Hartz-IV-Empfängern will er trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Geld komplett streichen, Beratungsinitiativen, die den Ärmsten zur Seite stehen, zerschlagen: Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl Laumann (CDU) arbeitet im NRW-Arbeitsministerium an einem Gesetzentwurf, der nichts Gutes verheißt. Als eine „Steinzeitinitiative“ bezeichnet Harald Thomé vom Erwerbslosen- und Sozialverein Tacheles aus Wuppertal die Pläne. Thomé, der seit Jahren durch seine Beratung armen Menschen hilft, betont im NachDenkSeiten-Interview, wie weitreichend die Konsequenzen einer harten Politik gegen die Armen in unserer Gesellschaft sind: Existenzvernichtung und Obdachlosigkeit sind das Ergebnis. Von Marcus Klöckner.
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Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl Laumann hat vor kurzem gesagt, bei fehlender Kooperation will er Hartz-IV-Beziehern die Leistungen auf null streichen – trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom November des vergangenen Jahres. Was haben Sie gedacht, als Sie davon gehört haben?
Im Moment arbeitet das CDU-geführte Arbeitsministerium an einem SGB-II-Änderungsgesetz. In diesem sollen selbstverständlich die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geforderten Änderungen zu den Sanktionen einfließen. Mit dieser „Steinzeitinitiative“ will Laumann, zusammen mit weiteren CDU/CSU-Arbeitsministern, Druck ausüben und auf jeden Fall Sanktionen oberhalb von 30 Prozent des Regelbedarfes durchsetzen. In der Politik und der Verwaltung gibt es zwei Fraktionen. Die eine möchte die SGB-II–Sanktionen auf 30 Prozent begrenzen, die andere, so Herr Laumann und Herr Alt (ehemaliger BA-Chef), möchten unbedingt die 100-Prozent-Sanktionen wieder haben.
Herrn Laumann und Co interessiert der Menschenwürdegrundsatz, den das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, herzlich wenig. Hier soll die absolute Verfügbarkeit der Menschen zur kapitalistischen Verwertung, im Zweifel wieder mit Existenzvernichtung und Obdachlosigkeit, durchgesetzt werden.
Daher wundert mich die Initiative von Herrn Laumann und der CDU/CSU-Vertreter nicht, sie ist und war zu erwarten. Wichtig ist, im Gesetzgebungsverfahren genügend Druck auszuüben, im Parlament, auf der Straße, in den Verbänden, dass die 100-Prozent-Sanktionen weder offen noch durch die Hintertür und mit Verfahrenstricks eingeführt werden.
Sie setzen sich seit Jahren für Hartz-IV-Empfänger ein. Gewähren Sie uns bitte einen Einblick in Ihre Erfahrungen. Wie stellt sich für Betroffene die Situation dar, wenn die Bezüge gekürzt oder komplett gestrichen werden?
Für SGB-II-Beziehende waren die bisherigen Sanktionsregeln die stetige Existenzbedrohung. Sie haben entgegen der schönen Reden der Politik und Jobcentervertreter keine nachhaltige Arbeitsmarktintegration erhalten, also kein Fördern, sondern fast nur Fordern. Alleine im Jahr 2019 wurde über eine Milliarde Euro Eingliederungsmittel nicht verbraucht, obwohl sie für Umschulungen, Qualifizierungen, Weiterbildungen oder nur so profane Dinge wie Führerschein, Autokauf, MPU oder Fahrtkosten dringend benötigt worden wären.
Sanktionen bis 100 Prozent haben die Möglichkeit bedeutet, Menschen obdachlos zu machen, deren Existenz komplett zu vernichten. Das war eine konstante Bedrohung, jeder wusste, dass er dem Amt ausgeliefert war. Kompetente Rechtsberatungsstrukturen gibt es nur in wenigen Städten, die die Menschen hier ausreichend unterstützen und die Behörde ausbremsen können. Durch Sanktionen wurden die SGB-II-Beziehenden um Milliarden an Euro gebracht, Existenzen wurden vernichtet, Menschen wurden obdachlos gemacht, mussten sich verschulden, einige haben sich das Leben genommen. Außerdem wurden Menschen krank und zu vom Arbeitsmarkt entfernten Dauerarbeitslosen gemacht.
Das Sanktionsregime hat auch nicht wenige in die Arme der AfD getrieben. Die Folgen sind dramatisch, daher ist für die Betroffenen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erstmal ein Aufatmen angesagt. Die Menschen wissen, dass Jobcenter kann sie zumindest nicht mehr mit Sanktionen kaputt machen. Das ist in der Gesamtheit ein Riesenerfolg, dass hier das Sanktionsregime in der beschriebenen Totalität ausgebremst werden konnte.
In Nordrhein-Westfalen gibt es Arbeitslosenzentren, denen Laumann das Geld streichen will. Was hat es mit diesen Arbeitslosenzentren auf sich?
Es gibt in NRW seit Jahren eine Förderung für Arbeitslosenzentren (ALZ) und Beratungsstellen. Das sind in Zahlen rund 80 Arbeitslosenzentren und rund 80 Beratungsstellen. Herr Laumann will jetzt auf eine Förderung für von Arbeitsausbeutung Betroffene umbauen lassen. Das bedeutet, eine umfassende Arbeitsrechtsberatung soll durch diese Stellen jetzt durchgeführt werden. Die Beratungsstellen sollen sich nicht mehr mit Willkür von Jobcentern, Arbeitsämtern und Sozialämtern auseinandersetzen, sondern sie sollen faktisch gewerkschaftliche Arbeitsrechtsberatung durchführen.
Es sind keine klaren Zahlen bekannt, es ist aber davon auszugehen, dass circa 40 ALZ’s geschlossen werden sollen. So ist zumindest unsere Einschätzung. ALZ’s sind formal keine Beratungsstellen, aber viele erhalten wenigstens diese Förderung und können so wenigstens eine Beratungsstruktur aufrecht erhalten. Gleichzeitig sind solche ALZ Treffpunkte Erwerbsloser, wo sie hin können, sich aufgehoben fühlen und Isolation durchbrochen wird. Vielerorts sind es auch Orte von Protest gegen gesellschaftliche Verwertung und Ausbeutung, genau auch deswegen sollen sie von der CDU/FDP-Landesregierung geschlossen werden.
Warum will Laumann diesen Zentren die Mittel streichen?
Ziel des Manövers ist die Zerschlagung von behördenunabhängigen Erwerbslosen- und Beratungsstrukturen. Erwerbslose brauchen aber Anlaufstellen, wo sie sich aufgehoben fühlen, gesellschaftliche Isolation durchbrechen können und wo ihre Rechte gegenüber den Behörden verteidigt werden.
Wie wichtig der Erhalt der unabhängigen Beratungsstrukturen zur Stärkung sozialer Rechte ist, macht die gerade veröffentlichte Widerspruchs- und Klagestatistik der Bundesagentur für Arbeit des Jahres 2019 für die Grundsicherung für Arbeitsuchende deutlich. Danach wurde über einem Drittel aller Widersprüche ganz oder teilweise abgeholfen (34 Prozent) und knapp 40 Prozent der Klagen gegen Hartz-IV-Entscheidungen wurde teilweise oder völlig stattgegeben.
Eine solche Erfolgsquote bei Widersprüchen und Klagen macht deutlich, dass die Jobcenter fehlerhaft arbeiten und in hohem Maße rechtswidrig handeln. Deshalb ist eine uneingeschränkte Fortführung der behördenunabhängigen Beratungsstruktur unbedingt notwendig.
Bei der Kürzung der Mittel geht es mitnichten, wie vom NRW-Arbeitsminister behauptet, um den Abbau von „Doppelstrukturen“, sondern um den Angriff auf wirksame niedrigschwellige Unterstützungsangebote.
Sie sind für den Erwerbslosenverein Tacheles in der Beratung tätig. Worum geht es, wenn die Menschen zu Ihnen kommen?
Wir bezeichnen unsere Beratung eine Existenzsicherungsberatung. Das bedeutet, die Menschen kommen zu uns, wenn es brennt, oder sie werden von anderen Beratungsstrukturen zu uns geschickt, wenn diese nicht mehr weiter wissen. Das kann beispielsweise sein, wenn das Jobcenter für einen Erstantrag 3, 4 oder 5 Monate braucht, nicht oder nicht ausreichend zu Essen da ist, der Vermieter fristlos gekündigt hat, der Strom schon weg ist oder kurz vor dem Abdrehen steht, die Krankenkasse nicht gezahlt wurde und deswegen der Anspruch auf Versicherungsschutz ruht. Das kommt recht häufig vor. Oder das Jobcenter sich wieder mal verrechnet hat, statt 150 Euro 450 Euro als Einkommen anrechnet oder ein Jungerwachsener eine Ausbildung machen will und es darum geht, den wirtschaftlichen Teil der Ausbildung durch gute Beratung abzusichern usw. Die Beratungsfälle sind vielfältig, häufig recht kompliziert, aber wir können eine Menge erreichen.
Was umfasst die Arbeit von Tacheles weiter?
Neben dem Beratungsangebot engagiert sich der Verein unmittelbar in der Sozialpolitik. Tacheles ist sehr gut vernetzt und beteiligt sich an lokalen, regionalen und bundesweiten Initiativen zur Verbesserung der Lage von Menschen, die von Armut bedroht oder betroffen sind. Die Homepage des Vereins dient als Plattform für zahlreiche politische und rechtliche Informationen rund um das Thema soziale Sicherung. Tacheles schreibt Stellungnahmen zu Gesetzgebungsverfahren, Aktive des Vereins wurden als Sachverständige zu Bundestagsanhörungen geladen und waren zuletzt als sachverständige Dritte im Sanktionsverfahren beim Bundesverfassungsgericht beteiligt.
Manchmal könnte man den Eindruck bekommen, dass von bestimmter Seite ein regelrechter Kampf gegen die Armen geführt wird. Würden Sie dem zustimmen?
Selbstverständlich. Nichts anderes ist das Verhältnis der Reichen, Besitzenden im Verhältnis zu den Armen. Mit der Agenda 2010 wurde das Land grundlegend umstrukturiert, die bisherigen Sicherungssysteme von Arbeitslosengeld und -hilfe sollten abgeschafft werden, gesicherte Beschäftigungsverhältnisse durch Zeitarbeit, Befristung und Einführung der Minijobs in ungesicherte Verhältnisse umgewandelt werden. Parallel wurde das Hartz-IV-System mit absoluter Unterfinanzierung und dem Sanktionsregime installiert.
Hartz IV heißt Armut und Verfassungsbruch per Gesetz. Die Hartz-IV-Gesetze wurde zur Schaffung und Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland geschaffen.
In der Praxis ist das ein Kampf gegen die Armen.
Was müsste Politik unternehmen, um das Armutsproblem in Deutschland in den Griff zu bekommen?
Diese Frage können wir uns im derzeitigen politischen Kräfteverhältnis sparen. Es ist kaum zu erwarten, dass sich wesentlich etwas im „Armutsbereich“ ändert, solange die CDU/CSU weiter wesentlich das Kräfteverhältnis in diesem Land bestimmen.
Gleichzeitig ist es Aufgabe eines jeden Menschen und jeder Organisation, gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung vorzugehen, Rassismus, Antisemitismus und die Zusammenarbeit mit Rassisten und Nazis zu bekämpfen und für eine bessere, solidarische Welt sowie für Menschenrechte einzustehen. Das muss durch die Menschen gemacht werden.
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