Bolsonaros Entmachtung durch das Virus, oder: General Braga Netto, der De-facto-Präsident

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Die Nachricht wurde auf Umwegen am 3. April im verschleierten Stil der Geheimdienstpraktiken verbreitet. In einem Interview mit El Destape Radio enthüllte der renommierte argentinische Journalist und Buchautor Horacio Verbitsky, die brasilianische Armee habe entschieden, „Präsident Jair Bolsonaro von allen wichtigen Entscheidungen auszuschließen. Ihn zwar im Amt zu belassen, jedoch ohne wirksame Macht“, und General Walter Braga Netto zum “operativen Präsidenten” zu ernennen. Von Frederico Füllgraf.

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Braga Netto kommandierte 2018 die Militärintervention gegen schwere Kriminalität in Rio de Janeiro und trat im Februar 2020 als Nachfolger des Zivilisten Onyx Lorenzoni das Amt des Kanzleramtschefs an, womit sich die Zahl der Generale in Führungsposten des Bolsonaro-Regimes auf 5 Schlüssel-Ministerien und nahezu 2.000 Offiziere im gesamten Staatsapparat erweitert.

Verbitsky war die Information wiederum von einem hochrangigen argentinischen Militär zugesteckt worden. Der habe ihm vom vertraulichen Anruf eines ebenfalls hochrangigen Offiziers der brasilianischen Armee berichtet. In diesem „Gespräch unter Freunden“ habe der Brasilianer die Entscheidung einer Gruppe von Generalen mitgeteilt, Bolsonaro weiterhin als formalen, verfassungsmäßigen Präsidenten, jedoch mit beschnittener Macht – wie die eines „konstitutionellen Monarchen“ – auftreten zu lassen.

Allem Anschein nach handelt es sich bei der Gruppe der Generale um den gleichen militärischen Machtbunker, der im Oktober 2018, im Vorfeld von Bolsonaros Wahlsieg, schon einmal argentinische und nicht brasilianische Medien wählte, um deutlich zu machen, dass die Kandidatur des wirren, ehemaligen Hauptmanns der Fallschirmjäger seit 2014 von ihnen aufgebaut wurde. In einem langen Interview mit dem konservativen Wirtschaftsmagazin Ámbito Financiero hatte damals schon ein „höchstrangiger, jedoch anonym gebliebener Offizier“ – aller Wahrscheinlichkeit nach der ehemalige Heereskommandant und Hardliner General Eduardo Villas Boas – im genuinen Stil des Washingtoner deep throats auf das Machtziel der Gruppe hingewiesen, dessen faschistoide Doktrin eine „neue Demokratie” mit politischem Erzkonservatismus, wirtschaftlichem Liberalismus und sprichwörtlicher „Ausrottung“ der Linken fordere.

Zwischenspiel: Vergeltungsmaßnahmen gegen die PT

Es ist zwar ein Skandal ersten Ranges, doch mitten in der Covid19-Pandemie versucht die rechtsradikale Staatsanwaltschaft die „Ausrottungs“-Forderung der Generale mit dem kompletten Verbot der größten politischen Partei Brasiliens – Luis Inácio Lula da Silvas Arbeiterpartei (PT) – zu bedienen, der zum wiederholten Male mit falschen Tatsachen eine „illegale Wahlfinanzierung“ vorgeworfen wird. Die Anklage erfolgte wenige Tage, nachdem das brasilianische Parlament einen Notgesetz-Entwurf der PT im Bündnis mit anderen linken Parteien zur sozialen Grundabsicherung von Millionen Brasilianerinnen und Brasilianern im Wert von umgerechnet 100 Euro verabschiedete, die wegen der vom Gesundheitsministerium verordneten sozialen Covid19-Isolierung vorübergehend arbeitsbehindert sind.

Die vom ehemaligen Scharfrichter und amtierenden Justizminister Sergio Moro bereits ab 2015 eingeführten, eindeutigen, juristischen Vergeltungsmaßnahmen „rächen“ sich jedoch auch für andere aktuelle Initiativen, nicht nur der PT. Zum einen wegen der von brasilianischen Juristen am Internationalen Haager Gerichtshof eingereichten Klage gegen Bolsonaros Covid19-Leugnung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Die Juristen weisen mit wissenschaftlichen Gutachten nach, dass Bolsonaros offener Boykott der von der Weltgesundheits-Organisation (WHO) und seinem eigenen Gesundheitsminister vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen gegen die Virus-Verbreitung für das zunehmende Massensterben der Covid19-Opfer verantwortlich ist.

Zum anderen soll die geforderte Illegalisierung der PT die „Rache“ dafür sein, dass fünf Vertreter der politischen Linken unter Führung Fernando Haddads – Bolsonaros Gegenkandidat der PT bei den Präsidentschaftswahlen von 2018 – vor wenigen Tagen mit einem Offenen Brief den Rücktritt des ehemaligen Fallschirmjägers als amtierender Präsident forderten.

Weltweite Isolierung

Die Repressalien machen Sinn, sie sollen das Schlimmste, nämlich die Amtsenthebung Bolsonaros und damit eine gefürchtete Destabilisierung des autoritären und pleitegehenden Regimes verhindern. Mit der Beschneidung der Machtbefugnisse Bolsonaros entschied der Bunker sich zunächst für die Schadensbegrenzung seiner Umtriebe. Denn massive Kritik der einheimischen und internationalen Medien prasselte in den vergangenen Wochen auf das Regime nieder.

Bolsonaro ist in Brasilien, vor allem aber weltweit politisch isoliert. „Isoliert und trotzig leugnet Bolsonaro die Coronavirus-Bedrohung für Brasilien“, betitelte die New York Times am 1. April einen ganzseitigen Bericht über die Folgen der wahnwitzigen Auftritte des brasilianischen Regierungschefs. Zur Bekräftigung der eigenen Kritik griff die konservative und beherrschende Mediengruppe O Globo zu einem hausunüblichen Mittel und führte der Öffentlichkeit einen Spiegel der Schlagzeilen im internationalen Mainstream vor. Mit Genugtuung registrierte man in Brasilien, dass die konservative deutsche FAZ Bolsonaro als „den letzten Negationisten (Leugner) der Corona-Pandemie” bezeichnete. Die liberale The Economist riskierte gar ein makabres Wortspiel. Mit einer Anspielung auf den letzten römischen Kaiser, der angeblich entzückt auf seiner Leier zupfte, während Rom brannte, betitelte das Wochenmagazin seinen Bericht mit den Worten “BolsoNero – Brasiliens Präsident spielt, während die Pandemie sich ausbreitet“.

In Ihrer Ausgabe vom 25. März hatten die NachDenkSeiten bereits die Haltung des brasilianischen Staatschefs gegenüber der sich ausbreitenden Pandemie beschrieben. Als Reaktion auf die Bekanntgabe am 4. März des ersten positiv getesteten Corona-Falls in Brasilien bezeichnete Bolsonaro die Nachricht als „Hysterie der Medien“. Drei Tage später befürwortete der Staatschef während einer Zwischenlandung seines Fluges in die USA im brasilianischen Boavista gar den Aufruf seiner Anhänger zu Massenkundgebungen gegen das Parlament und den Obersten Gerichtshof. Weitere drei Tage später redete Bolsonaro in einer Ansprache vor einhundert US-Unternehmern in Miami erneut die Corona-Pandemie klein. „Vieles von dem, was zum Thema Coronavirus gesagt wird, ist Fantasie. Das ist nicht alles so, wie die Mainstream-Medien es verbreiten“, waren seine Worte.

Wenige Tage nach seiner Rückkehr aus den USA wurden 22 Teilnehmer seiner Regierungsdelegation Corona-positiv getestet; einschließlich von Bolsonaro selbst, der im Nachhinein sich zwei weiteren Tests unterzog, die überraschenderweise negativ ausgingen. Er habe höchstens unter einem „Schnüpfchen“ gelitten, waren seine wiederholten Worte der Abwiegelung.

Die programmierte Katastrophe

Doch das „Schnüpfchen“-Narrativ und Bolsonaros absolute Untätigkeit wurden im Handumdrehen von dramatischen Zahlen gestraft. Der erste Corona-positiv getestete Patient wurde am vergangenen 4. März in der 13-Millionen-Metropole São Paulo gemeldet. Weniger als fünf Wochen später verzeichnet Brasilien nach offiziellen Angaben seines Gesundheits-Ministeriums 14.049 Covid19-Fälle mit 688 Toten. Die vor Wochen von Wissenschaftlern und Medizinern angekündigte, jedoch von der Regierung ignorierte Warnung vor einer exponentiellen Proliferations-Kurve erreichte vom 6. auf den 7. April ihre explosive Entwicklungsstufe mit der Zunahme von mindestens 1.661 Positiv-Fällen und 114 Todesfällen alle 24 Stunden.

Wissenschaftler warnten allerdings im brasilianischen Kulturmagazin Piaui, die jüngste, regelrechte Explosion von Krankenhausaufenthalten wegen akuten Atemerkrankungen in Brasilien deute auf eine bis 11-fache Anzahl schwerer Covid19-Fälle hin, die als solche nicht notifiziert werden, doch die tatsächliche Zahl der Angesteckten mit mindestens 40.000 Fällen beziffern lasse. Die Schätzung wurde vom ehemaligen Sekretär für Gesundheitsüberwachung im Gesundheitsministerium und gegenwärtigen Forschungskoordinator am Zentrum für Epidemiologie und Gesundheitsüberwachung Fiocruz in Brasília, dem Facharzt für Sanitärmedizin Claudio Maierovitch Pessanha Henriques, bestätigt.

Das Drama wird verschärft durch das für Epidemien überhaupt nicht ausgerüstete öffentliche Gesundheitssystem und selbst der teuren Privatkliniken im Lande. Ärzte und Pflegepersonal sind völlig überfordert, nicht geschützt und wirken als Weiterverbreiter der Pandemie.

Allein im privaten Syrisch-Libanesischen und im jüdischen Albert-Einstein-Krankenhaus São Paulos wurden bereits am 30. März 450 Mitglieder des Personals wegen Verdachts und realer Covid19-Ansteckung vom Dienst suspendiert und isoliert. In der öffentlichen Universitätsklinik wurden am darauffolgenden 31. März mehr als 100 Ärzte und Krankenpfleger mit Covid19 positiv getestet. In Rio de Janeiro befanden sich nach Angaben der Gewerkschaft der Krankenpfleger im öffentlichen Gesundheitssystem am 27. März mindestens 80 Kollegen in Quarantäne. Victor Grabois, Vorsitzender der Brasilianischen Gesellschaft für Versorgungsqualität und Patientensicherheit (Sobrasp), erklärte, es bestünde zurzeit die Gefahr, dass jeder Angestellte des Gesundheitspersonals inzwischen bis zu neun Personen infiziere.

Bilder einer himmelschreienden Dystopie

Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen, Seuchen-Experten, Politiker selbst konservativer Schattierungen, Leitungsangestellte im Gesundheitsministerium, Bürgermeister, Schulleitungen, Landesgouverneure, Medien – alle warnten seit Anfang März vor dem Schreckens-Szenario. Doch Bolsonaro spazierte auf Märkten, wiegelte Straßenhändler und Geschäftsleute gegen die vom eigenen Gesundheitsminister verordnete räumliche, soziale Distanzierung und Quarantäne auf, stänkerte gegen die Weltgesundheitsorganisation, beschuldigte sie und die Medien, eine „Hysterie“ ausgerufen zu haben, und behinderte nicht nur, sondern bedrohte die Gouverneure mit Repressalien wegen ihren eigenständigen Schutzmaßnahmen.

Politisch und medial isoliert, flüchtete sich der geistesumnachtete Staatschef in fake news und religiöse Wahnbilder. Wie stets von seinen militanten drei Söhnen schlecht beraten, schloss er sich zunächst der an einen Kreuzzug anmutenden Werbung des US-Präsidenten Donald Trump für das Malaria-Behandlungsmittel Chloroquin an, das als Covid19-Medikament nicht erprobt und nicht genehmigt ist, zu Erblindung und zum Patienten-Tod führen kann und deshalb weltweit scharfen Kontroversen ausgesetzt ist.

Sodann suchte er die Nähe halluzinierender, evangelikaler Pastoren, die zu einem „Fastensonntag gegen den Corona-Dämon“ aufgerufen hatten und mit dem hilflos wirkenden, ehemaligen Fallschirmjäger vor dem Präsidentenpalast niederknieten und ihn als rettenden „Visionär“ segneten.

Die ungeheuerliche Dystopie, die ihresgleichen nur in der Fiktion einer theokratischen Gilead-Diktatur ihresgleichen wiederfindet, ist selbst dem erzreaktionären militärischen Machtbunker zu viel. Doch für das demokratische Brasilien ein Beweis von „Hochverrat“ am eigenen Volk, das nun an den rechtzeitig abwendbaren Folgen der Corona-Pandemie zugrunde geht, wie Juristen vor dem Internationalen Gerichtshof und die Parteiführer der Linken in ihrer Forderung nach Bolsonaros Rücktritt argumentieren.

Titelbild: © Brazil Wire

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