Der Medienskandal um die BBC-Moderatorin Emily Maitlis schwappte bis in die deutsche Presse: Weil sie in einer Sendung Premier Boris Johnson und seinen Berater Dominic Cummings für sein Umherreisen inmitten des Lockdowns kritisierte, kassierte sie eine Rüge des Senders: Die BBC sah ihre journalistische Neutralität durch den Kommentar verletzt. Unparteilichkeit. Sich mit keiner Sache gemein machen. Die Mächtigen an der Leine halten. Das klingt gut. Doch der freie britische Journalist Jonathan Cook – wie Julian Assange mit dem Martha-Gellhorn-Preis ausgezeichnet – fragt zurecht, wer da eigentlich an wessen Leine hängt. Eine Frage, die man sich auch zu weiten Teilen des Journalismus in Deutschland stellen kann.
Emily Maitlis ist keine Medienheldin. Sie hat schlicht vergessen, wofür sie und die BBC da sind.
Von Jonathan Cook
Die falschen Schlüsse werden aus Maitlis’ Kommentar zu Dominic Cummings im BBC-Flaggschiff Newsnight diese Woche gezogen. Ihre Bemerkungen zeugen nicht von ihrer Courage oder davon, dass Journalisten geknebelt werden oder dass die BBC plötzlich vor der Regierung kapituliert.
Das Problem rührt daher, dass wir uns unbedingt darauf kaprizieren wollen, ob Maitlis nun recht oder unrecht hat in Bezug auf Boris Johnsons leitenden Berater Cummings und seinen Verstoß gegen die Lockdown-Regeln. Doch ob es nun statthaft war oder nicht, dass Maitlis die weitverbreitete und von polizeilichen Ermittlungen gestützte Ansicht äußerte, dass Cummings die Maßgaben seiner eigenen Regierung brach, indem er in Großbritannien herumfuhr, als er den Verdacht hatte, er und seine Familie könnten mit Covid-19 infiziert sein, lenkt vielmehr vom eigentlichen Thema ab.
Selbst wenn wir uns nur auf die Frage konzentrieren, ob die BBC berechtigt war, Maitlis eilig zu tadeln, weil sie Cummings Verhalten kritisiert hatte – und sie dann anscheinend am nächsten Abend zur Strafe von der Sendung abzuziehen – schränkt dies unser Verständnis ein, was der Vorfall bedeutet.
Störfall in der Maschine
Die BBC, die übrigen Medien, sogar Maitlis selbst, alle würden es vorziehen, dass wir uns darauf beschränken, zu diskutieren, was in dieser speziellen Auseinandersetzung nun richtig oder falsch war – und dass wir sie weiterhin hauptsächlich als „Zoff“ betrachten, bei dem zwei Seiten darüber streiten, was unter den gegebenen Umständen richtig war.
Aber den Vorfall so zu betrachten, bedeutet, den „Streit“ zu personalisieren und daraus die Frage zu machen, ob Maitlis eine gute oder eine schlechte Journalistin ist oder ob die BBC-Oberen bei diesem Anlass der Regierung gegenüber zu unterwürfig waren oder aber wirklich versuchen, Standards der “Unparteilichkeit” hochzuhalten. Keine dieser „Debatten“ bringt uns sehr weit.
Maitlis ist eine gestandene BBC-Journalistin, die ihre heutige Position erreichte, indem sie mit Fingerspitzengefühl das tat, wofür die BBC steht. In dieser Woche lief etwas schief. Es kam zu einem ganz kurzen Aussetzer bei der gut geölten Maschine der BBC. Und diesen Aussetzer gilt es in Beziehung zur gut geölten Maschine zu betrachten, weil wir so erhellen können, was die BBC sonst immer so mühelos hinkriegt.
Der Nutzen des Maitlis-„Streits“ besteht nicht darin, abzuwägen, ob sie bei dieser Gelegenheit nun unparteiisch oder parteiisch war oder ob ihre BBC-Chefs Objektivitäts-Regeln durchgesetzt haben oder parteiisch waren. Der „Streit” trägt zur Aufklärung darüber bei, ob die BBC und ihre Journalisten überhaupt je versuchen, unparteiisch zu sein und ob Objektivität überhaupt möglich ist.
Verlacht und beschimpft
Die beinahe unmittelbar erteilte Rüge vonseiten der BBC, die Maitlis dafür kasteite, die angeblich strengen Objektivitätsstandards des Senders verletzt zu haben, ist hilfreich, weil es eindeutig Unsinn ist, dass Maitlis für gewöhnlich besonderen Wert auf Objektivität legt oder dass die BBC-Chefs es für gewöhnlich eilig damit haben, Rügen auszusprechen, wenn solche Standards gebrochen werden.
Hier, um uns daran zu erinnern, dass Maitlis keine Skrupel hat, parteiisch zu sein – und die BBC keine Skrupel, sie parteiisch sein zu lassen – ist ein weiterer kurzer Clip von ihr in Aktion, der vor 14 Monaten ausgestrahlt wurde. Bei dieser Gelegenheit unterbrach, beschimpfte und verspottete sie Barry Gardiner, den damaligen Schattenhandelsminister, als er versuchte, Labours Brexit-Politik zu erklären.
Beachten Sie die Unterschiede zwischen diesem Ausschnitt und ihre Kommentare diese Woche. Ihre Kritik an Cummings wurde in tristem Tonfall abgegeben, als ob sie enttäuscht wäre, als ob Cummings hinter die hohen Standards zurückgefallen wäre, die normalerweise von der Regierung festgelegt werden. Ihre Kommentare wurden vorsichtig der Stimmung im Land zugeschrieben. Und sie kritisierte lediglich das Verhalten von Cummings – eine Kritik, die in den polizeilichen Ermittlungen ihren Widerhall fand – und Johnsons Loyalität gegenüber Cummings. Sie schweifte nicht auf ein weiteres Feld ab, was das Risiko beinhaltete, die politischen Maßnahmen oder die Prioritäten der Regierung ins Visier zu nehmen.
Bei dem Gardiner-Interview verhält es sich vollkommen anders. Sie rollt mit den Augen, sie macht sich mit kaum verhüllter Verachtung über ihn lustig, sie lacht ihn aus und ihre Körpersprache ist offen feindselig. Sie bespöttelt ganz offen die Brexit-Politik der Labour Party, während ein Regierungsvertreter neben Gardiner sitzt, voll ungläubigem Staunen wegen ihres Ausbruchs. Und das wohlbemerkt zu einer Zeit, als die konservative Partei, damals unter der Führung von Theresa May, völlig am Boden lag und sich wegen des Brexit-Chaos zerfleischte, das sie erzeugt hatte, und damit fast vollständige politische Lähmung bewirkte.
Analysieren Sie die beiden Videos von Maitlis und entscheiden Sie dann, in welchem sie parteiischer wirkt. Angenommen, Sie wären ein Besucher vom Mars und sähen diese beiden Videos – von welchem würden Sie annehmen, dass die BBC sich eilig entschuldigt hat, weil darin ihre angeblichen Objektivitätsregeln verletzt wurden?
Und doch finde ich keinen Hinweis darauf, dass die BBC Maitlis wegen des Gardiner-Interviews je eine Rüge erteilt hätte, weder zur Zeit der Ausstrahlung noch später.
Tatsächlich war das Interview nach BBC-Maßstäben in vielerlei Hinsicht so normal – insbesondere in den Tagen, als Jeremy Corbyn Labour-Chef war – dass ich noch niemanden in meinen sehr aktiven Social-Media-Feeds gefunden habe, der sich auf den Maitlis-Vorfall bezogen hätte. Im Gegensatz zum Cummings-Kommentar blieb Maitlis’ öffentliches Mobbing gegen und ihre Verachtung für Gardiner außerhalb der üblichen linken Kreise unbemerkt. Stattdessen wurde das Interview allgemein gefeiert. Auf seiner Youtube-Seite lobt der „liberale” Guardian sogar implizit ihre „Verzweiflung“ über Gardiner, mit der sie die „Stimmung im Land“ eingefangen habe, wieder ganz so, als ob Labour mehr Verantwortung für das Chaos des Brexit trage als die Regierung, die es politisch zu verantworten hatte.
Eine Machtfrage
(…) Der Unterschied zwischen dem Umgang der BBC mit dem Cummings-Kommentar und dem Gardiner-Interview betrifft nicht die Frage der Parteilichkeit, sondern zielt vielmehr auf die Frage der Macht. Cummings sitzt im Zentrum der Macht, im Zentrum einer Regierung, die ungeniert die Interessen des Establishments repräsentiert. Er ist das unverzichtbare „Gehirn“ – der Strippenzieher – hinter dem beschränkten, nichtssagenden, wenngleich freundlichen Premierminister. Ohne Cummings wäre die Regierung führungslos, und genau darin liegt der Grund, weshalb Johnson um jeden Preis an Cummings festhalten will, trotz des Schadens, den er ihm und der Partei zufügt. Daher war Johnson so erzürnt und aufgeschreckt durch Maitlis’ Kommentare. Und deshalb erkannte die BBC, dass unter den gegebenen Umständen viel zu viel auf dem Spiel stand, um ihre Starjournalistin zu unterstützen.
Der Fehler, den Maitlis und das Newsnight-Team begingen, lag darin, nicht bemerkt zu haben, wie wichtig Cummings für die Regierung ist. Er ist nicht nur ein Berater. In vielerlei Hinsicht ist er die Regierung.
‘Freie Presse für Milliardäre’
Einer der Fehler, die Menschen, die mit Journalismus nichts zu tun haben, oft machen, ist, sich vorzustellen, dass Journalisten in erster Linie die Mächtigen zur Rechenschaft ziehen. Die meisten Journalisten tun indes das genaue Gegenteil. Journalisten sehnen sich nach etwas Abglanz der Macht – Exklusivgeschichten, Insider-Informationen, die Story hinter der Story – und all das hängt davon ab, Zugang zu jenen zu haben, die Macht ausüben. Der Zugangsjournalismus dominiert in Politik, Wirtschaft, Kriminalität, Showbiz, Berichterstattung über die Königshäuser und Sport – ja, in allen Sparten der Medien.
Als wäre das nicht schlimm genug, besteht die Hauptaufgabe leitender Zeitungsjournalisten darin, die Interessen und das Weltbild ihrer Eigentümer – und ähnlich tickender Unternehmen, die in jenen Zeitungen Werbung schalten – zu verstehen. Die Aufgabe des Journalisten besteht sodann darin, diese Weltsicht den Eigentümern und Werbekunden zurückzuspiegeln. Darin liegt der Grund dafür, dass Zeitungsjournalisten die Anliegen von Milliardären teilen statt jene einfacher Menschen.
Ein schockierendes und amüsantes Beispiel dafür, wie genau Journalisten die Interessen von Unternehmen befördern, kann man hier in diesem kurzen Clip sehen, der zeigt, wie Reporter von elf unterschiedlichen US-Fernsehsendern Wort für Wort die gleichen „Nachrichten“ darüber vortragen, wie phantastisch Amazon während der Pandemie agiert hat.
Der Spielraum, den Zeitungsjournalisten haben, ist ein schmales Spektrum von Themen, die die Milliardäre und Werbekunden entweder nicht sonderlich interessieren oder worüber diese untereinander uneins sind. Dieser enge Spielraum ist normalerweise gemeint, wenn Journalisten von „Pressefreiheit“ sprechen.
Zwei Parteien des Kapitals
Die Aufgabe einer führenden Journalistin wie Maitlis in einem staatlich finanzierten Rundfunk wie der BBC ist ganz ähnlich umrissen: Sie besteht hauptsächlich darin, die Interessen und die Weltsicht des politischen Establishments zurükzuspiegeln. Heutzutage werden Zeitungsinhaber und Staatssender von nahezu identischen Agenden bestimmt, da Regierungsparteien von Milliardären und Unternehmen finanziert werden, die Zeitungen besitzen und darin Werbung schalten, und da Unternehmensgelder und die Unterstützung durch die Konzernmedien maßgeblichen Einfluss auf die Wahlergebnisse haben.
Früher war der redaktionelle Spielraum bei der BBC etwas weiter als heute. In den 70er Jahren, als Arbeiter der Macht des Establishments gewisse Grenzen setzen konnten mittels Gewerkschaften und Labour-Regierungen versuchten, diese Macht zu vertreten, musste die BBC diese konkurrierenden Ansprüche zwischen der politischen Elite und der Arbeiterbewegung austarieren.
Jene Balance ist weitgehend Geschichte. Nachdem Tony Blair New Labour als zweite Partei des Kapitals geschaffen hatte und damit das System Großbritanniens nach dem Bild des US-Systems geformt hat, hat sich der Gegendruck, der auf die BBC einwirkt, großteils in Luft aufgelöst. Blair und New Labour genossen bald die gleiche feige Unterstützung wie die Konservativen vonseiten der BBC-Starreporter – man erinnere sich nur an Andrew Marrs kriecherische Lobrede auf Blairs Kriegsverbrechen im Irak im Jahr 2003.
Die journalistische Linie der „Objektivität” der BBC – große Auseinandersetzungen über Randthemen, nicht-ideologische Skandale, Promi-Neuigkeiten – erfuhr lediglich eine Unterbrechung, als Corbyn 2015 durch seine völlig überraschende Wahl zum Vorsitzenden der Labour Party aufgrund des massenhaften Eintritts neuer Parteimitglieder einen Schock auslöste. Auf dieses Ereignis reagierte die mediale Klasse mit sofortigem, vollkommenem und anhaltendem Entsetzen, das bis zu dem Zeitpunkt andauerte, als es Labour gelang, die Normalität der Blair-Anhänger in diesem Jahr unter dem neuen Vorsitzenden Keir Starmer wieder herzustellen.
Echter und Als-ob-Journalismus
Seit geraumer Zeit bemüht sich die BBC kaum darum, auch nur so zu tun, als ob es bei der Wahl ihres Personals objektiv zuginge. Den Vorsitz im Rundfunkrat haben regelmäßig konservative Spitzenpolitiker, darunter bis vor kurzem Lord Patten, und darin vertreten sind massenhaft Leute, die früher für große Unternehmen gearbeitet haben.
BBC-Redakteure und ihre Kollegen bei der Daily Mail, der Times und dem Telegraph sind heute austauschbar, oft haben sie früher dort gearbeitet wie James Hardings und Sarah Sands. Viele von ihnen waren zuvor oder werden anschließend Berater der Konservativen – Thea Rogers, Robbie Gibb, Craig Oliver, Will Walden, Guto Harri. Und abgesehen davon, dass viele führende Journalisten der BBC qua Geburt der gesellschaftlichen Elite angehören wie Laura Kuenssberg, haben einige von ihnen ihre Laufbahn auch als Unterstützer der Tory Party begonnen, darunter Nick Robinson und Andrew Neil. Diese Journalisten bilden unbestreitbar eine Medienklasse der Elite, sind Teil des Establishments, und ihr Journalismus dient dazu, ihre Privilegien zu verteidigen.
All dies bildet den Kontext, in den man Maitlis’ Kommentare einordnen muss. Sie repräsentiert keinen Maßstab eines mutigen BBC-Journalismus abseits ihrer Kollegen. Sie hat sich nicht mit dem Medien-Establishment angelegt. Und sie hat nicht versucht, die Regierung Johnson zur Verantwortung zu ziehen. Nichts davon trifft zu oder wird durch den „Streit“ wegen ihres Cummings-Kommentars angedeutet.
Man bedenke, dass Maitlis’ halbherziger Kommentar zu Cummings viel zahmer ausfiel als der der ganz rechts angesiedelten Daily Mail, die Boris Johnson unterstützt und die im Besitz von Milliardären ist. Wenn Maitlis einen Kampf für eine wirklich freie Presse führt oder die Mächtigen rigoros zur Rechenschaft zieht, dann muss das – wie unwahrscheinlich! – auch für die Johnson-huldigende Daily Mail zutreffen.
Maitlis’ Fehler lag darin, die BBC – deren Aufgabe es ist, zumindest das Nötigste dazu zu tun, den Anschein journalistischer Glaubwürdigkeit sich selbst und ihrem Publikum gegenüber aufrechtzuerhalten, während sie gleichzeitig vermeidet, das politische Establishment zu hinterfragen – als Plattform zu benutzen, ihrem eigenen, von vielen geteilten Ärger über Cummings’ Entscheidung, gegen seine eigenen Ausgangsbeschränkungen zu verstoßen, als sie ihm nicht passten, Luft zu machen.
Die Mail positionierte sich kritisch, weil die Milliardärs-Eigentümer und Werbekunden Cummings’ nicht sonderlich interessiert, und weil sie wissen, dass ihre Leser Cummings’ Verhalten aufbringt. Und so nahmen Maitlis und Newsnight an, sie könnten sich ebenso kritisch äußern. Maitlis hat nicht ganz verstanden, dass ein BBC-Journalist noch mehr dazu verpflichtet ist, die Weltsicht des Establishments zu verteidigen als die Boulevardblätter, nicht zuletzt deshalb, weil das Überleben der BBC von der Finanzierung durch die Regierung abhängt.
Wie ihre Kollegen, Familie und Freunde war Maitlis persönlich verärgert. Sie ließ ihren Ärger ihr Urteilsvermögen trüben. Ihre Emotionen überlagerten ihre normalerweise scharfen journalistischen Instinkte, diejenigen nicht zu verärgern, die ihren Karriereweg an die Spitze der BBC ebneten. Sie hat – ausnahmsweise – den Fehler gemacht, echten Journalismus zu betreiben, wo man doch Pseudo-Journalismus von ihr erwartet.
Angeleint, brav bei Fuß
So was kommt bei den meisten Journalisten, die für Medienunternehmen arbeiten, selten vor. Wie der US-Medienkritiker Michael Parenti bekanntlich einmal über solche Journalisten sagte: „Die Journalisten sagen, was ihnen gefällt, weil sie (die Politiker/Mächtigen/Unternehmen, Anmerkung der Übersetzerin) mögen, was sie sagen.“ Und fügte hinzu:
Sie wissen nicht, dass sie angeleint sind, wenn sie den ganzen Tag lang brav bei Fuß sitzen. Erst wenn sie sich einmal auf verbotenes Terrain wagen, spüren sie den Ruck. Sie sind also frei, weil ihre eigene ideologische Perspektive mit der ihres Chefs übereinstimmt. Sie haben also nicht das Gefühl, mit ihrem Chef uneins zu sein.
Meistens sitzt Maitlis brav bei Fuß. Nur einmal hat sie aus Zorn – einem Zorn, den alle normalen Menschen über die Doppelmoral, die Privilegien und die Lügen empfinden – vergessen, was zu ihrem Job gehört. Für einen Augenblick hat sie vergessen, wozu sie durch ihre Erziehung und ihre Klassenzugehörigkeit sozialisiert wurde und was ihr durch ihre journalistische Karriere weiter antrainiert wurde: Die Illusion für sich selbst und die Zuschauer zu erzeugen, dass sie die Mächtigen zur Rechenschaft zieht. Dieses eine Mal praktizierte sie echten und nicht nur Als-ob-Journalismus – und wurde dafür sofort gerügt.
Die öffentliche Maßregelung von Maitlis durch die BBC ist eine extreme Version des Trainings mittels Belohnung und Bestrafung, das alle bei Unternehmen beschäftigten Journalisten durchlaufen. Meistens erfahren Mitarbeiter solche Ermahnungen in jungen Jahren, wenn sie ihre ersten journalistischen Schritte gehen und von älteren und erfahrenen Kollegen lernen, was der Journalismus von ihnen verlangt. Maitlis’ Verwarnung diente einem ähnlichen Zweck. Sie diente nicht nur dazu, Maitlis an die engen Grenzen ihrer Arbeit zu erinnern, sondern auch denjenigen in den unteren Rängen zu zeigen, dass sie noch vorsichtiger sein müssen, wenn dies sogar jemandem wie Maitlis passieren kann.
Tausende BBC-Journalisten, die mit echtem Journalismus liebäugelten, haben diese Woche gelernt, wie hoch der Preis von Ungehorsam ist. Dieser Vorfall hat noch ein wenig mehr zu ihrer Zähmung beigetragen und stellt sicher, dass sie noch deutlicher verstehen, dass man von ihnen erwartet, der Macht dienstbar zu sein. Infolgedessen werden sie noch braver bei Fuß sitzen.
Das nächste Mal, wenn Sie sich fragen, warum BBC-Reporter so ängstlich sind, so zaghaft, wenn sie das Establishment konfrontieren; warum ihnen ganz offensichtliche Stories oder Blickwinkel entgehen, die uns anderen ins Auge springen; warum sie aus einer Mücke einen Elefanten machen; warum sie sich aufspielen, ohne damit Wirkung oder Nutzen zu erzielen; warum sie sich auf Stories über Promis und Nichtigkeiten stürzen; warum sie lieber nach unten als nach oben treten; warum sie gemeinsam die wenigen Politiker angreifen und verunglimpfen, die es wagen, die Wahrheiten der heutigen neoliberalen Ordnung infrage zu stellen; wenn etwas davon passieren sollte, denken Sie an diesen Moment.
Weil alle BBC-Journalisten, inklusive künftiger Emily Maitlis, deren Züchtigung mitbekommen haben. Sie haben aus ihrem Fehler gelernt.
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