Die Machtelite – Rezension eines soziologischen Klassikers

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Der Westend-Verlag hat das Werk „Die Machtelite“ des US-amerikanischen Soziologen C. Wright Mills neu aufgelegt. Dieser Klassiker der amerikanischen Soziologie erschien erstmals 1956. Ein Buch, dessen Lektüre sich auch heute noch lohnt, meint Udo Brandes. Er hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen.

Als ich Politik studierte, besuchte ich im 2. Semester ein Seminar über die Soziologie Max Webers. Mich interessierte vor allem, was er über Macht zu sagen hatte. Weil mich das Thema „Macht“ überhaupt grundlegend interessiert. (Warum auch studierte man sonst Politikwissenschaft?) Deshalb hat es mich gefreut, dass der Westend-Verlag diesen Klassiker der Machtsoziologie, den ich noch nicht kannte, neu auflegte. Bei der Lektüre stellte ich dann auch noch fest, dass Mills Macht mit Webers klassischem Begriff definiert: „Macht ist die Chance, den eigenen Willen auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen.“ So konnte ich bei der Lektüre quasi einen biografischen Bogen schließen.

Mills Werk mit insgesamt 574 Seiten (inklusive Vorwort) ist kein Buch, das man wie einen Roman in einem Zug durchliest. Sondern eher ein Buch, das man immer wieder zur Hand nimmt, weil einen das Thema „Machtelite“ interessiert und beschäftigt (siehe dazu auch das Inhaltsverzeichnis am Ende der Rezension).

Warum einen soziologischen Klassiker aus dem Jahr 1956 lesen?

Aber warum sollte man für dieses Interesse ausgerechnet ein Buch lesen, dessen Forschungsstand das Jahr 1956 ist? Und das die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Machtelite eben dieser Zeit porträtiert? Was nützt einem dies heute noch?

Nun, zum einen haben sich die Verhältnisse nicht so grundlegend verändert. Von mancher Zeile aus Mills Werk könnte man meinen, sie sei in diesen Tagen geschrieben worden. Zum anderen lohnt es sich, aus demselben Grund Mills zu lesen, aus dem es sich auch heute noch lohnt, den großen Soziologen Max Weber oder Karl Marx zu lesen: Weil sie Grundlegendes beschrieben haben, das weit über den Tag hinaus Bedeutung hat. Um ein Beispiel zu nennen: Viele Experten hielten es für praktisch ausgeschlossen, dass Donald Trump die letzte Wahl zum US-Präsidenten gewinnen könnte, weil er sich vollkommen konträr zu den Rollenerwartungen an einen Präsidenten bzw. Präsidentschaftskandidaten verhielt. Vielleicht hätte sie ein Blick in Mills Werk vorsichtiger gemacht. Er schreibt:

„Während die meisten Menschen die ihnen zugewiesene Rolle genauso spielen, wie es ihrer Stellung entsprechend von ihnen erwartet wird, ist gerade die Elite in ihrem Verhalten nicht durch die Rolle gebunden und lässt sich häufig auch nicht durch sie binden. Die Elite kann die Gesellschaftsstruktur und ihre eigene Rolle in ihr oder die Art und Weise, wie sie diese Rolle spielen soll, in Frage stellen“ (S. 75).

Er erläutert diesen Satz mit verschiedenen Beispielen. Unter anderem mit diesem:

„Und es war keine ‚historische Notwendigkeit’, dass eine Atombombe auf Hiroshima geworfen wurde, sondern ein Mann namens Truman fasste mit einigen anderen gemeinsam diesen Entschluss“ (S. 75).

Mills Erkenntnisse sind auch heute noch aktuell

Ich finde, genau diese beiden Zitate sollten sich alle diejenigen hinter die Ohren schreiben, die allen Ernstes glauben, dass ein US-amerikanischer Präsident nicht auf die Idee kommen könnte, einen Atomkrieg zu beginnen. Wenn man dies vielleicht Barack Obama hätte unterstellen können: Diese Vernunft auch Trump zu unterstellen, ist meines Erachtens hochgradig leichtsinnig. Und eines ist sicher: Bei einem atomaren Krieg der USA haben wir die allerbesten Chancen, als allererste komplett ausradiert zu werden, solange die US-Atomraketen bei uns stationiert sind. Deshalb, man kann es wirklich nicht anders formulieren, ist die Befürwortung der Stationierung von US-Atomraketen in Deutschland bzw. Europa, wie sie in großen Teilen der politischen Klasse inklusive der Medien vertreten wird, schlichtweg kompletter Wahnsinn und ein totaler Realitätsverlust. Und ich finde es schon geradezu pervers, dass diese extrem riskante Politik mit dem Begriff „nukleare Teilhabe“ regelrecht verniedlicht wird (Eine Randbemerkung: Wer sich näher mit dem Thema der politischen Unvernunft beschäftigen möchte, dem sei das Buch „Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft“ des leider schon verstorbenen Berliner Politologen Ekkehart Krippendorff empfohlen; dieser analysiert darin, wie eigentlich diese Logik der Unvernunft zustande kommt).

Genau dieser Punkt, die atomare Rüstung der USA, ist im Übrigen auch die wesentliche Motivation von Mills zu seinen Forschungen über die Machtelite:

„Zwar sind dem Willen von Menschen stets Grenzen gesetzt, doch niemals zuvor waren diese Grenzen soweit gezogen wie heute, weil eben die ihnen in die Hand gegebenen Machtmittel nie zuvor so ungeheuerlich groß waren. Aus diesem Grunde ist unsere Situation so gefährlich, und deshalb ist ein Verständnis der Macht der amerikanischen Elite und ihrer Grenzen so außerordentlich wichtig. Die Eigenart und Machtfülle dieser Elite zu erörtern, ist heutzutage die einzige ernsthafte und realistische Möglichkeit, das Problem der verantwortlichen Regierung neu aufzuwerfen“ (S.76).

Und das gilt natürlich genauso heute. Nicht nur in Bezug auf die Möglichkeit eines Atomkrieges, sondern auch auf die Möglichkeit, die Lebensgrundlagen von Menschen auf der Erde auch ohne Krieg zu zerstören (Ich meine den Klimawandel und die ökologische Krise).

Prägnante Ideologiekritik an den Mythen der Machtelite

Auch die Ideologiekritik spielt in Mills Buch eine große Rolle:

„Wer Vorteile hat, will meist nicht wahrhaben, dass er nur zufällig Vorteile genießt. Viel lieber sieht er sich als einen Menschen, der solcher Vorteile wert ist, der verdient, was er besitzt. Er glaubt dann sogar, er gehöre ‚von Natur aus’ zur Elite, und nimmt schließlich an, dass seine Besitztümer und Vorrechte nur die natürlichen Zugaben sind, die sich aus seiner Zugehörigkeit zur Elite sozusagen von selbst ergeben. (Ich habe mal in einem Artikel über Donald Trump gelesen, dass er tatsächlich exakt so denkt; UB) In diesem Sinne liegt dem Gedanken, dass die Elite aus Menschen vornehmen Wesens und höherer Moral besteht, eine Ideologie zugrunde, welche die Elite als privilegierte, herrschende Klasse begreift, wobei es gleichgültig ist, ob diese Ideologie von der Elite selbst stammt oder eigens für sie von anderen erfunden wurde“ (S. 62).

Machtelite: Wer ist das?

Aber wer genau ist die Machtelite? Wer gehört nach Mills Analyse dazu? Er schreibt:

„Will man die Macht der amerikanischen Elite begreifen, so genügt es weder, von der geschichtlichen Bedeutung der Zeitereignisse auszugehen, noch darf man sich auf die Selbsteinschätzung der Männer verlassen, die offenkundig Entscheidungsgewalt haben. (Mills spricht in Zusammenhang mit der Machtelite ganz selbstverständlich immer nur von Männern, was seinerzeit, 1956, sicherlich eine objektiv zutreffende Tatsache war, sprich: dass Frauen damals nicht oder nur ausgesprochen selten Teil der Machtelite waren; UB) Hinter diesen Männern und den geschichtlichen Ereignissen stehen verbindend die großen Institutionen der modernen Gesellschaft: der Staat, die Wirtschaft und die Streitkräfte. Sie stellen heute die eigentlichen Machtmittel dar, und sie sind als solche von größerer Bedeutung als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die Kommandostellen an der Spitze dieser Hierarchien sind es, die uns den Schlüssel zum soziologischen Verständnis der Rolle liefern, die die gehobenen Kreise in den Vereinigten Staaten spielen. In der amerikanischen Gesellschaft sind Wirtschaft, Politik und Militär die eigentlichen Machtzentren“ (S. 51-52).

Mit anderen Worten: Nach Mills muss, wer in der amerikanischen Gesellschaft ernsthaft Macht ausüben will, in eine dieser Kommandostellen gelangen. Man fragt sich: Fehlen hier nicht die Universitäten? Und vor allen Dingen: die Medien? Mills betont ausdrücklich, dass die Universitäten nicht entscheidend seien. Und die Medien hat er gar nicht sonderlich thematisiert. Es stellt sich die Frage: Kann ein US-Präsident tatsächlich gegen die Medien regieren? Hat nicht zuletzt die Watergate-Affäre gezeigt, dass die Medien ein wichtiger Machtfaktor sind? Ja. Aber die Erfahrung mit Donald Trump zeigt eben auch, dass ein US-Präsident sehr wohl auch gegen die Medien regieren kann. Erst recht in Zeiten von Facebook, Twitter und Co.

Erfolg: Gesellschaftliche Faktoren wichtiger als Charaktereigenschaften

Ich erwähnte es schon weiter oben: Mills Buch über die Machtelite ist auch eine Kritik der Ideologie der Machtelite. Er kritisiert schon 1956 die individualisierenden neoliberalen Mythen, die den Erfolg der Machtelite und von Aufsteigern in die Machtelite als Ausdruck von persönlichen Charaktereigenschaften deuten:

„Vielleicht hatte J.P. Morgan (Gründer des gleichnamigen Bankhauses; UB) wirklich als Kind Minderwertigkeitskomplexe, vielleicht hat sein Vater wirklich geglaubt, aus ihm würde nichts. Vielleicht haben diese Umstände in ihm tatsächlich seinen ungewöhnlichen Drang nach der ‚Macht um der Macht willen’ geweckt. Doch das alles wäre unwesentlich, wenn Morgan in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in einem indischen Dorf am Rand des Dschungels aufgewachsen wäre. Zum Verständnis der Superreichen müssen wir vor allem die wirtschaftliche und politische Struktur der Nation untersuchen, in der sie so reich werden konnten“ (S. 164).

Und im letzten Kapitel „Die höhere Unmoral“ charakterisiert Mills die Machtelite wie folgt:

„Die herrschenden Kreise Amerikas erheben den stolzen Anspruch, dass ihre Mitglieder den Aufstieg nur ihrer eigenen Tüchtigkeit zu verdanken haben. Das ist ihre Selbsteinschätzung wie auch ihr eigens erfundener Mythos. Der Bevölkerung sucht man das durch Anekdoten und Biografien glaubhaft zu machen“ (S. 469).

Wenn Erfolg mit Reichtum gleichgesetzt wird

Warum es uns allen schadet, wenn eine Gesellschaft ihre Institutionen nur noch profitorientiert organisiert, das erleben wir nicht nur durch die aktuelle Coronakrise, das hat auch Mills sehr schön auf den Punkt gebracht:

„In einer Gesellschaft, deren Mitglieder nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, können keine Menschen mit Verantwortungsgefühl heranwachsen. Eine Gesellschaft, welche die Bedeutung des Wortes ‚Erfolg’ einengt, indem sie Erfolg mit Reichtum gleichsetzt und ein Versagen im Kampf um diesen Erfolg als Hauptsünde brandmarkt, also Geld zum absoluten Wertbegriff erhebt, bringt den rücksichtslosen Manager und das dunkle Geschäft hervor. Gesegnet sind die Zyniker, nur sie haben das Zeug zum Erfolg“ (S.468).

Resümee

Mills wurde nur 45 Jahre alt. Er starb an einem Herzinfarkt. Und trotz dieses frühen Todes hat er ein großes soziologisches Werk hinterlassen. Seine wissenschaftliche Karriere verfolgte er einerseits sehr zielstrebig und machtbewusst. Und auch erfolgreich. Unter anderem wurde er zum Professor an der Columbia University in New York berufen. Gleichzeitig war er aber in der Soziologie ein Außenseiter und Störenfried, der sich mit den Größen des Fachs anlegte. Sein Leben erinnert mich an die Biografie des berühmten französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der gesellschaftlich immer zwischen den Stühlen saß: nämlich seiner ländlich-provinziellen und kleinbürgerlichen Herkunftsklasse, und der schillernden Pariser Bildungs- und Machtelite, in die er aufgestiegen war. Aber genau dieses Außenseitertum und dieser, wie Bourdieu es nannte, „gespaltene Habitus“ (also die Verinnerlichung unterschiedlicher gesellschaftlicher Normen, Werte, Denk- und Wahrnehmungsweisen) versetzte ihn in die Lage, soziologische Erkenntnisse zu gewinnen, die der „geborenen Bildungselite“ verschlossen waren – und nicht selten dort auf großen Widerstand stießen. Auch Mills (1916 in Texas geboren) war als Sohn eines Versicherungsvertreters in gewisser Weise ein Außenseiter in seinem späteren wissenschaftlichen Umfeld. Dazu beigetragen hatte auch die Figur seines Großvaters, der, als Mills noch ein Kind war, hinterrücks erschossen wurde. Die Herausgeber schreiben dazu:

„Die Figur seines Großvaters, den er als Prototyp eines texanischen Cowboys betrachtet, wird für Mills zu einem Leitbild. Dessen Outsider-Leben und unabhängiges Denken übten eine große Anziehung auf ihn aus und formte sein Selbstbild als ‚geborener Unruhestifter’“ (S. 12).

Leider gehen die Herausgeber in ihrem Vorwort nicht näher auf diesen Großvater ein. Aber von diesem kleinen Makel abgesehen ist es ein sehr informatives Vorwort, das den Soziologen und Menschen Mills umfassend porträtiert.

Was Mills’ Buch grundsätzlich auch für Laien interessant macht: Er schreibt sehr allgemeinverständlich und lebendig. Was nun wirklich für Soziologen keine Selbstverständlichkeit ist. Trotzdem hätte er für meinen Geschmack auf etlichen Seiten schneller und pointierter auf den Punkt kommen können. Aber vielleicht ist diese Sichtweise auch eine journalistische Berufskrankheit: Wenn man täglich viele Informationen verarbeiten muss, dann will man schnell den wesentlichen Punkt hören. Längere Ausführungen kommen einem dann schnell umständlich vor. Vielleicht ist es darüber hinaus aber auch ein Symptom unserer Internetzeit: Eine gewisse Unfähigkeit zur geduldigen Konzentration. Man merkt dies ja auch, wenn man zum Beispiel einen alten Tatort-Krimi anschaut. Die kommen einem furchtbar langatmig vor, weil man heutzutage eine schnelle Erzählweise gewohnt ist.

Die gesamte Ausstattung des Buches – Schriftbild, Schriftgröße, Druck- und Papierqualität – ist hervorragend. Dies gilt ebenso für die textliche Ausstattung: Sowohl das Vorwort der Herausgeber als auch der Text von Mills umfasst einen detaillierten Anmerkungsapparat sowie eine ausführliche Literaturliste. Daneben gibt es ein Sach- und Namensregister, was heutzutage selbst in wissenschaftlichen Publikationen keineswegs mehr selbstverständlich ist. Das Buch wurde also sehr sorgfältig ediert.

Ich kann es allen empfehlen, die sich für das Thema „Macht“ mit allen seinen verschiedenen Aspekten interessieren. Da man im Rahmen einer Rezension eines so umfassenden Werkes sich immer nur auf einzelne Aspekte fokussieren kann, hier zur vertiefenden Information noch das Inhaltsverzeichnis des Originaltextes von Mills:

C. Wright Mills: Die Machtelite

An den Leser

  1. Die gehobenen Kreise
  2. Die Oberschicht der Provinzstädte
  3. Die oberen 400 der Metropolen
  4. Die Stars und Berühmtheiten
  5. Die Superreichen
  6. Die Topmanager
  7. Die Konzernreichen
  8. Die Kriegsherren
  9. Die militärische Vorherrschaft
  10. Das politische Direktorat
  11. Die Theorie vom Gleichgewicht der Kräfte
  12. Die Machtelite
  13. Die Massengesellschaft
  14. Die konservative Geisteshaltung
  15. Die höhere Unmoral

C. Wright Mills: Die Machtelite, hrsg. von Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. Klöckner, Westend Verlag, Frankfurt/Main 2019, 574 Seiten, gebunden, 29,99 Euro.

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