Was ist eigentlich Tiefenpolitik? Sind die USA ein Imperium? Was war nochmal der Iran-Contra-Skandal? Der Schweizer Historiker Daniele Ganser will mit seinem gerade erschienenen Buch „Imperium USA – die skrupellose Weltmacht“ insbesondere jüngere Leser zwischen 15-25 Jahren aufklären. In einem zweiteiligen Interview mit den NachDenkSeiten verdeutlicht der Forscher, dass er es versteht, auch das historisch Komplexe gut verständlich und nachvollziehbar zu erklären. Von Marcus Klöckner.
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Herr Ganser, warum haben Sie ein Buch verfasst, dass sich mit den USA auseinandersetzt?
Wer sich für internationale Politik und Zeitgeschichte interessiert, kommt um die USA nicht herum. Die USA sind derzeit das mächtigste Land der Welt. Die USA haben mehr Länder bombardiert als irgendein anderes Land und waren in den letzten 70 Jahren direkt oder indirekt in viele Kriege involviert, darunter Syrien, Libyen, Afghanistan, Irak, Nicaragua und Vietnam. Die kriegerische Außenpolitik der USA wollte ich systematisch ausleuchten, von den Indianerkriegen bis zu den verdeckten Operationen der CIA in Syrien.
Im Titel Ihres Buches kommen zwei Zuschreibungen vor: „Imperium“ und „skrupellos“. Woran machen Sie diese fest?
Als Imperium bezeichnen Historiker wie ich das mächtigste Land einer gegebenen Epoche. Vor 2000 Jahren hatten wir das römische Imperium. Im 19. Jahrhundert war das britische Imperium dominant. Heute sind die USA das Imperium, auch wenn das nicht offen gesagt wird. Die USA haben die höchsten Militärausgaben, die meisten Militärstützpunkte in fremden Ländern und die größten Rüstungskonzerne. Im Buch untersuche ich konkrete Fallbeispiele, wie zum Beispiel den US-Angriff auf Vietnam 1964 oder den US-Angriff auf Irak 2003 und ich kann jeweils nachweisen, dass die Öffentlichkeit angelogen wurde. Diese Kombination von Lüge und Gewalt ist skrupellos. Wiederholt hat die US-Regierung die eigene US-Bevölkerung belogen, zum Beispiel auch bei Iran-Contra, wie ich im Buch darlege. Zudem haben verschiedene US-Präsidenten, und zwar sowohl Demokraten wie Republikaner, in fremden Ländern Menschen getötet, was klar dem UNO-Gewaltverbot widerspricht, das Angriffskriege untersagt.
Wenn Sie von den USA sprechen, sollte man da vielleicht nicht erstmal differenzieren, da sonst die Gefahr besteht, sich auf die anti-amerikanische Schiene zu begeben. Das Land, die Leute, die Sprache: Es gibt vieles, was man an den USA durchaus toll finden kann. Was genau meinen Sie, wenn sie „die USA“ sagen? Die US-amerikanische Politik? Die US-amerikanische Machtelite?
Im Buch differenziere ich klar zwischen der US-Machtelite, welche für die vielen Kriege verantwortlich ist, und der US-Bevölkerung, welche viel zu lange alles geglaubt hat, was das Weiße Haus und das Pentagon sagten. Im Rückblick kann man erkennen: Es gibt keinen Grund, dem US-Präsidenten zu glauben, wenn er sagt, dieser oder jener Krieg sei notwendig. Viel zu oft wurde gelogen. Schon der Angriff der USA auf Mexiko 1846 beruhte auf Lügen, wie ich im Buch zeige. Damals schickte US-Präsident James Polk die US-Armee über den Nueces Fluss, der die Grenze zu Texas markierte, um die Mexikaner zu provozieren. »Wir wurden losgeschickt, um einen Kampf zu provozieren, aber es war wesentlich, dass Mexiko ihn begann«, erklärte damals der US-Offizier Ulysses Grant, der an den Kampfhandlungen teilnahm.
Sie haben Ihr Buch speziell für die Gruppe der 15- bis 25-Jährigen geschrieben. Warum diese Altersklasse?
Es stimmt, ich habe mein Buch so geschrieben, dass die 15- bis 25-Jährigen es lesen können. Es braucht also kein Vorwissen, um das Buch zu verstehen. Natürlich können auch alle Menschen bis ins hohe Alter mein Buch lesen. Aber für die Zukunft sind natürlich vor allem die Jungen entscheidend. Sie werden das 21. Jahrhundert gestalten. Viele der jungen Menschen fragen sich, warum es so viele Kriege gibt auf der Welt. Da möchte ich an konkreten Beispielen zeigen, dass eine kleine Gruppe von Menschen immer wieder zu Lüge und Gewalt gegriffen hat, um mehr Geld und mehr Macht anzusammeln.
Sie spannen in Ihrem Buch einen sehr weiten Bogen. Es geht los bei den Indianerkriegen von 1607, zieht sich über die Zeit der Sklaverei, den 1. und den 2. Weltkrieg, die verdeckte Kriegsführung der 50er, 60er, 70er Jahre, bis der Leser schließlich beim 11. September und dem aktuellen Kampf um Eurasien angelangt ist.
Muss man, um den Punkt, den Sie machen wollen, die USA und die US-amerikanische Politikausrichtung über einen so langen historischen Zeitraum erfassen?
Die lange Perspektive hilft dem Leser zu verstehen, dass das US-Imperium selber aus dem europäischen Kolonialismus hervorgegangen ist. Es waren ja ab 1500 zuerst die Spanier und die Portugiesen, welche sich Mittel- und Südamerika als Kolonien angeeignet haben und dabei äußerst brutal vorgegangen sind. Erst danach haben sich die Engländer Nordamerika gesichert und 1607 die Kolonie Jamestown gegründet, die Keimzelle der USA. Als dann die Briten in Nordamerika sich von London befreien wollten, waren es die Franzosen, welche sie dabei unterstützten und den USA später auch die Freiheitsstatue schenkten, weil Paris sich freute, dass London einen Teil seines Kolonialreiches verloren hatte. Später sehen wir dieses Spiel im Kapitel zum Vietnamkrieg nochmals, aber mit umgedrehten Rollen: Die USA bewaffnen die Vietnamesen, und diese fügen den Franzosen in Indochina 1954 eine vernichtende Niederlage in Dien Bien Phu zu. Diesmal freut sich Washington, dass Paris seine Kolonie Indochina verliert. Auf den 330 Seiten meines Buches kann der Leser und die Leserin immer wieder solche Querverbindungen erkennen und dadurch die internationale Politik und Zeitgeschichte viel besser verstehen.
Geht es auch darum, die jungen Menschen mit der Vergangenheit der US-amerikanischen Politik vertraut zu machen, so dass sie besser aktuelle Geschehnisse einordnen können?
Auf jeden Fall. Denn bei vielen Schülerinnen und Schülern endet ja der Geschichtsunterricht beim Zweiten Weltkrieg. Das ist aber jetzt mehr als 70 Jahre her. Die aktuellen Ereignisse wie der Syrienkrieg, der Afghanistankrieg und der Libyenkrieg können nur verstanden werden, wenn man die Rolle des US-Imperiums in diesen Konflikten ausleuchtet.
Was meinen Sie: Wissen junge Menschen heute, woher der Ausdruck militärisch-industrieller Komplex kam, was er bedeutet und welche Bedeutung er auch noch heute hat?
Einige wissen es, viele aber nicht. Daher erkläre ich im Buch den Begriff militärisch-industrieller Komplex ausführlich, weil dieser Begriff wichtig ist. Ich zeige, dass US-Präsident Eisenhower 1961 in seiner Abschiedsrede explizit vor diesem Komplex warnte. Eisenhower wusste, dass es in den USA ein enges Geflecht gibt zwischen Rüstungsindustrie, Geheimdiensten, Pentagon, Lobbys, Medien und Politik, und dass einige Akteure in diesem Netzwerk von Krieg profitieren und daher Kriege wollen.
Was ist Ihr Eindruck: Gibt es generell in unserer Gesellschaft das Problem, dass oft nur auf den sichtbaren Teil der Politik geschaut, aber der nichtsichtbare Teil, die Tiefenpolitik, nicht erkannt wird?
Ja, diesen Eindruck habe ich. Die verdeckten Operationen werden in der Regel in den Schulen und Universitäten nicht behandelt, und auch nicht in der Tagesschau oder der Süddeutschen Zeitung. In der historischen Forschung spielen verdeckte Operationen eine große Rolle. So kann ich im Buch aufzeigen, dass die CIA Mordanschläge auf verschiedene Politiker durchführte. Die Anschläge auf Fidel Castro, den Präsidenten von Kuba, verliefen ohne Erfolg. Aber im Kongo war die CIA an der Ermordung von Premierminister Patrice Lumumba 1961 beteiligt, wie ich im Buch zeige.
Wie kann man nicht nur jungen Menschen erklären, dass es so etwas wie Tiefenpolitik gibt?
Tiefenpolitik bedeutet, dass der Souverän, also das Volk, nicht in die relevanten politischen Entscheide der Exekutive eingebunden wird, und dass in vielen Fällen nicht einmal die vom Volk gewählten Vertreter, also das Parlament, welches die Exekutive überwachen muss, die Details der Tiefenpolitik kennt und daher seiner Rolle als Wächter nicht gerecht wird. Auch die Medien decken zu selten die Mechanismen der Tiefenpolitik auf. Im Kern handelt es sich bei der Tiefenpolitik oft um Handlungen der Exekutive, also des Weißen Hauses, des Pentagons und der Geheimdienste, die von den Wählern nicht unterstützt werden oder sogar illegal sind.
Nehmen wir als Beispiel mal den Iran-Contra-Skandal. Worum ging es dabei?
Das war ein Skandal während der Regierung von US-Präsident Ronald Reagan. Zusammen mit seinem CIA-Direktor Bill Casey führte Reagan ab 1981 einen geheimen Krieg gegen Nicaragua, indem er im Nachbarland Honduras gewalttätige Rebellen, so genannte Contras, bewaffnete. Die CIA lieferte den Contras Waffen und trainierte sie. Dieser geheime Krieg war aber illegal und ein Verstoß gegen das UNO-Gewaltverbot. Daher versuchten Reagan und Casey ihn geheimzuhalten. Und als das nicht ging, erklärten sie, die Contras seien Freiheitskämpfer, obschon diese sehr brutal vorgingen und auch Zivilisten ermordeten. Hier sehen wir also, wie der Tiefe Staat gegen das Völkerrecht verstößt.
Und weiter?
Als der US-Kongress, das Parlament, der Exekutive verbot, die Contras weiter mit Waffen und Geld zu versorgen, radikalisierte sich der Tiefe Staat. Das Weiße Haus unter Reagan ignorierte den Kongress und verkaufte Waffen an den Iran. Das Geld aus dem Waffenhandel wurde auf Nummernkonten in der Schweiz zwischengelagert und danach an die Contras ausbezahlt. Das wurde 1986 aufgedeckt. Es war sehr brisant, weil Präsident Ronald Reagan und Vizepräsident George Bush Senior mit dem geheimen Krieg gegen Nicaragua nicht nur gegen das internationale Recht verstoßen hatten, sondern auch gegen die Gesetze der USA, weil der Kongress ja die Bewaffnung der Contras verboten hatte. Zudem war es auch illegal, Waffen an den Iran zu verkaufen, weil dieser schon damals unter einem sehr strengen US-Embargo stand. Aber der Tiefe Staat kümmerte sich nicht um diese Verbote.
Was ist dann passiert?
Der Kongress setzte eine Kommission ein und konnte zeigen, dass hier von der US-Regierung schwere Verbrechen begangen wurden. Einige Personen wurden auch angeklagt, kamen aber alle wieder frei. Vizepräsident Bush, der direkt in den Iran-Contra-Skandal involviert gewesen war, wurde sogar zum Nachfolger von Präsident Reagan gewählt und zog ins Weiße Haus ein.
Welche Schlüsse ziehen Sie aus diesem Fall?
Ich ziehe den gleichen Schluss wie damals Lawrence Walsh, der mutige und unabhängige Ermittler und Ankläger während der Iran-Contra-Affäre. Er sagte damals richtig: »Mächtige Männer mit mächtigen Freunden können schwere Verbrechen begehen, während sie im Amt sind, und das Vertrauen der Öffentlichkeit schwer missbrauchen, und dies alles ohne jede Konsequenz.« Damit hatte Walsh völlig recht. Er klagte damals auch Verteidigungsminister Caspar Weinberger an, weil dieser direkt in den illegalen Waffenhandel mit dem Iran und den illegalen Krieg in Nicaragua verstrickt gewesen war und den Kongress über beides belogen hatte. Doch kurz bevor Präsident Bush durch Präsident Bill Clinton im Weißen Haus abgelöst wurde, begnadigte Bush am 24. Dezember 1992 seinen Kollegen Weinberger und andere in die Iran-Contra-Affäre verstrickte hohe Beamte. »Damit ist die Vertuschung des Iran-Contra-Skandals, welche seit sechs Jahren andauert, abgeschlossen«, kritisierte Sonderermittler Walsh resigniert, da keiner der Täter ins Gefängnis musste.
Im öffentlichen Gedächtnis spielt die Iran-Contra-Affäre längst keine Rolle mehr. Wie sehen Sie es als Historiker, wenn solche Fälle einfach aus dem Wissensbestand verschwinden?
Alles was länger her ist als ein Jahr, spielt im öffentlichen Gedächtnis keine Rolle mehr. Auch der Angriff der NATO auf Serbien 1999 haben viele vergessen, nicht nur den Iran-Contra-Skandal von 1986. Mit meinem Buch versuche ich aufzuzeigen, zumindest für jene, welche sich dafür interessieren, dass immer wieder Gewalt und Lüge eingesetzt wurden, um die Macht und den Reichtum einer kleinen Clique zu mehren. Und dabei ist man sprichwörtlich über Leichen gegangen. Das Volk, das ja in einer Demokratie eigentlich die Macht haben sollte, wurde durch diese Clique einfach übergangen und getäuscht.
Ist das Wissen um Fälle dieser Art wichtig, um bestimmte Grundprinzipien der politischen Tiefenpolitik, mit denen wir es zu jeder Zeit auf die eine oder andere Art und Weise zu tun haben, besser identifizieren zu können?
Auf jeden Fall. Man muss konkrete Beispiele der Täuschung kennen, erst dann wird einem klar, dass gerade vor Kriegen sehr viel gelogen wird. Im Buch zeige ich viele Beispiele, darunter auch dieses: Nachdem der irakische Präsident Saddam Hussein im August 1990 illegal in Kuwait einmarschierte, wurden die Iraker von US-Präsident George Bush Senior kollektiv mit der »Brutkastenlüge« dämonisiert.
Am 10. Oktober 1990 erzählte ein 15-jähriges Mädchen, das als Nayirah vorgestellt worden war, vor dem Menschenrechtsausschuss des US-Kongresses unter Tränen, dass sie während der irakischen Invasion von Kuwait in einem Spital in Kuwait gearbeitet und beobachtet habe, wie irakische Soldaten Säuglinge aus den Brutkästen genommen hätten, um sie auf den Boden zu werfen, wo diese starben. Das war gelogen, Nayirah hatte nie im Spital in Kuwait gearbeitet. Aber Präsident George Bush Senior griff diese schockierende Geschichte auf, wiederholte sie im Fernsehen und behauptete, 312 Neugeborene seien auf diese Art gestorben. Erst nach dem Krieg stellte sich heraus, dass die Brutkastengeschichte eine infame Lüge war und dass Nayirah in Wahrheit Nijirah al-Sabah hieß und die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA war.
Beim Lesen Ihres Buches kann man zu dem Eindruck gelangen, Ihre Arbeit als Historiker konzentriert sich sehr stark darauf, das historisch Verdeckte, das, was mehr oder weniger unter der Oberfläche der Geschichtsschreibung liegt, sichtbar zu machen. Würden Sie dem zustimmen? Und: Wenn Sie den Begriff „verdecken“ mit der US-amerikanischen Politik in Verbindung bringen, woran denken Sie dann?
Das stimmt schon, ich werfe Licht auf Lügen und Gewalt und hoffe, damit jene Menschen zu unterstützen, welche der Friedensbewegung angehören und einen Ausweg aus der Gewaltspirale suchen. Ich befasse mich ja schon viele Jahre mit der internationalen Politik, und dabei ist mir aufgefallen, dass die verdeckten Operationen der USA im deutschsprachigen Raum viel zu wenig Beachtung finden, obschon sie für das Verständnis der Zeitgeschichte sehr wichtig sind. Nehmen Sie zum Beispiel die Invasion von Afghanistan im Dezember 1979 durch die Sowjetunion, die ich im Buch auch anspreche. Das war illegal. Moskau hat damals ganz klar gegen das UNO-Gewaltverbot verstoßen. Wenig bekannt ist aber, was später US-Geostratege Zbigniew Brzezinski, der unter US-Präsident Jimmy Carter als Nationaler Sicherheitsberater diente, zum Ausbruch dieses Krieges sagte. »Gemäß der offiziellen Version der Geschichte hat die CIA-Hilfe für die Mudschaheddin 1980 begonnen, also nachdem die Sowjetunion am 24. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierte«, erklärt Brzezinski. »Aber die Wahrheit, streng gehütet bis heute, ist total anders. Schon am 3. Juli 1979 unterschrieb Präsident Carter eine geheime Anweisung, um die Mudschaheddin zu unterstützen. Am gleichen Tag habe ich dem Präsidenten schriftlich mitgeteilt, dies würde eine sowjetische Invasion provozieren.« Die französische Zeitung Observateur fragte daraufhin: »Bereuen Sie es, islamistische Terroristen unterstützt zu haben?« Die Frage war gut, denn viele Menschen glauben, die USA würden niemals Terroristen aufrüsten. Doch Brzezinski antwortete: »Das war eine ausgezeichnete Idee. Was ist wichtiger für die Geschichte der Welt? Die Taliban oder der Zusammensturz des sowjetischen Imperiums? Einige aufgescheuchte Muslime oder die Befreiung von Zentraleuropa und das Ende des Kalten Krieges?«
Lesetipp: Ganser, Daniele: Imperium USA -Die skrupellose Weltmacht. Orell Füssli. 24. April 2020. 392 Seiten. 25 Euro.