Um die Folgen der Coronakrise abzumildern, hat die deutsche Bundesregierung im März 2020 ein Rettungspaket in einer bisher noch nie dagewesenen Höhe von 156 Mrd. Euro aufgelegt. Nachdem zuerst vor allem die häufig sehr schnelle und in der Regel recht großzügige Unterstützung großer und mittlerer Unternehmen im Fokus stand, nahm man parallel dazu auch die wirtschaftliche und soziale Situation der vielen Kleinunternehmer und Soloselbstständigen völlig zurecht ernst und gewährte ihnen Unterstützung. Doch nicht allen wird geholfen. Von Lutz Hausstein.
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Je reicher, desto mehr wird geklotzt …
Während soeben die enormen Hilfen für große Aktienunternehmen genauer unter die Lupe genommen werden, da einige von ihnen den Rückkauf eigener Aktienpakete oder die Ausschüttung von Dividenden trotz der staatlichen Unterstützung, und damit durch die Steuerzahler, planen oder gar schon getätigt haben, gibt es bei den Hilfen für Soloselbstständige unterschiedliche Signale aus der Praxis. Es gibt einerseits wiederholt Berichte, nach denen die Soforthilfen extrem zeitverzögert oder auch gar nicht ausgezahlt werden. Auf der anderen Seite gibt es Darstellungen, die eine große Anzahl von ausgezahlten Unterstützungsgeldern für Kleinunternehmer und Soloselbstständige beschreiben. Eine einfache Gegenprobe in meinem eigenen Umfeld hat ergeben, dass zumindest in diesem einen konkreten Fall eine umgehende Auszahlung der Soforthilfe inklusive einer umfangreichen persönlichen Beratung erfolgt ist. Nichtsdestotrotz bleibt zu konstatieren, dass in diesem Wirtschaftsbereich eine erhebliche Gruppe von den staatlichen Hilfen ausgeschlossen bleibt. In der Regel diejenigen, die ohnehin mit schon unter normalen Umständen niedrigen Einkommen an der Grenze des Existenzminimums leben müssen, nicht zuletzt Künstler wie Musiker, Kabarettisten, Theaterschaffende oder sonstige auf Publikum Angewiesene.
… während bei den Ärmsten nicht einmal gekleckert wird
Eine Bevölkerungsgruppe bleibt jedoch fast vollständig unterhalb des Wahrnehmungsradars der Allgemeinheit. Den Ärmsten der Armen, diejenigen, die auf die soziale Grundsicherung angewiesen sind, wird in der auch für sie schwierigen Situation keinerlei Beachtung geschenkt bzw. ihre Notlage wird von den handelnden Politikern bewusst negiert. Während an anderen Stellen der Gesellschaft Milliarden von Euro ausgegeben werden, erhalten gerade die, denen es am schlechtesten geht, nicht die geringste Unterstützung. Forderte schon eine Gemeinschaft von zivilen gesellschaftlichen Organisationen am 2. Mai 2020 einen Mehrbedarf von 100 Euro monatlich auf Sozialleistungen, so brachte die Bundestagsfraktion der Grünen einen Gesetzesantrag für eben diesen Mehrbetrag von 100 Euro im Bundestag ein.
Die Grundlagen dieses Antrags sind mehr als plausibel. Nicht nur, dass, wie durch die Studienreihe „Was der Mensch braucht“ mehrfach belegt, der Regelsatz schon vom Grunde her erheblich zu niedrig ist und kaum zum Überleben reicht, hat sich diese Situation durch die Folgen der Coronakrise noch einmal deutlich verschärft. Um den notwendigen Außer-Haus-Verrichtungen nachgehen zu können, ist jedermann gezwungen, sich einen Mund-Nase-Schutz zu besorgen. Ist eine ungeplante Ausgabe ohnehin nicht im Regelsatz vorgesehen, so erreichten die Preise selbst für einfache Masken vorübergehend schwindelerregende Phantasiepreishöhen und diese sind damit für Leistungsempfänger erst recht unerschwinglich. Gleichzeitig sind die Preise für einen Teil der Nahrungsmittel regelrecht explodiert. Gemüse kostete im April 2020 durchschnittlich 26,3 Prozent mehr als im April 2019. So zum Beispiel Zucchini 92 Prozent, Brokkoli 69 Prozent, Blumenkohl 63 Prozent, Kohlrabi 62 Prozent und Paprika 56 Prozent mehr. Die Preissteigerung von Obst war da mit durchschnittlich 14,2 Prozent gegenüber April 2019 regelrecht moderat, ist aber dennoch nicht vom Regelsatz gedeckt. Dass im Zuge der Corona-Verordnungen die Lebensmitteltafeln geschlossen wurden, über die sich bundesweit mittlerweile 1,5 Millionen arme Personen gezwungenermaßen mit Lebensmitteln versorgen (müssen), ist der wahrscheinlich einschneidendste Punkt. Über die dramatische Situation von armen Familien beim sogenannten Home-Schooling hatten die NachDenkSeiten im Rahmen eines Interviews mit einem Familienvater einer betroffenen Familie berichtet.
Dennoch wurde der Antrag der Grünen zum Mehrbedarf mit einer satten Mehrheit im Bundestag abgelehnt. Während für Insider die gegenstimmenlose Ablehnung der angeblich für christliche Nächstenliebe stehenden Unionsfraktion wenig überraschend ist, ist der, bei nur einer einzigen Gegenstimme, erneute Ausfall der SPD ein Desaster. Doch dazu später mehr. Die ebenfalls ohne Gegenstimme erfolgte Ablehnung des Antrages durch die AfD-Fraktion sollte so langsam auch dem letzten Gutgläubigen die Augen öffnen, dass diese Partei nicht für die Interessen des „kleinen Mannes“ steht. Dass nun aber ausgerechnet aus den Reihen der FDP ein paar Stimmen für den Antrag kamen, wenngleich sich der große Teil der Stimmabgabe enthielt, sollte nun aber nicht zu der Vermutung verführen, der FDP plötzlich soziale Intentionen unterstellen zu wollen. Es ist bei Abstimmungen üblich, bei schon im Vorfeld klarem Ausgang gelegentlich auch mal entgegen dem eigentlichen Parteikurs zu stimmen, um damit positive PR zu betreiben. Die Zustimmung zum eigenen Antrag durch die Grünen ist nachvollziehbar, die komplette Unterstützung des Antrags durch die LINKE ist insofern bemerkenswert, da sie einen eigenen, darüber hinausgehenden Antrag eingebracht hat.
An dieser Stelle erscheint eine kurze Erläuterung des Prozedere zum besseren Verständnis dringend notwendig. Im Bundestag wurde nicht direkt über den Antrag der Grünen abgestimmt. Zur Abstimmung stand die Empfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales, der sich zuvor mit dem Grünen-Antrag beschäftigt hatte und aufgrund der dortigen Mehrheit von CDU/CSU und SPD eine Ablehnung des Antrages durch den Bundestag empfohlen hatte. Während der Abstimmung im Bundestag abgegebene Ja-Stimmen beziehen sich also auf die Empfehlung des BT-Ausschusses und bedeuten in Bezug auf den Grünen-Antrag demzufolge Nein-Stimmen. Um diese, nicht ganz ungewollte, Verwirrung zu beseitigen, hat sich Abgeordnetenwatch dazu entschlossen, sich bei der Darstellung des Abstimmungsverhaltens auf den Originalantrag der Grünen zu beziehen.
Warum die SPD immer wieder links blinkt und rechts abbiegt
Wie schon zuvor angekündigt, soll das Abstimmungsverhalten der SPD-Fraktion einer gesonderten Betrachtung unterzogen werden. Denn seit Jahren existiert bei ihr eine klaffende Lücke zwischen den mehr oder minder öffentlichkeitswirksam proklamierten Zielen ihrer Politik und ihrem eigenen politischen Handeln. Eine eklatante Lücke, die sich in einem sich immer weiter verstärkenden Vertrauensverlust selbst bei ihrer Kernwählerschaft niederschlägt. Erinnert sei dabei nur an ein paar wenige diesbezügliche Ankündigungen der letzten Jahre. Nach Bekanntgabe seiner Kanzlerkandidatur erklärte Martin Schulz „soziale Gerechtigkeit“ zu seinem Kernthema und katapultierte die SPD innerhalb von drei Wochen von 20 auf 32 Prozent und überholte damit sogar die Union. Als sich die Versprechen wenige Monate später als neuerliche Lippenbekenntnisse herausstellten, stürzte die SPD noch stärker ab. Auch Andrea Nahles versprach als damalige SPD-Vorsitzende einen grundsätzlichen Umbau (zum Besseren wohlgemerkt) des Sozialsystems. Passiert ist genau: nichts.
Ebendies spiegelt sich auch im Abstimmungsverhalten der SPD zum Grünen-Antrag wider. Von daher erscheint es angemessen, sich einmal exemplarisch zwei Begründungen für die Nein-Stimmen zum Mehrbedarf auf Sozialleistungen zu widmen. Gabriele Hiller-Ohm ist Abgeordnete für die SPD im Bundestag und dazu langjähriges Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Sie stimmte im Bundestag zum Thema Mehrbedarf auf Sozialleistungen für die Empfehlung des BT-Ausschusses für Arbeit und Soziales, also gegen den Antrag der Grünen. Schon am 23. April antwortete sie auf eine Frage auf Abgeordnetenwatch zu einem „Corona-Zuschlag für Hartz-IV-Empfänger“, dass sie persönlich eine Erhöhung der Grundsicherung um 100 Euro fordere. Der nachgeschobene Satz, dass „unsere Koalitionspartner CDU und CSU diese Maßnahmen eventuell nicht mittragen“ würden, zeichnet jedoch schon den Fortgang vor. Und exakt so kam es auch. Hiller-Ohm stimmte im Bundestag gegen den Antrag.
Noch klarer wird es am Beispiel von Daniela Kolbe (SPD-Fraktionsmitglied im Bundestag, ebenfalls langjähriges Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales). Sie stimmte im Bundestag gleichfalls gegen den Grünen-Antrag zum Mehrbedarf. In ihrer Antwort auf eine Frage bei Abgeordnetenwatch ging sie etwas stärker ins Detail als Hiller-Ohm. Nach der Betonung, dass sie persönlich einen Mehrbedarf von 100 Euro monatlich unterstützen würde, verwies sie auf den zwischen CDU/CSU und SPD geschlossenen Koalitionsvertrag (dort auf Seite 173), der sogenannte „wechselnde Mehrheiten“ ausschließt. D.h. unabhängig vom eigenen Standpunkt zu einem bestimmten Thema hat sich jede der beteiligten Fraktionen im Rahmen von Abstimmungen an die Mehrheitsentscheidung der Regierungskoalition zu halten. Die Aussage Kolbes deckt sich mit der von ihr in einer direkten Mailkommunikation zwischen ihr und mir schon vor anderthalb Jahren getroffenen Darstellung und ihrem dortigen Verweis auf den Koalitionsvertrag. Ich mag ihr das Bemühen um eine grundlegende Veränderung des Hartz-IV-Systems nicht einmal absprechen, doch es bleibt folgenlos, da ihr Verhalten im Parlament dem zuverlässig entgegenwirkt.
Ich möchte betonen, dass die Aufnahme eines solchen Passus in einen Koalitionsvertrag in meinen Augen die Aufgabe grundlegender demokratischer Werte darstellt. Dadurch wird der Grundsatz des „freien Mandats“ zum reinen Placebo entwertet. Das Grundprinzip der persönlichen Verantwortlichkeit des politischen Mandatsträgers für seine Abgeordnetentätigkeit gegenüber seinen Wählern wird vollständig zerstört. Zum anderen bewirkt eine Vereinbarung in der vorliegenden Art, durch die der Standpunkt der in der Koalition vorherrschenden Union stets auch als Abstimmungsverhalten der SPD übernommen werden muss (!), dass sich dieser Standpunkt bei Abstimmungen im Bundestag aufgrund der absoluten Mehrheit der CDU/CSU-SPD-Koalition in jederzeit gesicherten Abstimmungssiegen niederschlägt. Eine schlimmere Aushöhlung der demokratischen Idee ist kaum denkbar.
Einen Punkt sollten sich die SPD-Abgeordneten, die den Koalitionsvertrag für sakrosankt erklären, jedoch auf der Zunge zergehen lassen. Während die SPD mit Verweis auf die Vereinbarung mit den seit langem bekannten „Bauchschmerzen“ immer wieder selbst den schlimmsten Zumutungen zustimmt, hat die Union im Gegenzug nicht das geringste Problem damit, Festlegungen aus diesem Vertrag, wie beispielsweise die Grundrente, massiv infrage zu stellen. Dies sei den Verfechtern des Koalitionsvertrages in der SPD nur einmal als kleiner Denkanstoß mit auf den Weg gegeben. Generell bleibt jedoch meine Bewertung, dass ein Koalitionsvertrag in der vorliegenden Art und Weise demokratische Grundprinzipien massiv zerstört und deshalb in der Luft zerrissen gehört.
Was unter dem Strich bleibt
Und so ist es bei den Nothilfen in der Coronakrise wie immer. Gemäß dem Matthäus-Prinzip erhalten nicht ganz zufällig diejenigen, die ohnehin schon am meisten haben, auch die größten Hilfen. Und mit abnehmendem sozialen (besser und richtiger: Reichtums-) Status sinkt auch die staatliche Unterstützung. Um am Ende diejenigen, denen es am schlechtesten geht und die buchstäblich ums tägliche Überleben kämpfen, komplett ohne Hilfe im Regen stehen zu lassen. Stets natürlich mit blumigen Begründungen. In der Öffentlichkeit legt man sich den Mantel des Helfers in der Not um, der aber nichts weiter als ein durchsichtiger Deckmantel ist. Denn er verdeckt nichts, nicht einmal die eigene Kaltherzigkeit. Da helfen auch alle Selbstbeschreibungen von „sozial“ und „christlich“ nichts. Der Kaiser ist ohne Mantel. Der Kaiser ist nackt.
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