„Liebe Landsleute, wir wünschen Ihnen frohe Osterfeiertage, die hoffentlich viele von Ihnen bereits in Deutschland oder auf dem Weg dorthin verbringen. Gleichzeitig wollen wir mit diesem Brief Allen, die sich immer noch kurzzeitig in Brasilien aufhalten (z.B. im Rahmen touristischer Aufenthalte, Praktika, Freiwilligenprogramme) erneut dringend anraten, umgehend nach Deutschland zurück zu fliegen“, twitterte Georg Witschel, deutscher Botschafter in Brasilien, bereits am 9. April und begründete seine Warnung mit einem Brief über die aufkommende Corona-Katastrophe. „In Brasilien steigt die Zahl der mit dem COVID-19-Virus Infizierten, der ernsthaft Erkrankten und der Todesopfer extrem stark an. Aufgrund dieser Entwicklung muss befürchtet werden, dass sich die Situation hier rasch weiter zuspitzt. In einigen Bundesstaaten sind die Gesundheitssysteme schon jetzt stark ausgelastet.“ Von Frederico Füllgraf.
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Mit einem kurzen, aber energischen Aufruf schloss sich der britische Botschafter Vijay Rangarajan am darauffolgenden Tag der Aufforderung an: „British Nationals travelling through Brazil, our advice is for you to return to the UK immediately. There are flights available this weekend…”. Einen weiteren Tag später meldete sich die Botschaft Italiens. Die Regierung in Rom fordere ihre Bürger dazu auf, Brasilien „dringend“ zu verlassen.
Nach den USA ist Brasilien das Epizentrum der Pandemie auf der südlichen Halbkugel
Zu diesem Zeitpunkt registrierten die staatlichen Gesundheitsämter in Brasilien bundesweit 19.943 Infizierte und 1.074 Tote. Fünf Wochen später meldete die offizielle Pandemie-Statistik 255.200 Infizierte und 16.838 Tote; also das 10-Fache an Neuinfektionen und das 16-Fache an Toten – Tendenz steigend. Brasilianische Wissenschaftler der Fachgruppe „Covid-19 Brasil“ schätzten nämlich die tatsächliche Anzahl der Coronavirus-Fälle in Brasilien auf 1,6 Millionen, darunter allein 526.000 Infektionen im bevölkerungsreichsten und entwickeltesten Bundesstaat São Paulo. Die Statistik und ihre wissenschaftliche Ermittlung wurden am 7. Mai auf der Website der Gruppe veröffentlicht. Es ist bekannt, dass es in ganz Brasilien eine gewaltige Dunkelziffer von Fällen gibt, da nur akute Fälle von Patienten gemeldet werden, die in Krankenhäuser gehen. „Aber wie groß ist diese Verzerrung der Realität?“, hinterfragte Domingos Alves, Sprecher der Forschergruppe.
In Manaus, der Landeshauptstadt des brasilianischen Amazoniens, glich das Massensterben bereits im Monat April dem Dominoeffekt. Kaum Testdurchführungen, mangelnde Schutzausrüstungen, überforderte und massenweise angesteckte Ärzte und Krankenpfleger, kollabierte Krankenhäuser, ausgelastete Bestattungsunternehmen, Leichen über Leichen. Makabre Bilder von ausgehobenen Massengräbern gingen durch die Weltmedien. Die meisten Angehörigen der Toten erfuhren nicht einmal vom Dahinscheiden ihrer Familienmitglieder, es gab keine Totenwache und nur selten durften jene Familien, die vom Tod erfahren hatten, sich aus sanitären Gründen von ihren Lieben auf den improvisierten Friedhöfen verabschieden.
Mit persönlichen Schicksalsschlägen wie dem der 76-jährigen Maria Nunes Sinimbu, die in wenigen Wochen 5 Familienmitglieder als Opfer des Virus verlor. Oder der Infizierung von hunderten von Indianern durch Landräuber, denen nach einer jüngsten Verordnung des brasilianischen Präsidenten die Inbesitznahme von den Indianern verfassungsmäßig zugestandenem Territorium für Bergbau und Viehzucht erlaubt wird. An sich eine als kriminelle Handlung anmutende und inakzeptable Entscheidung Bolsonaros, worauf der in Paris lebende und 2019 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete brasilianische Starfotograf Sebastião Salgado mit der Ausrufung einer weltweiten Kampagne zum Schutz der Amazonas-Indigenen reagierte, die es verdient, mit einem Sonderbericht vorgestellt zu werden.
Mit São Paulo tritt die humanitäre Katastrophe in Manaus mit Geschichten und Bildern in Szene, die man zuvor nur aus Kriegsberichten oder SciFi-Klassikern kannte. Manaus‘ Bürgermeister Arthur Virgilio wandte sich mit einem dramatischen Appell an Präsident Jair Bolsonaro. „Respektieren Sie die soziale Isolation, bleiben Sie zu Hause! Helfen Sie, das Leben vieler Ihrer Landsleute zu retten! Denken Sie an die mehr als 50 Millionen Wähler, die Ihnen das Vertrauen im Hinblick auf eine glänzende Zukunft Brasiliens geschenkt haben, aber nicht um es in den Abgrund zu stürzen…“.
Sollten Virgilios nur schwerlich unterdrückte Tränen von Kopfmenschen als weinerliche Fernseh-Inszenierung abgetan werden, was sagt ihnen dann ihre Seele zur Reaktion Bolsonaros auf das Massensterben? Von lokalen Medien darauf angesprochen, zuckte das Staatsoberhaupt demonstrativ mit den Schultern und erwiderte: „Na und? … Ich heiße zwar Messias, ich vollbringe aber keine Wunder!”. Bolsonaro nannte Bürgermeister Virgilio einen „Spinner“ und brach eine unzeitgemäße und widerliche Intrige über Virgilios Vater – „Sie wissen doch Bescheid, was das für einer war!“ – vom Zaun, der von der Militärdiktatur verfolgt worden war, der Bolsonaro seinerzeit als Soldat gedient hatte.
Das war Ende April. Als die Infiziertenzahl allein im Bundesstaat Amazonas 20.000 Positiv-Fälle anzeigte und außer Beschimpfungen keinerlei Hilfe von der Zentralregierung geleistet wurde, ging der Bürgermeister zwei Wochen später zum Gegenangriff über, blieb aber in der Covid-Sache. Bolsonaro sei „ein kompletter Nichtsnutz, ein Versager”, und Virgilio beschuldigte den Präsidenten, ein „indirekter Mörder“ zu sein, weil er die Menschen dazu aufhetze, auf die Straße zu gehen und sich der sozialen Isolation – „die beste Waffe gegen Covid-19″ – zu widersetzen.
„Schließt die Grenzen!“
Gute 5.000 Kilometer Luftweg südlich gelegen, lösten die Zahlen der brasilianischen Katastrophe nicht nur im sozial streng isolierten Buenos Aires, sondern auch in Paraguay und Uruguay Alarm aus. „Offensichtlich ist es ein sehr großes Risiko … Lastwagen aus Brasilien kommen zu uns mit Fracht aus Sao Paulo, einem der am stärksten infizierten Orte des Landes”, warnte Präsident Alberto Fernández in einem Interview mit Radio con Vos. Uruguays Regierungssekretär Álvaro Delgado gestand Besorgnis ein und verkündete eine Verschärfung der Gesundheitskontrollen an der Grenze zu Brasilien. Der konservative paraguayische Präsident Mario Abdo Benítez befahl gar, die militärische Kontrolle an den Hauptgrenzübergängen zu verdoppeln, um die Einreise von Covid-19-Patienten aus Brasilien zu verhindern.
Berechtigte Sorge und Kritik der Nachbarn mit ihrer erfolgreichen Virus-Bekämpfung eskalieren allerdings zu Irritationen und Beschimpfungen. Ein Moderator des Fernsehsenders C5N griff Bolsonaro an, als er die Infizierungsfälle in südamerikanischen Ländern verglich. „Achten Sie auf die argentinische Grenze, denn heute hat der Idiot Bolsonaro den Gesundheitsminister entlassen und wird einen neuen einsetzen, der nur ´Ja´ sagt. Es ist notwendig, die argentinische Grenze zu Brasilien zu schließen”, warnte der Fernsehmann.
Inzwischen reichten Vertreter brasilianischer Menschenrechts-Organisationen und der Zivilgesellschaft Klage bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ein. Während einer zweistündigen, virtuellen Konferenz Anfang Mai wurden haarsträubende Verstöße der Regierung Bolsonaro im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gegen die brasilianische Gesellschaft, insbesondere gegen die ärmsten und am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen gemeldet. Die IACHR nahm die Klage an.
Pandemie-Leugnung und Eugenik
„Der Präsident nimmt eine Haltung ein, die widerwärtige Gefühle widerspiegelt. Es handelt sich um einen Autokraten, der versucht, die Demokratie zu zerstören. Er ist autoritär, gewalttätig, unfähig, ungebildet. Es wird sehr deutlich, dass diese Person für die Nation gefährlich ist“, erklärte Miguel Srougi, Arzt am Vila-Nova-Star-Krankenhaus und Professor an der Universität Sao Paulo, auf die Frage, was er von Bolsonaros Entlassung von zwei Gesundheitsministern in weniger als einem Monat halte.
Srougi, bei dem mehrere Staatsoberhäupter in Behandlung waren, nahm kein Blatt vor den Mund. Bolsonaro „zerstört die Nation und tötet Brasilianer”; Menschen, die auf der Straße sterben, ohne dass er eine mitfühlende Geste zeigt. Er erfindet Feinde, um dagegen kämpfen zu können. In Abwesenheit wirklicher Feinde kritisiert er alle, um Unruhen zu erzeugen“. Srougi weiß, wovon er redet. Brasilien hat bereits mehr Pflegefachkräfte durch das Coronavirus verloren als Italien und Spanien zusammen. Der Mangel an Schutzausrüstung und Krankenhaus-Infrastruktur trägt zu einer hohen Sterblichkeit bei. Seit Ausbruch der Pandemie im Lande wurden 10.000 (zehntausend!) infizierte Krankenpfleger vom Dienst entfernt und 88 starben bis Anfang Mai an den Folgen von Covid-19.
Arnaldo Lichtenstein, Direktor der Universitätsklinik São Paulo, ging in einem Fernsehinterview vom vergangenen 11. Mai einen Schritt weiter. Der renommierte Mediziner warf Jair Bolsonaro nicht nur „Negationismus der Wissenschaft”, sondern eine perverse Strategie der programmierten Eugenik, also der Bevölkerungsauslese, vor.
Seit Ausbruch des Virus sprach Bolsonaro von der sogenannten „Herdenimmunität“ und erklärte, 70 Prozent der Brasilianer würden „sowieso“ infiziert. Die Epidemiologie definiert das fragwürdige und lebensgefährliche Phänomen als „eine indirekte Schutzform vor ansteckenden Krankheiten, bei der ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung durch Infektion oder Impfung bereits immun geworden ist und die Ausbreitungsmöglichkeiten des Erregers mindert. Dieser „Logik“ folgend, errechneten Forscher der Universitäten Sao Paulo und Brasilia, das Land könnte in kurzer Zeit 1,8 Millionen Covid-19-Todesfälle erleiden. Was den Mediziner Lichtenstein an Praktiken des deutschen Nazi-Regimes erinnerte: „Dies nennt man Eugenik. Wenn Sie sagen, dass ´die weniger robusten Menschen sterben, damit wir eine gesunde Generation haben´, dann ist (Bolsonaros) Satz, ´wir werden diese Folter bald beenden und nicht hinnehmen, dass die Wirtschaft dahinschmilzt´, von dieser Logik durchdrungen“.
Verschwörungs-Legenden, Todeskult und bewaffnete Milizen
Doch was tat Jair Bolsonaro bisher als Regierungschef zur Eindämmung der Virose und was ist ihm grundsätzlich vorzuwerfen?
Wie bereits Ende März auf den NachDenkSeiten berichtet, bezweifelte der brasilianische Staatschef von Anbeginn die Gefährlichkeit von Covid-19, dessen Wirkung er mit Phrasen und Wortschöpfungen wie „ein kleines Schnüpfchen“, „Hysterie der Medien“ und „Fantasie“ kleinredete. Als politische Begleitmaßnahme rief jedoch Bolsonaros ideologischer Bunker – insbesondere das von seinen Söhnen im Regierungspalast Alvorada installierte, sogenannte „Gabinete do ódio“ (Hass-Kabinett) – gleichzeitig zur Mobilmachung der militanten Anhängerschaft auf. Als dramaturgischen Trick kreierte der Präsident obendrein eine Art persönliche Zirkusarena – Absperrungen unter freiem Himmel vor dem Regierungspalast – in der er tagtäglich auftritt, wütende Tiraden gegen die Medien zündet, infame Lügen verbreitet und die hinter der Absperrung herbeigerufene, Beifall zollende, rechtsradikale Meute anfeuert.
Das Nachrichtenportal UOL errechnete, dass Bolsonaro in den zwei Monaten seit Ausbruch der Pandemie mindestens 62 Treffen mit seinen Anhängern, Ausflüge in Supermärkte und Gebete mit Unterstützern gegen die sanitären Richtlinien seiner eigenen Gesundheitsminister und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) abhielt. Zumeist provokativ, ohne Mund- und Nasenschutz, was von seinen Mitläuferinnen und Mitläufern systematisch nachgeahmt wurde, inzwischen jedoch Dutzende Negationisten mit dem Virus in Krankenhäuser beförderte. Einige Schätzungen gehen davon aus, dass der Präsident mit seinen Auftritten und Aufrufen zur Missachtung der Sanitärmaßnahmen für mindestens 10 Prozent der Ansteckungsfälle direkt verantwortlich ist.
So verrückt es sich liest und anhört, doch nach der anfänglichen und bitter bestraften Virus-Leugnung griff das Bolsonaro-Regime sodann zur Übernahme der Trump‘schen Legende von der angeblichen „Schuld Chinas“ an der Pandemie. Die Legende wurde jedoch radikalisiert und in eine noch hirnverbranntere Verschwörungstheorie von Brasiliens Außenminister Ernesto Araujo umgewandelt: Covid-19 sei ein „kommunistisches Virus“. Der Kommunismus nutze die Krise und den Aufruf zur Solidarität, um seine Ideologie mit der Stärkung internationaler Organisationen wie der WHO umzusetzen, so Araujo.
Angetrieben von Negationismus und Wahnvorstellungen, betreibt das Bolsonaro-Regime seit zwei Monaten lupenreine Sabotage der inländischen und weltweit empfohlenen Sanitärmaßnahmen. Mit der Hinauszögerung selbst des ohnehin lächerlichen Hilfsbonus von maximal 100 Euro befördert es obendrein Millionen Brasilianer, die aus der vorgeschriebenen sozialen Isolierung ausbrechen und notgedrungen einer Arbeit nachgehen müssen, in die Massenansteckung und in den Tod.
In diesem Zusammenhang erinnerte das kritische US-Magazin Salon an den freiwilligen Tod von über 300 Jüngern des paranoiden Weltuntergangspriesters Jones im Jahr 1978 in British Guyana und fragte, „Ist Jair Bolsonaro, Brasiliens rechter Präsident, der neue Jim Jones? Der brasilianische Staatschef verwendet Todeskult-Rhetorik, entlässt Gesundheitsexperten und weigert sich, eine vermeidbare Pandemie zu bekämpfen“.
Doch es blieb nicht bei der Entlassung der Gesundheitsminister Henrique Mandetta und Nelson Teich, die sich beide weigerten, das Chloroquin mit lebensgefährlichen Nebenwirkungen als Covid-19-“Kurmittel“ zu verschreiben, das inzwischen millionenfach von einem Labor der Streitkräfte hergestellt wird und fette Profite verspricht.
Bolsonaros „Hasskabinett“, das hunderttausende Roboter in sozialen Medien gegen die Feinde der Stunde betreibt und hanebüchene fake news verbreitet, hatte inzwischen die faschistische Basis mit der Idee befeuert, bewaffnete Milizen aufzustellen, deren bekannteste Gruppe „Brasiliens 300“ vor dem Heeres-Hauptquartier in Brasilia ein Lager aufschlug, in dem Waffenkundige (Militärs?) der Meute das Schießen beibrachten. Eine Sprecherin der Gruppe verkündete, ihr Ziel sei die „Ausrottung der Linken“. Die Staatsanwaltschaft reichte Klage wegen Aufstellung illegaler Milizen ein.
Bewaffnete „Sturmabteilungen“ sollen im Kalkül des Bolsonaro-Clans – im Hintergrund heimlich bestärkt von einem Dutzend Generälen und nicht weniger als 2.000 Offizieren niederer Ränge in der gesamten Staatsverwaltung – offenbar die rechtsradikale Wählerbasis, die nach wie vor 30 Prozent der berechtigten Wähler ausmachen soll, vor Abbröckeln und Abwanderung abschrecken.
Sicher. Es liest sich alles wie das unglaubliche Drehbuch eines Horrorfilms. Doch der brasilianische Bolsonarismus übertrifft zurzeit jede Fiktion.
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