ? Die Realität zu zeigen, ist hier unsere Aufgabe.“
Das klingt erstmal vernünftig. Aber macht es sich die Chefredakteurin da nicht doch etwas zu einfach? Wie sehen Sie das?
Wenn ich von „Inszenierungsstrategien“ spreche, sagt Frau Beyer, dass die gezeigten Menschen aber echt seien und keine Schauspieler. Wenn ich auf die Verantwortung für das Was und Wie des Gezeigten hinweise, unterstellt sie, ich verlange Schönfärberei. „Das Objektiv ist nicht objektiv“ und „Die Kamera ist eine Waffe“ – diese Sätze von Susan Sontag sind für mich Lehrsätze für jeden Dokumentaristen. Frau Beyer sind sie Hekuba. Deshalb wehrt sie sich immer gegen Vorwürfe, die ich gar nicht erhebe. Sie sagt: Wir halten doch einfach nur – ohne Ideologie und Wertung – die Kamera drauf, deshalb sind wir objektiv. Genau das ist aber nicht der Fall. So bildet man stets nur die Oberfläche ab, bestätigt gängige Sichtweisen.
In dem zitierten Absatz heißt es, dass Menschen Raum gegeben werde, „die sonst in den Medien nicht vorkommen.“ Dem kann man sicherlich zustimmen. Aber warum kommen Vertreter der unteren Klassen in den Medien tatsächlich eher selten vor? Wie erfassen Sie dieses Problem?
Es geht nicht um Quantität, sondern um Geduld und einen forschenden Blick, um Neugier und echtes menschliches Interesse. Ein einfaches Beispiel: Die RTLzwei-Formate wie „Hartz und Herzlich“ zeigen tatsächlich viele Protagonisten aus sozialen Brennpunkten. Um eine besondere Nähe zu suggerieren, werden diese nur mit Vornamen genannt und geduzt. Das gilt aber interessanterweise nicht für Ärzte, Rechtsanwälte oder Krankenschwestern, sobald diese in den Filmen auftauchen. Das mag kumpelhaft gemeint sein, ist aber nichts als Respektlosigkeit. Immer im Verborgenen bleiben natürlich die Honorare für die Protagonisten und die Knebelverträge, mit denen sie an die Produktionsfirmen gebunden werden, herausposaunt werden hingegen alle Krankheiten der Gezeigten.
Lassen Sie uns kurz den Fokus auf die Sprache richten. Von denjenigen, die sich innerhalb der Medien zu Wort melden, wird erwartet, dass sie eine Sprache anschlagen, die den Erwartungen der höheren Schichten entspricht. Das heißt: Hochdeutsch ist eine Selbstverständlichkeit – natürlich gesprochen ohne jeden grammatikalischen Fehler. Dann gilt es, sich natürlich so auszudrücken, dass eine ausgefeilte Sprache zum Ausdruck kommt. Nun ist es kein Geheimnis, dass Vertreter der unteren Schichten, was diese „saubere Hochsprache“ angeht, die Erwartungen nicht immer erfüllen können. Wie soll man als verantwortungsvoller Journalist mit diesem „Problem“ umgehen? Lässt man die Menschen so reden, wie sie es eben tun, setzt man sie – was traurig ist – der Lächerlichkeit aus. Hilft man ihnen, setzt man sich dem Vorwurf aus, sie zu bevormunden.
Ich halte die tatsächlich existierenden sprachlichen Unterschiede für kein so großes Problem. Ich bin eher skeptisch, wenn ein Journalist aus Gründen der Annäherung plötzlich Jargon statt Hochdeutsch spricht. In meiner kleinen Studie steht ein Interview, das ich mit Jacqueline Paetzel geführt habe, einer jungen Frau, die unter anderem als Protagonistin in dem RTLzwei-Format „Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern?“ mitgewirkt hat. Die Sprache ist authentisch, auch ich habe mich nicht verstellt. Mit ihr wollte ich unbedingt sprechen, denn beim Zuschauen war mir klar, dass sie völlig willkürlich und manipulativ in ein Gut/Böse-Schema gepresst worden war, was ihrer komplexen Persönlichkeit überhaupt nicht gerecht wird. Ich habe sehr viel Zeit und Geduld aufgewendet, um sie zu treffen, sie zu überzeugen, ihre Skepsis zu überwinden. Sie hat sehr mit sich gerungen, aber immer war klar, dass wir uns in vielem fremd bleiben würden. Nach der Veröffentlichung schrieb sie mir eine Mail – ich zitiere wörtlich: „Ich hatte ja am Anfang erst Bedenken ihnen zu zusagen, aber es war doch ganz gut das ich es getan hab! Danke dafür. Danke für’s zuschicken! Es ist echt gut geschrieben.“ Ist das nicht toll? Da achte ich doch nicht auf sprachliche Einzelheiten.
Unsere Gesellschaft ist, was Rassismus angeht, relativ sensibel eingestellt. Allerdings gibt es große Defizite, was Klassismus angeht. So wie Rassismus Menschen aufgrund ihrer anderen ethnischen Zugehörigkeit abwertet, zielt Klassismus in abwertender Form auf die Verhaltensweisen, die Mitglieder der unteren Schichten an den Tag legen. Zeugt es also, um den Begriff zu gebrauchen, nicht von einem ziemlichen Klassismus, dass die Sprache der „einfachen Menschen“ als „minderwertig“ betrachtet wird, dass ihre Sprechweise als „lächerlich“ empfunden wird? Meine Beobachtung ist: Medien sind tolerant, wenn Menschen aus den unteren Schichten vor der Kamera zu einem politisch unproblematischen Thema Stellung beziehen oder aber, wenn sie politisch die „richtige“ Meinung vertreten. Aber wehe, diese Menschen äußern in ihrer einfachen Sprache eine Meinung, die von der des medialen Mainstreams abweicht: Dann ist Klassismus vorprogrammiert. Sehen Sie das auch so? Und: Müssen Journalisten, was Klassismus angeht, sensibler werden?
Ich bin skeptisch, ob „Klassismus“ ein so guter Begriff ist, aber was Sie meinen, ist keineswegs nur ein Problem des Journalismus. Vermutlich müsste man weiter ausholen – die mangelnde Sensibilität gegenüber der sozialen Segregation unserer Gesellschaft hat viel zu tun mit dem spezifischen Zustand einer letztlich doch sehr identitätspolitisch getriebenen Linken in der Bundesrepublik.
Titelbild: Concept Photo/shutterstock.com
Bernd Gäbler ist Professor für Journalistik an der FHM Bielefeld und war früher Geschäftsführer des Grimme-Instituts in Marl. Die Studie „Armutszeugnis – Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt“ ist Anfang April 2020 als Arbeitsheft Nr. 40 der Otto Brenner Stiftung erschienen.