Heute vor 45 Jahren, am 17. April 1975, marschierten die Roten Khmer siegreich in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh ein. Projektionen und Grobraster trugen mit dazu bei, eine einst vitale internationale Solidaritätsbewegung auszuhöhlen und schließlich unzeremoniell zu begraben. Ein kurzer Rückblick von Rainer Werning.
„Schafft zwei, drei, viele Vietnam!” hatte der Arzt und langjährige Weggefährte Fidel Castros, Ernesto Che Guevara, der wachsenden antiimperialistischen Bewegung im Trikont kühn anempfohlen, bevor er selbst im Sommer 1967 im bolivianischen Dschungel den Tod fand. In nahezu sämtlichen westlichen Metropolen skandierten derweil aufgewühlte Gegner der US-amerikanischen Aggression gegen die Völker Vietnams, Kambodschas und Laos‘ den Schlachtruf „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!” Nordvietnams Präsident Ho Chi Minh, den seine Anhänger hüben wie drüben liebevoll „Onkel Ho“ nannten, galt als ideeller Gesamtheld des Befreiungskampfes gegen die Mordmaschinerie des selbsternannten Hüters von freedom & democracy.
Auf dem Höhepunkt des Krieges (Mitte der 1960er Jahre) waren allein in Vietnam über eine halbe Million GIs stationiert. Hinzu kamen weitere Zehntausende US-amerikanische Soldaten, die einen „geheimen Krieg” in Laos führten und das neutrale Königreich Kambodscha mit Flächenbombardements verwüsteten. Das von den einstigen französischen Kolonialherren sogenannte Indochina diente einer Generation als Metapher für den gerechtfertigten Kampf Davids gegen Goliath. Da der Vietnamkrieg, der in Vietnam selbst trefflicher als „der Amerikanische Krieg“ genannt wurde, überdies der erste „telegene Krieg” war, dessen Gräuel einem weltweiten Publikum allabendlich auf der Mattscheibe präsentiert wurden, war die Ver-Bildlichung des Krieges zugleich ein potenter Verbündeter seiner Gegner. Eine Lehre daraus: Fortan sollte Krieg möglichst als „klinisch-sanitärer” Eingriff in Videoclip-Format erscheinen, um die Zahl von (potenziellen) Kriegsgegnern auf niedrigem Niveau zu halten. Noch tiefer ist seit dem 1975er Slogan „1. Mai – Saigon ist frei“ eine Solidaritätsbewegung gesunken, die damals eine weltweit formidable politische Kraft repräsentierte. Projektionen und verkürzte Wahrnehmungen sowie die jeweiligen Politiken der Herrschenden in Hanoi und Phnom Penh nach Kriegsende waren dafür verantwortlich.
Bereits am 17. April 1975, zwei Wochen vor dem endgültigen Debakel der USA in Vietnam und der panikartigen Flucht aus Saigon, marschierten im Nachbarland Kambodscha Truppen der Roten Khmer siegreich in Phnom Penh ein und proklamierten als neues Staatswesen das Demokratische Kampuchea. Die vormals schläfrige Hauptstadt war während der US-amerikanischen Flächenbombardements zu einem annähernd zwei Millionen Flüchtlinge zählenden Moloch angeschwollen, der in der Endphase des Krieges nur dank einer von der US-Armee aufrechterhaltenen Luftbrücke mit Nahrungsmitteln versorgt wurde. Die Masse der dorthin Geflohenen waren Bauern, die panikartig ihre Dörfer und Äcker verlassen hatten, um den Bomben- und Napalmeinsätzen zu entkommen.
Kambodscha war über Jahrhunderte hinweg eine bäuerlich-dörfliche Gesellschaft, in der Gemeineigentum und kommunale Produktion ausgeprägter waren als feudaler Großgrund- und individueller Landbesitz. Das Zentrum der Macht, der Stadtstaat (wie einst das Angkor-Imperium) beziehungsweise die Stadt, galt als Inbegriff tributärer Schröpfung und sie bot gleichzeitig Schutz gegenüber äußeren Feinden. Während der französischen Kolonialzeit (Ende des 19. Jahrhunderts bis 1953) waren die Zitadellen städtischer Macht und Herrschaft neben den Franzosen mit vietnamesischen Administratoren besetzt, während der Handel und das Gewerbe eine Domäne der Chinesen waren. Im Verlauf der kambodschanischen Geschichte war für den überwiegenden Teil der Khmer-Bevölkerung die Stadt nicht nur der Hort interner Ausbeutung, sondern auch ein von in- wie ausländischen Eliten geprägtes und ihnen letztlich fremdes Sozialsystem.
Die Formierung der Roten Khmer als oppositionelle Kraft gelang erst gegen Ende der 1960er Jahre. Die Regierung von Prinz Sihanouk hatte Bauernrevolten in der westlichen Provinz Battambang, der traditionellen Reiskammer des Landes, blutig niederschlagen lassen und damit Protest und Widerstand unter der Landbevölkerung gegen erhöhte Ernteabgaben sowie Landenteignungen geschürt. Doch erst die Ausweitung des US-Aggressionskrieges auf das vormals neutrale Kambodscha schuf die Basis für ein Bündnis, das Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Auf einmal sahen sich zwei politische Lager – hier die Sihanouk-Royalisten, dort die nationalistischen Roten Khmer – in einer Allianz vereint. Gemeinsames Ziel des in Peking geschmiedeten Zweckbündnisses: die Wiederherstellung der Souveränität Kambodschas und der Kampf gegen die von Washington im Frühjahr 1970 installierte Clique um den späteren Marschall Lon Nol.
Dabei war und blieb das Verhältnis zwischen Kambodscha und dem großen Nachbar Vietnam weitaus angespannter und konfliktträchtiger, als es die internationale Indochina-Solidaritätsbewegung jemals wahrhaben wollte. Indochina war ein französisches Kolonialkonstrukt: 1887 hatte Frankreich seine drei Protektorate in Vietnam – Cochinchina im Süden, Annam im zentralen und Tongking im nördlichen Landesteil – zusammen mit Kambodscha und Laos zu einer willkürlichen, freilich seinen Interessen dienenden Verwaltungseinheit, zur Union Indochina, gemacht. Die unterstellte Einheit und Brüderlichkeit zwischen Kambodscha, Laos und Vietnam (von Letzterem als „drei Finger einer Faust“, nämlich der eigenen, gepriesen) war stets ein hierarchisches Beziehungsgeflecht mit Vietnam als Führungsmacht, der sich das bevölkerungsmäßig kleinste, dazu noch Binnenland Laos beugte, Kambodscha hingegen immer wieder widersetzte.
Selbst die erste kommunistische Partei in der Region, die von Ho Chi Minh und seinen Mitstreitern 1930 gegründete Kommunistische Partei Indochinas (KPI), behielt die Bezeichnung „Indochina” bis zu Beginn der 1950er Jahre bei, wobei die vietnamesische KP auch danach für sich politisch und organisatorisch die hegemoniale Stellung reklamierte. Als es Anfang 1973 zum Abschluss der Pariser Friedensverhandlungen kam, in dessen Verlauf sich das nordvietnamesische Politbüromitglied Le Duc Tho und Henry Kissinger über den Abzug der US-Truppen aus Vietnam verständigten, blieb der Abzug fremder – in diesem Fall vietnamesischer – Truppen aus Kambodscha explizit ausgeklammert. Diese Truppen agierten in Untergrundstellungen und waren Teil des Ho-Chi-Minh-Pfads, über den der Nachschub aus Nordvietnam für die südvietnamesische Befreiungsbewegung (FNL oder NLF) rollte.
Bereits zwei Jahre nach ihrem Sieg (1977/78) waren die Roten Khmer in tödliche Grenzkonflikte mit Vietnam verstrickt – ein Vermächtnis der Geschichte. Gegenüber Vietnam existierten seit langem Furcht und Angst, weil es bereits im 17. Jahrhundert Teile Kambodschas (Kampuchea Krom, die „Niederlande“ Kambodschas im heute südvietnamesischen Mekong-Delta) annektiert hatte und sein Grenzverlauf mit Kambodscha im Westen strittig blieb. Geschürt wurde dieser Konflikt, um damit von internen Problemen abzulenken und den latenten Hass gegen das hegemoniale Vietnam zu instrumentalisieren. Provokation und Paranoia begleiteten Propagandatiraden, die Befürworter des einst antiimperialistischen Befreiungskampfes erschaudern mussten. Während Radio Hanoi in jener Zeit wiederholt kambodschanische Soldaten und die Bevölkerung offen zum Sturz des Pol Pot-Regimes aufrief, seine Regierung als „reaktionär”, seine Politik als „brutale und infantile bäuerliche Gleichmacherei” und seine Führung als „Söldner der chinesischen Machthaber” anprangerte, rief Pol Pot im Gegenzug zum Mord an Vietnamesen auf: „Jeder von uns muss 30 Vietnamesen töten. Bisher haben wir es geschafft. Wir brauchen nur zwei Millionen Soldaten, um 50 Millionen Vietnamesen umzubringen.”
Der Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha zum Jahreswechsel 1978/79 und die darauffolgende einmonatige chinesische „Strafaktion“ gegen Vietnam von Mitte Februar bis Mitte März 1979 markierten die tiefe Kluft zwischen den Antagonisten. Gleichzeitig zerbrach infolge dieses tödlichen Zwists die einst machtvolle internationale Solidaritätsbewegung. Übrig blieben eine Zeitlang lediglich kleine und vergleichsweise unbedeutende Gruppierungen, die auf unterschiedliche Weise apologetisch für diese oder jene Seite Position ergriffen, bis auch sie zu Beginn der 1980er Jahre verstummten.
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Quellen & Literaturhinweise
- Walter Aschmoneit/Rainer Werning (Hg.): Kampuchea – Lesebuch zu Geschichte, Gesellschaft, Politik. Münster: SZD-Verlag, 1981
- David P. Chandler: A History Of Cambodia. Boulder, CO: Westview Press, 2008 (4th Edition)
- Ben Kiernan: How Pol Pot Came to Power: Colonialism, Nationalism, and Communism in Cambodia, 1930-1975. New Haven & London: Yale University Press, 2004 (2nd revised edition)
- William Shawcross: Schattenkrieg: Kissinger, Nixon und die Zerstörung Kambodschas. Berlin: Ullstein Verlag, 1982