Wie kommt es, dass ausgerechnet die Bevölkerungsgruppe, die am wenigsten gefährdet ist, schwer an Covid-19 zu erkranken, und ein Sterberisiko von null Prozent hat, am meisten unter den Corona-Maßnahmen leiden muss? Und dass eine Rückkehr zur Normalität, das heißt zur Kita (für alle), zur Schule (mit allen), zum Sportplatz, in die Musikschulen, zur Planung von Ferienfreizeiten usw. bislang nicht absehbar ist? Von Sandra Reuse und Dr. med. Silke Mettlin.
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Wie kommt es, dass Kinder die Letzten sind, die wieder in ein normales Leben zurückkehren dürfen? Dass sie, während die Bundesliga wieder spielen darf und Erwachsene in die Parks und Biergärten strömen, mit wildfremden Menschen Schlange stehen und sich in Kaufhäusern und U-Bahnen tummeln, weiter zu Hause bleiben und mit Erwachsenen spielen müssen? (Außer sie sind unter 12, ihre Eltern „systemrelevant“ und haben Notbetreuung beantragt, oder ihre Eltern erlauben und organisieren den Kontakt zu einer anderen Familie, was mittlerweile erlaubt ist).
Wie kommt es, dass ausgerechnet die Bevölkerungsgruppe, die am wenigsten gefährdet ist, schwer an Covid-19 zu erkranken, und ein Sterberisiko von null Prozent hat, am meisten unter den Corona-Maßnahmen leiden muß? Und dass eine Rückkehr zur Normalität, das heißt zur Kita (für alle), zur Schule (mit allen), zum Sportplatz, in die Musikschulen, zur Planung von Ferienfreizeiten usw. bislang nicht absehbar ist?
Vermutlich gibt es viele Gründe. Zum einen haben Kinder keine Lobby, sie können und konnten sich in den Wochen nach dem Beginn des Shutdowns kaum zu Wort melden. Auch ein Rezo hat erst spät geschimpft, und dem ging es vor allem um junge Erwachsene, die kurz vor dem Abitur standen. Im Gegensatz zu Kindern können ältere Jugendliche und Erwachsene jedoch selbstbestimmt die Wohnung verlassen und selbst entscheiden, wen sie sehen und was sie machen, sei es auch mit Abstand. Auch sind Kinder keine Wähler, ältere Menschen hingegen schon, und für die gelten Kinder als gefährliche Überträger des Virus.
Aber stimmt es denn überhaupt, dass Kinder „Virenschleudern“ sind, vor denen LehrerInnen, ErzieherInnen und Großeltern Angst haben müssen und um die Menschen auf der Straße einen Bogen machen sollten?
Rückblick: Am 10. März warnte der Virologe Christian Drosten, Institutsleiter der Berliner Charité, in einem Interview: “Die Kinder sollten bis September, Oktober nicht mehr zu Oma und Opa zur Betreuung gegeben werden.“ Am 13. März wurde verkündet, dass Schulen und Kitas ab der kommenden Woche geschlossen werden. Schulschließungen widersprechen jedoch dem Recht der Kinder auf Bildung (UN-Konvention der Kinderrechte, Art. 28) und haben für die Betroffenen erhebliche psychische und soziale Konsequenzen.
Bereits zu diesem Zeitpunkt lagen verschiedene Studien aus China vor, die zeigten, dass die Personengruppe der Kinder hinsichtlich SARS-CoV-2 nicht nur keine Risikogruppe darstellte, die Krankenhaus- oder gar Intensivkapazitäten belegen würde. Es gab auch bereits Hinweise auf eine möglicherweise nur geringe Rolle von Kindern beim Infektionsgeschehen, denen das Robert Koch-Institut (RKI) und andere Forschungsinstitute hätten nachgehen können. Angesichts der Tragweite der Entscheidungen für die Kinder hätte dies auch schnellstmöglich überprüft werden müssen. Doch dieser wissenschaftlichen Sorgfaltspflicht kam die Forschung nicht nach. Die Kinder verschwanden hinter den Wohnungstüren und fortan fragte erstmal niemand mehr nach ihnen.
Links zu den bereits seit Februar vorliegenden Studien aus China:
Dieser Studie zufolge erkrankte von allen nachweislich infizierten Kindern nur ein geringer Anteil.
Dieser Bericht fasst zusammen, dass trotz der exponentiellen Verbreitung des Virus in China bis Mitte Februar keine Übertragung von Kindern auf andere beobachtet wurden.
Hinweis für die Leser der NachDenkSeiten: Über diese und weitere wissenschaftlichen Hinweise einer möglicherweise geringeren Infektiösität von Kindern im Zusammenhang mit Covid-19 berichteten die NachDenkSeiten bereits ausführlich am 24. April in diesem Artikel.
Erst am 29. April veröffentlichte die Berliner Charité eine Studie, in der es auch um Kinder ging. Die Auswertung von 60.000 SARS-CoV-2-Abstrichen ergab, Kinder “könnten gleich ansteckend sein” wie Erwachsene. Diese Studie diente als Argumentationsgrundlage, um die Schulen und Kitas weiterhin geschlossen zu halten. Schaut man sich jedoch die Datenbasis und Ergebnisse genauer an, ist dies wenig nachvollziehbar: Getestet worden war keine repräsentative Bevölkerungsstichprobe, sondern Personen, die sich zu den Teststellen begeben hatten, weil sie Symptome einer Covid-19-Erkrankung verspürten oder wissentlich Kontakt zu einem Infizierten gehabt hatten. Von 4172 getesteten Kindern waren 48 als infektiös, also ansteckend für andere, eingestuft worden, das waren ganze 1,1 % der (Kinder-)Grundgesamtheit. Davon waren 11 Kinder im Kindergartenalter (0,6%), acht im Grundschulalter (0,1%) und 29 Jugendliche aus weiterführenden Schulen (1,3%). Die Forscher definierten eine Viruslast von >106 als infektiös, darunter galten Infizierte als vermutlich nicht ansteckend für andere. Die Studie der Charité findet sich unter diesem Link.
Waren und sind die Kita- und Schulschließungen möglicherweise überflüssig oder hätte es nicht zumindest gereicht, sie auf zwei bis drei Wochen zu begrenzen? Leiden möglicherweise Großeltern und Enkelkinder umsonst darunter, dass sie sich nicht sehen dürfen? Und die Eltern, dass sie auf diese alternativen Betreuungsangebote und das generationenübergreifende Zusammensein verzichten müssen? Und sind vor allem die strengen Kontaktverbote, die für Kinder zur Folge hatten, dass sie teilweise sieben bis neun (!!) Wochen lang keine anderen Kinder sehen konnten, nicht völlig unangemessen?
Möglicherweise hätte man das im Februar oder März noch nicht wissen können. Aber es hätte zumindest ein Versuch unternommen werden können, diese Fragen wissenschaftlich zu überprüfen, beispielsweise indem reihenweise Kinder durchgetestet werden, sowie durch systematische Beobachtung, wie viele Kontaktpersonen im Haushalt infizierter Kinder sich anstecken. Auch wäre es am Anfang der Pandemie in Deutschland gut möglich gewesen, die Infektionsketten direkt bei den ersten positiv getesteten Familien nachzuvollziehen. Zum Beispiel wurde bei den Mitarbeitern der Firma Webasto aus Stockdorf (Kreis Starnberg) lediglich die Infektion eines Familienvaters auf seine Kinder beobachtet, jedoch gab es keine Berichte über weitere Infektionen bei Freunden der Kinder.
Stattdessen wurden Forscher, die auf die Schnelle versuchten, eigene empirische Daten zum Infektionsgeschehen in Deutschland zu generieren, stark kritisiert. Die Rede ist von der vieldiskutierten „Heinsberg-Studie“ unter Leitung des Bonner Virologen Hendrik Streeck. So ging in der nordrhein-westfälischen Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg ein Forscherteam von Tür zu Tür und entnahm Rachenabstriche aller Haushaltsmitglieder und sogar der Haustiere, nachdem bei einer Karnevalssitzung viele Menschen in diesem Ort an Covid-19 erkrankt waren.
Ein Ergebnis, das in Bezug auf die Kinder hätte aufhorchen lassen können und das bereits bei der Pressekonferenz zu den Zwischenergebnissen der Studie am 10. April genannt wurde: In Haushalten mit Infizierten steckten sich längst nicht alle Familienmitglieder an, obwohl Abstand halten zu Hause doch kaum möglich ist. Leider ging dieser Aspekt, der auch bei der Veröffentlichung der Endergebnisse der Heinsberg-Studie bestätigt wurde, in der massiven Kritik, die im Anschluss an die PK an Professor Streeck und seinem Team geäußert wurde, völlig unter. Der Virologe hatte eine sehr viel niedrigere Sterblichkeitsrate für Deutschland prognostiziert, als es bislang das RKI getan hatte, und geraten, bei einer Lockerung der Kontaktverbote vor allem die Risikogruppen besser zu schützen. Da aber die gesamte Debatte um die Gefährlichkeit von Sars-CoV-2 stark polarisierend geführt wurde – hier die „Leugner“ und „Impfgegner“ und dort die „Experten“, die sich vor allem auf die Gefahren durch Covid-19 konzentrierten – wurden die Belange der Kinder und ihrer Eltern – mal wieder – nicht aufgegriffen.
Die Endergebnisse der Heinsberg-Studie, die am 4. Mai der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, bestätigten das überraschende Ergebnis der geringeren Gefahr einer sekundären Infektion im Haushalt: Während das grundlegende Risiko in der Gemeinde Gangelt, sich mit dem Virus zu infizieren, nach dem Superspreading-Event der Karnevalssitzung bei 15 % lag, betrug das Risiko einer zweiten Person im Haushalt, sich bei eine/r oder eine/m Infizierten anzustecken, 43,6 %, bei drei Personen im Haushalt betrug es 35,7 % und bei vier Personen betrug es lediglich 18,3 %. Die Ergebnisse der Heinsberg-Studie finden sich unter diesem Link.
All diese Hinweise und noch mehr (wie etwa Berichte aus Australien, Frankreich und Island) reichen offenbar nicht aus, um die einmal getroffene Einschätzung, Kinder seien „Virenschleudern“, in der Öffentlichkeit zu revidieren. Sie reichten aber eben auch nicht aus, um zu der Gefahr, die von Kindern im Zusammenhang mit Sars-CoV-2 ausgeht, rechtzeitig und zielgruppenspezifisch zu forschen.
In den Studien, die bislang vorliegen, war der weit überwiegende Übertragungsweg der von Erwachsenen auf Kinder und nicht umgekehrt. Für die Übertragung von Kindern auf Kinder liegen nach wie vor nur wenige Daten vor. Ein aktueller Artikel im „Ärzteblatt“ (Coronakrise: Kinder haben das Recht auf Bildung) bestätigt dies.
Bereits am 13. April hat die Leopoldina vor einem massiven Rückgang der Lernleistungen sowie der Verschärfung der sozialen Ungleichheit gewarnt und zur Wiedereröffnung von Grundschulen und Sekundarstufe I geraten. Das ist jetzt über einen Monat her und trotzdem sind die Grundschulen und weiterführende Schulen noch immer in den meisten Bundesländern geschlossen bzw. maximal stundenweise für kleine Schülergruppen geöffnet. Klassenverbände und Freundschaften werden auseinandergerissen und die Kinder müssen sich akribisch an Hygiene- und Abstandsregeln halten, statt miteinander zu toben.
Wenn aber Kinder durch das Virus wenig gefährdet sind, jedoch andere mit dem Virus nur selten anstecken, entfällt jegliches Argument, sie nicht wenigstens in kleinen Gruppen „normal“ zusammenzulassen. Der direkte und indirekte Schaden hinsichtlich der körperlichen und psychosozialen Gesundheit der Kinder, der durch die Schulschließungen und den Wegfall der Ganztagsbetreuung entstanden ist, dürfte allen wissenschaftlichen Hinweisen zufolge, die bis heute vorliegen, sehr viel größer sein als der Nutzen für die Gesellschaft.
Eine aktuelle Petition fordert unter diesem Link eine schnelle Wiedereröffnung von Schulen und Kitas für alle sowie die Möglichkeit, Ferienfreizeiten zu planen.
Über die Autorinnen:
Sandra Reuse ist gelernte Wissenschaftsjournalistin und beschäftigt sich seit Beginn des Lockdowns mit den Auswirkungen der Kontaktverbote für Kinder sowie mit der wissenschaftlichen Evidenz für die Notwendigkeit dieser Maßnahmen.
Dr. med. Silke Mettlin hat eine Frauenarztpraxis in Frankfurt und erlebt täglich, wie sehr Mütter und Kinder unter dem Wegfall von Schule und Kita leiden und belastet sind; weswegen sie ebenfalls seit Wochen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Infektiosität von Kindern im Zusammenhang mit Covid-19 sammelt und prüft.
Titelbild: Sharomka / shutterstock.com
Anmerkung: Eine Formulierung zur “Charité-Studie“ wurde geändert.