Wie evidenzbasiert sind die Kontaktverbote für Kinder? Ein Faktencheck.

Wie evidenzbasiert sind die Kontaktverbote für Kinder? Ein Faktencheck.

Wie evidenzbasiert sind die Kontaktverbote für Kinder? Ein Faktencheck.

Ein Artikel von Sandra Reuse

Für die Behauptung, dass Kinder das Virus SARS-CoV-2 stark verbreiten, würden Kitas und Schulen wieder öffnen, gibt es bislang keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage. Im Gegenteil. Ein Fall aus Frankreich, der vor kurzem veröffentlicht wurde, ließ aufhorchen. Ein Kind, das nachweislich mit Covid-19 infiziert war, hatte während der Inkubationszeit 172 Kontakte, nahm unter anderem an drei verschiedenen Skikursen teil. Doch es steckte offenbar niemanden an. Dass Kinder nicht nur deutlich weniger als Erwachsene gefährdet sind, an Covid-19 zu erkranken, sondern sich möglicherweise auch seltener infizieren und deshalb auch nicht zu einer übermäßigen Verbreitung des Virus beitragen können, zeigen auch andere Studien. Doch diese haben in Deutschland bislang leider kaum Beachtung gefunden. Das erstaunt angesichts der Schwere der Konsequenzen für Kinder, deren sämtliche sozialen Kontakte derzeit brachliegen und die vielfach mit mehr oder weniger überforderten Eltern zu Hause eingesperrt sind. Von Sandra Reuse.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Lesen Sie von Sandra Reuse auch den Artikel „Exit-Strategien: Maßnahmen für Kinder sollten schnellstens überdacht werden“.

So zeigen etwa medizinische Fachberichte aus China, wo die aktuelle Corona-Pandemie ausbrach und für das bislang die meisten virologischen Studien vorliegen, dass Kinder und Jugendliche (< 18 J.), die nachweislich in engem Kontakt mit Covid-19-Patienten waren, sich deutlich seltener ansteckten als Erwachsene. In einer Erhebung, in der die Verbreitung des Virus im Zusammenhang mit größeren Familienfeiern rekapituliert wurde, infizierten sich von 745 Kindern nur 10 Kinder (1,3 %)[1].

Einem Bericht der Chinesischen Nationalen Gesundheitskommission zufolge zeigten Erhebungen in verschiedenen chinesischen Provinzen bis Ende März, dass von allen nachweislich infizierten Kindern nur 2,4 % an Covid-19 auch erkrankten[2]. Während in vielen Fällen rekapituliert werden konnte, dass die Übertragung des Virus von Erwachsenen auf Kinder erfolgte – entweder über die Eltern oder andere Verwandte, oder aber auch bei Besuchen in medizinischen Einrichtungen durch das dortige Personal – betont der Bericht, dass es bis dato keinerlei Evidenz gebe, dass Kinder das Virus auf Erwachsene oder andere Kinder übertragen haben[3].

Eine andere, durch ein internationales Team durchgeführte Studie im chinesischen Shenzhen kommt hingegen zu dem Schluss, dass sich Kinder nicht seltener infizieren als Erwachsene, offenbar aber selbst das Virus nur selten übertragen[4].

Methodisch wichtig scheint in diesem Zusammenhang, dass es nicht möglich ist, die Übertragung des Virus zu „beobachten“ – hierzu müsste man quasi Menschenversuche durchführen. Dass eine Übertragung zwischen bestimmten Personen stattgefunden hat, können Wissenschaftler*innen nur ex post durch Befragungen und Tests von Kontaktpersonen vermuten bzw. berechnen. Nicht in allen Fällen ist dabei zu ermitteln, wer das Virus auf wen übertragen hat. Doch in den Studien, die bislang vorliegen, war der weit überwiegende Übertragungsweg der von Erwachsenen auf Kinder und nicht umgekehrt. Für die Übertragung von Kindern auf Kinder liegt hingegen bislang keine ausreichend valide Evidenz vor. Natürlich soll damit nicht behauptet werden, dass ein solcher Übertragungsweg ausgeschlossen ist. Doch er scheint deutlich weniger wahrscheinlich als der umgekehrte Weg. Sollte es zutreffen, dass Kinder das Virus nur in seltenen Fällen auf Erwachsene übertragen, schiene das Risiko, dass Kinder sich gegenseitig anstecken und dann aber eine Immunität entwickeln, hinnehmbar.

Ein letzter Faktencheck: Vieldiskutiert wurde in Deutschland auch eine Studie zweier Ökonomen des Institutes für die Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn, Christian Bayer und Moritz Kuhn[5]. Sie dient in der bisherigen Debatte als wichtige Argumentationsbasis dafür, Enkelkinder von ihren Großeltern fernzuhalten. Doch zu minderjährigen Kindern im Haushalt enthält und überprüft die Studie gar keine Daten.

Die Studie untersucht die Wahrscheinlichkeit, an einer Covid-19-Erkrankung zu sterben, wenn mehrere Generationen unter einem Dach leben. Auf der Basis von Datensätzen zum intergenerationellen Zusammenleben in 24 Ländern wurde der Zusammenhang zwischen der Todesrate infolge der Covid-19-Pandemie und einem engen sozialen Austausch zwischen den Generationen berechnet. Ein schwacher Zusammenhang ergibt sich allerdings nur in einem Teil der Analyse und dieser hängt komplett am Extremfall Italien, wo sehr viele ältere Personen verstorben sind. Im Fazit der Studie empfehlen die Ökonomen, Kinderbetreuung durch Großeltern zu unterbinden, um so die Risikogruppen der Älteren besser zu schützen. Sie erwähnen leider nicht, dass in ihrer Studie überhaupt nicht untersucht wurde, ob die Verstorbenen Kontakt zu Enkelkindern hatten. Die untersuchten Datensätze enthielten nämlich nur den Anteil der Erwerbsbevölkerung im Alter zwischen 30 bis 49 Jahren, die mit ihren Eltern zusammenwohnen, nicht aber die Zahl der im Haushalt lebenden Kinder und Jugendlichen.

Fazit: Es sollte genauer auf die wissenschaftliche Datenbasis geschaut werden, wenn nun über den Zeitpunkt der Wiedereröffnung von Kitas und Schulen diskutiert wird. Dass Kinder eine Personengruppe bilden, die besonders gefährlich für den Rest der Bevölkerung ist, ist eine pauschale Unterstellung, die angesichts der bisher vorliegenden Studien nicht bestätigt werden kann.

Viele Eltern wären bereits froh, wenn wenigstens kleine Gruppen von Kindern wieder legal zusammen spielen oder auch lernen dürften. In nachbarschaftlichen Zusammenhängen ließen sich so gute Übergangslösungen organisieren, bis Kitas und Schulen wieder auf sind. Wer sich umhört, kriegt nach längeren Unterhaltungen mit, dass diese Übergangslösungen teilweise bereits heimlich praktiziert werden, weil weder Eltern noch Kinder die totale Kontaktsperre der Kinder lange ausgehalten haben. Bevor die Kinder ihre Kontakte wieder ausweiten, könnten sie ihre Großeltern besuchen. Nach den Daten, die bisher vorliegen, müssen wohl eher die Erwachsenen aufpassen, dass sie die Ältesten nicht anstecken. Im Übrigen: Großmütter können eher besucht werden als Großväter, denn sowohl Daten aus China als auch aus Italien zeigen, dass Frauen weitaus seltener schwer an Covid-19 erkranken oder gar sterben als Männer.

Titelbild: Canon Boy/shutterstock.com

Die Autorin ist berufstätige Mutter zweier Kinder (5 und 11 J.) in Berlin und gelernte Wissenschaftsjournalistin.


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