Wer sich in diesen Tagen in Italien, Spanien oder Frankreich nach der Zukunft des „gemeinsamen Europas“ umhört, dürfte vor allem negative Antworten zu hören bekommen. Schuld daran ist die Coronakrise; und dabei geht es weniger um die Krankheit an sich, sondern vor allem um die Weigerung der deutschen Regierung, den wirtschaftlich besonders von den Krisenmaßnahmen betroffenen Ländern über einen gemeinsamen Fonds wieder auf die Beine zu helfen. Wenn es um die Ideologien geht, unterscheidet sich Angela Merkel offenbar kaum von ihrem vielgescholtenen amerikanischen Kollegen Donald Trump. Germany First! Und so wird das „gemeinsame Europa“ unter dem dröhnenden Schweigen der Pro-Europäer langsam Stück für Stück begraben. Von Jens Berger.
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„Eurobonds wird es nicht geben, so lange ich lebe“. Mit diesem Satz beschrieb Angela Merkel auf dem Höhepunkt der europäischen Bankenkrise vor acht Jahren eisern das deutsche Dogma. Und bislang sollte sie mit dieser Aussage auch Recht behalten. Vor acht Jahren waren es die Gier der Banken und Spekulationsattacken meist amerikanischer und britischer Hedgefonds, die Länder wie Griechenland, Spanien und Italien an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht haben. Erstmals war die Eurozone gezwungen, sich solidarisch mit den Mitgliedern zu zeigen, die Opfer der Krise wurden. Wirklich solidarisch war die folgende „Rettungsaktion“ jedoch nicht. Anstatt den angeschlagenen Staaten unter die Arme zu greifen, stellte man ihnen mit den ESM einen „Rettungsschirm“ zur Verfügung, dessen Gebrauch sie dazu verpflichtete, sich der neoliberalen Austeritätspolitik zu unterwerfen. Eine Folge dieser Auflagen waren Einsparungen im Gesundheitssystem. So gesehen ist die neue Krise in Italien und Spanien auch eine Folge der vorangegangenen „Rettungsaktion“: Auch wenn dies in der Debatte hierzulande keine große Rolle spielt, wird dieser Aspekt in Italien und Spanien heiß debattiert.
Zum Thema „Corona-Bonds“ hat Fabio De Masi ein sehenswertes Erklärvideo ins Netz gestellt
Wer dies im Hinterkopf hat, kann sich ungefähr vorstellen, wie das „großzügige“ Angebot, das die beiden SPD-Minister Heiko Maas und Olaf Scholz den Franzosen, Griechen, Italienern, Portugiesen und Spaniern an diesem Wochenende über lokale Zeitungen machten, aufgenommen wurde. Maas und Scholz lehnen einen gemeinsamen Hilfsfonds, der unter dem Namen “Corona-Bonds” derzeit von 13 der 19 Euro-Staaten gefordert wird, nach wie vor kategorisch ab und stellen stattdessen Hilfen über das ESM-Programm in Aussicht; also genau das Programm, das diese Länder mit seinen „Bedingungen“ in die prekäre Lage gebracht hat. Erstaunlich ist an diesem Vorfall auch, dass ausgerechnet zwei SPD-Minister so zum Vollstrecker einer Austeritätspolitik werden, die eigentlich ja eher zu den politischen Dogmen der Unionsparteien zählt – vor acht Jahren war die SPD jedenfalls noch offen für das Thema „Eurobonds“.
Selbst wenn die kommenden ESM-Hilfen, die vor allem Italien und Spanien benötigen werden, ohne neoliberale Auflagen ausgezahlt werden sollten, ist der ESM als Mechanismus für die Bewältigung der realwirtschaftlichen und sicherlich noch kommenden Finanzkrise im Kielwasser der „Corona-Maßnahmen“ das denkbar falsche Mittel. Zum Einen ist der ESM-Schutzschirm viel zu klein. Deutschland hat seinen Bürgern und Unternehmen bereits im ersten Schritt Garantien in Höhe von 32% der deutschen Wirtschaftskraft in Aussicht gestellt. Italien und Spanien mussten sich aufgrund der Furcht vor steigenden Zinsen auf die ausstehenden Staatsanleihen und damit verbundenen Angriffen durch Hedgefonds mit 10% begnügen. Das wird aber nicht reichen und die 410 Milliarden Euro Volumen des ESM dürften alleine für Italien zu gering bemessen sein – und neben Italien werden sicherlich auch noch Spanien, Frankreich, Portugal und Griechenland Bedarf anmelden.
Hinzu kommt, dass die Inanspruchnahme des ESM von den Spekulanten auf den Märkten als Einladung interpretiert wird, gegen die betreffenden Länder zu wetten. Bislang diente hier die EZB als letzter Schutzwall. Jedoch ist deren Mandat umstritten und im wahrscheinlich kommenden Fall steigender Zinsen für Staatsanleihen dieser Länder droht der alte Streit über die „direkte Staatsfinanzierung“ der EZB wieder aufzubrechen. Gewinner einer solchen Neuauflage des ideologischen Grabenkriegs zwischen den „Deutschen“, zu denen sich im monetaristischen Sinne auch noch die Niederlande, Österreich und Finnland zählen, und dem Rest der Eurozone sind jedoch – komme es, wie es wolle – letztlich nur die Spekulanten. Auch wenn Merkel, Scholz und Co. ihre Weigerung gerne unter dem Banner der „soliden Finanzpolitik“ verkaufen, ist ihre Halsstarrigkeit letztlich vielmehr eine wunderbare Gelegenheit für die Hedgefonds aus New York und London, dicke Renditen auf Kosten der angeschlagenen Länder der Eurozone zu machen.
Ein weiterer Mythos, der seitens der Bundesregierung gerne gestreut wird, ist, dass Deutschland von dieser rigiden Finanzpolitik profitiere. Vor allem in Krisenzeiten ist jedoch das genaue Gegenteil der Fall. Die Vorteile Deutschlands lassen sich dabei sogar an einem einzigen Finger abzählen. In der Tat dürften sich die Zinsen auf deutsche Staatsanleihen durch eine gemeinsame Haftung vielleicht um ein paar Basispunkte erhöhen; aber noch nicht einmal das ist klar, da es eine gigantische Nachfrage nach sicheren Anleihen gibt und es nach Marktlogik eigentlich keinen Grund geben sollte, gemeinschaftliche Anleihen, hinter denen das solide Euroflaggschiff Deutschland steht, nun signifikant schlechter zu bewerten. Und wenn dies wirklich passieren sollte, wäre es letztlich nur die Korrektur einer auch im historischen Kontext ungewöhnlichen Situation, in der Staaten Zinsen dafür bekommen, dass sie sich Geld ausleihen.
Wichtiger sind jedoch die Vorteile, die solche Corona- oder Euro-Bonds in Gestalt eines gemeinsamen Notfallfonds für Deutschland hätten. Denn nur eine ausreichende Refinanzierung der besonders betroffenen Staaten gibt ihnen die Möglichkeit, die realwirtschaftlichen Folgen der „Maßnahmen“ durch ausreichende Investitionen abzufedern. Gerade Deutschland ist wie kaum ein anderes Land der Welt als exportorientierte Volkswirtschaft davon abhängig, ausländische Abnehmer für seine Waren und Dienstleistungen zu finden. Länder wie Frankreich und Italien sind heute unsere wichtigsten Handelspartner. Hinzu kommt, dass die Coronakrise samt der angeordneten „Maßnahmen“ weltweit die Volkswirtschaften in eine tiefe Krise stürzt. Ob und wann die Nachfrage aus China, den USA oder Großbritannien wieder anzieht, liegt nicht im Einflussbereich der deutschen Politik. Ob und wann die Nachfrage aus Frankreich, Italien und Spanien wieder anzieht, liegt indes sehr wohl im deutschen Einflussbereich.
Wenn verquere Dogmen und die Ideologie des Monetarismus obsiegen und Deutschland dem wirtschaftlichen Motor der Eurozone die Starthilfe verweigert, wird es am Ende viele Verlierer geben. Und der größte „ideelle“ Verlierer wird der Gedanke eines gemeinsamen Europas sein. Wenn „Europa“ nicht mehr als ein Schlagwort von Sonntagsreden ist und die europäische Solidarität immer dann suspendiert wird, wenn sie eigentlich dringend nötig wäre, ist „Europa“ nur eine leere Hülle ohne Leben und ohne Zukunft. Die Salvinis, Le Pens, Wilders, Straches und Gauweilers werden diese Botschaft mit Freude vernehmen.
Aber wo sind eigentlich zur Zeit die “Pro-Europäer”, die bei jedem anderen Thema das blaue Banner mit den goldenen Sternen schwenken und Kritikern der real existierenden neoliberalen EU vorwerfen, “Anti-Europäer” zu sein? Jetzt wäre es wirklich an der Zeit, für Europa zu kämpfen … gegen Merkel, gegen Scholz und für die Solidarität. Aber vielleicht ging es besagten „Pro-Europäern“ ja auch nie um die Solidarität und vielmehr um den Machterhalt von Merkel und Scholz und ein Fortbestehen der real existierenden neoliberalen EU? Dann kommt die Kontaktsperre natürlich wie gerufen, hat man so doch wenigstens eine gute Ausrede, warum man jetzt nicht für Europa auf die Straße geht.
Titelbild: Alexandre Rotenberg/shutterstock.com