„Mein Vater war ungelernter Hilfsarbeiter, er hat als Möbelpacker geschuftet, um seine Familie mit Frau und vier Kindern durchzubringen“, sagt der Journalist Christian Baron im NachDenkSeiten-Interview. Baron, dem aus einfachen Verhältnissen der Bildungsaufstieg gelungen ist, weiß wie schwierig dieser Aufstieg in unserer Gesellschaft ist. In einem zweiteiligen Interview verdeutlicht Baron, dass es ein Mythos sei zu glauben, jeder könne aus eigener Kraft alles erreichen – sofern er sich nur hart genug anstrenge. Im Interview, wie in seinem neuen Buch „Ein Mann seiner Klasse“, gewährt Baron einen Einblick in sein Leben, erklärt, warum „Chancengleichheit“ hierzulande eine Illusion ist und zeigt, was die „Sozialpolitik“ der Bundesregierung in den vergangenen Jahrzehnten angerichtet hat. Von Marcus Klöckner.
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Herr Baron, Ihr neues Buch heißt „Ein Mann seiner Klasse“. Darin sprechen Sie viel über Ihren Vater. Mit einem „Mann seiner Klasse“ könnten, in gewisser Weise, aber auch Sie gemeint sein, oder?
In vielen Gesprächen, die ich bislang zum Buch hatte, wurde vorausgesetzt, dass mit dem „Mann seiner Klasse“ nur mein Vater gemeint sei. Das ist eine legitime Lesart, ich will und kann da gar keine einzig wahre Deutung vorgeben, es geht ja um Literatur. Für mich ergibt sich aber aus dem Text, dass der Titel in mehrfacher Hinsicht mehrdeutig ist. Zum einen beim Begriff der Klasse, mit dem die soziologische Kategorie ebenso gemeint ist wie „Klasse haben“ im Sinne eines Sozialverhaltens. Daraus folgt aus meiner Sicht, dass neben dem Vater auch andere Männer gemeint sind, die im Buch vorkommen. Und in Kombination mit dem Foto auf dem Cover, das meine Mutter zeigt, wird klar, dass es nicht nur ein Vater-Buch ist, sondern eines, das auch grundlegend etwas aussagen soll über unsere Klassengesellschaft.
Wer sich die öffentlichen Diskussionen der vergangenen Jahre vor Augen führt, kann zu der Einsicht gelangen, dass es keine „Klassen“ in Deutschland gibt. Der Begriff wirkt angestaubt, wie aus einer längst vergangenen Zeit, schließlich hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt. Diese Annahme wäre aber ein ziemlicher Unsinn. Natürlich gibt es „Klassen“. Wie sehen Sie das?
Zieht man die Trennung von Produktionsmitteln und die abhängige Lohnarbeit als Kriterien heran, dann war die Arbeiterklasse in der Geschichte der Bundesrepublik nie größer als heute. Der Kapitalismus ist eine Modernisierungsmaschine, die Innovation hervorbringt und den absoluten Wohlstand mehrt, aber ihre Früchte nicht dem Gemeinwohl zur Verfügung stellt, sondern ökonomische und politische Eliten systematisch privilegiert. Die oberen zwei Drittel der deutschen Haushaltseinkommen sind in den letzten beiden Jahrzehnten gewachsen, die unteren 40 Prozent, das sind 30 Millionen Menschen, haben Lohnstagnation oder sogar Verluste erlebt. Das Einkommen ist aber nicht der einzige Faktor für die Klassenlage. Auch der Grad an Ausbeutung ist wichtig. Dazu zählt nicht nur die übliche Ausbeutung durch Erwerbsarbeit, sondern auch die sekundäre Ausbeutung. Beispielsweise belasten für Menschen in Großstädten die drastisch gestiegenen Mieten die Haushaltseinkommen enorm. Ein wichtiges Element der Klassengesellschaft ist auch das Bildungssystem. Weil Kinder schon nach der Grundschule in mehrere Schulformen aufgeteilt werden, also schon mit zehn Jahren entscheiden sollen, ob sie mal Abitur machen oder nicht, kann es keine Chancengleichheit geben.
Was bedeutet es aus analytischer Sicht, wenn ein so wichtiger Begriff wie der der Klasse, vom Radar verschwindet?
Die größte Lüge des Kapitalismus ist leider auch eines seiner Erfolgsrezepte. Die Menschen haben sich einreden lassen, die Ökonomie sei nicht dem Willen der Menschen, sondern den Naturgesetzen unterworfen. Das stimmt einfach nicht. Alles, was von Menschen geschaffen wurde, kann auch vom Menschen verändert werden. Es ist nur eine Frage des politischen Willens. Die Eliten wollen nicht, dass sich etwas ändert. Stattdessen verbreiten sie noch immer den Mythos, jeder könne aus eigener Kraft alles erreichen, wenn er nur hart genug arbeite. Das hat historisch im Kapitalismus noch nie gestimmt, aber so falsch wie derzeit war es wohl seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr. Die Leute akzeptieren fast jede Ungleichheit, wenn sie sie als Ergebnis eines Wettbewerbs sehen. Darum hat sich die Vorstellung durchgesetzt, es gebe nur noch eine Gesellschaft sozialer Schichten, und jeder könne die Schicht nach Belieben wechseln. In westlichen Gesellschaften hat sich dadurch die fatale Idee etabliert, dass Arme selbst für ihre Lage verantwortlich sind. Man sagt dann: Alleinerziehend? Du hast dich doch scheiden lassen! Zu wenig Lohn? Du arbeitest ja auch nicht in Vollzeit! Keine unbefristete Stelle? Du hast eben am Markt vorbeistudiert mit deiner Germanistik! Kaum einer geht mehr einen Schritt zurück und fragt: Was wären denn die Alternativen gewesen? Hat man überhaupt Zugang zu Bildung? Ist eine Arbeit in Vollzeit mit anderen wichtigen Dingen im Leben vereinbar, wie der Pflege eines kranken Angehörigen oder der Kinderbetreuung? Wieso zur Hölle bezahlen Staat und Kapitalisten eine Altenpflegerin so schlecht? Lässt sich die Kürzung von Sozialleistungen wegen eines angeblichen Fehlverhaltens rechtfertigen oder nicht? Das Reden von Schichten hat dazu geführt, dass uns die Solidarität abhanden gekommen ist. Und die Gesellschaft hat das dialektische Denken dadurch ebenso vergessen wie das Handeln in Antagonismen. Die Interessen von Kapital und Arbeit sind nicht miteinander vereinbar. Das hat leider nur die Kapitalseite kapiert.
Aus welcher Klasse stammt Ihre Familie?
Wir sind Teil der Arbeiterklasse, zu der alle gehören, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu sehr ungleichen Bedingungen an Eigentümer der Produktionsmittel zu verkaufen, also an Unternehmer. Mein Vater war ungelernter Hilfsarbeiter, er hat als Möbelpacker geschuftet, um seine Familie mit Frau und vier Kindern durchzubringen. Weil er zu wenig Geld verdient hat, lebten wir in Armut. Das hat meinen Vater stark frustriert, weil er die Ideologie der Leistungsgesellschaft verinnerlicht hatte. Er war zu stolz, um ergänzende Sozialhilfe zu beantragen. Es sagt viel aus über eine Gesellschaft, wenn ein soziales Recht so stigmatisiert ist, dass Leute lieber hungern, als es in Anspruch zu nehmen. Mein Vater dachte ernsthaft, wer sich nur genug anstrenge, dem werde es schon irgendwann von allein wieder gut gehen. Er hat seinen Zorn leider nicht an das kapitalistische System und seine Repräsentanten gerichtet, sondern wurde zum Säufer. Und er hat meine Mutter und uns Kinder verprügelt.
Ihr Buch ist voller Beispiele, die einen guten Eindruck vermitteln, wie es sein kann, wenn man in so einem Milieu, wie Sie es beschreiben, sozialisiert wird. Würden Sie ein, zwei Beispiele geben, um uns die Welt Ihrer Kindheit, Ihrer Jugend vor Augen zu führen?
Mein Vater vermittelte uns Kindern ein Männlichkeitsbild, über das linksliberale Akademiker gern die Nase rümpfen. Für mich aber war es ein Ideal. Ich wollte ein „richtiger Mann“ sein. Ich verehrte die starken Hände meines Vaters und wollte später einmal wie er mit einer „Männerarbeit“ mein Geld verdienen. Ich mochte seine Tätowierungen und trug Klebetattoos auf meinen Oberärmchen. Ich bestaunte seinen Bizeps und stolzierte wie er mit freiem Oberkörper durch die Gegend. Ich trank Milch aus dem Schoppenglas und bezeichnete sie als „Weißbier“. Ich sah die Filme von Jean-Claude van Damme und spielte mit meinem Bruder die Kampfszenen nach. Eine andere Sache war, dass ich jenseits der Versuche meiner Mutter, mich zum Lesen zu bringen, nie mit bildungsbürgerlichen Werten in Berührung kam. Für uns war der Fernseher das Fenster in die Welt dort draußen, weshalb dieses Gerät für mich bis heute ein magisches ist. Auch so eine Vorliebe, mit der man sich unter gepudert aufgewachsenen Mittelklassekids keine Freunde macht.
Ein weiteres Beispiel?
Wir entsprachen in vielem ganz und gar nicht den Klischees, die es über „die Unterschicht“ gibt. Meine Mutter wollte immer Lyrikerin werden, sie schrieb politisch engagierte und wirklich schöne Gedichte. Mein Vater wiederum hatte kein Problem damit, dass ich mich gern als Frau verkleidete. Und meine Tante, bei der ich nach dem frühen Tod meiner Mutter aufgewachsen bin und die ebenfalls keinen bildungsbürgerlichen Weg eingeschlagen hat, hat große Wut auf die Politik, aber sie käme wie fast alle in meiner Familie niemals auf die Idee, eine rassistische und neoliberale Partei wie der AfD zu wählen.
Nun sind Familienkonstellationen in allen Schichten vielfältig. Sie erzählen von den Verhältnissen in Ihrer Familie. In anderen Familien, die in Armut leben, mag es ganz anders sein. Allerdings dürfte es eben doch grundlegende Überschneidungen geben. Stimmen Sie dem zu?
Klar, Alkoholismus und männliche Gewalt sind klassenübergreifende Phänomene. Unabhängig davon geht es für arme Menschen oft um das nackte Überleben. Ganz wichtig ist es zu verstehen, dass Armut kein Phänomen ist, das sich auf den globalen Süden beschränkt. Nach Zahlen der UNICEF von 2017 sind elf Prozent der spanischen Kinder unter zehn Jahren unterernährt. In den Schulen der ärmeren Stadtteile in Deutschland bringen die Lehrer Brot und Milch in die Schule mit, weil viele Kinder morgens blass und mit leerem Magen ankommen. Das ist kein Naturereignis, sondern das beabsichtigte Ergebnis der Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte.
Was heißt es, in einer Familie der Unterschicht aufzuwachsen? Wo dürften die Überschneidungen liegen?
Bei mir hat sich die Armut von klein auf materiell bemerkbar gemacht. Dass wir manchmal zu wenig zu essen hatten. Dass wir in einer dunklen Wohnung saßen, weil die Stromrechnung nicht zu bezahlen war. Dass wir keine Heizung und nur einfach verglaste Fenster hatten und deshalb der Schimmel in der Wohnung blühte. Dass wir als Kinder nicht an Klassenfahrten teilnehmen konnten. Dazu kommt die soziale Abwertung, die für Kinder schon in der Grundschule schmerzhaft zu spüren ist, wenn sie sich mit den Mitschülern vergleichen müssen. Für die Leute waren wir „Unterschicht“, „Asoziale“, „Barackler“ – und das, obwohl mein Vater ja immer gearbeitet hat, also ein richtiger Proletarier war.
Was bedeutet das nun für das Individuum?
Neun Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland leben heute unterhalb der Armutsgrenze. Sie schuften sich kaputt und müssen trotzdem Hartz 4 beziehen. Das ist eine Demütigung, die auch den Kindern nachhaltig jeden Antrieb nehmen kann, jeden Glauben daran, einen Ausweg zu finden. Außerdem ist die Art von Herzensbildung, die man oft in materiell armen Familien mitbekommt, im späteren Leben als Bildung wertlos. Das fängt beim Sprechen im Dialekt an und geht bis hin zu Fähigkeiten wie die intuitiv richtige, aber aus bildungsbürgerlicher Sicht nicht erwünschte Kindererziehung, wenn man seine Sprösslinge etwa fernsehen lässt oder als Vater oder Mutter sein Kind lieber zu Hause betreut, anstatt es in eine Kita zu geben und selbst einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Deshalb ist es unendlich wichtig, dass Kinder sehr früh Anerkennung und Hoffnung bekommen, damit sie Bildungshunger entwickeln können. Das zeigt, wie leicht es sich privilegiert Aufgewachsene machen, wenn sie sagen, es gebe doch überall Leihbüchereien und das Internet, jeder könne sich informieren und bilden. Man ist immer abhängig von seinem sozialen Umfeld und der Hilfe durch andere.
Sie sind, wenn man so will, ein „Klassenaufsteiger“. Ihnen ist der Bildungsaufstieg gelungen. Sie sind Journalist, nun auch Beststeller-Autor. Da könnte man leicht sagen: Aufstieg ist in unserer Gesellschaft möglich, alles ist gut. Aber so einfach ist es nicht, oder?
70 Prozent der Akademikerkinder in Deutschland studieren, 20 Prozent der Nicht-Akademikerkinder – und da sind die ökonomisch oft noch gut abgesicherten Facharbeiterkinder schon mitgerechnet. Wer da noch sagt: „Wer sich nur genug anstrengt, der schafft es auch“, der geht davon aus, dass Menschen aus armen Haushalten von Natur aus fauler und dümmer seien als Menschen aus Akademiker-Haushalten. Will wirklich jemand so argumentieren? Dass ich sozial aufgestiegen bin, lag nicht an meiner Leistung oder meiner Begabung, sondern nur daran, dass es Menschen gab, die mir Türen geöffnet haben. Von ganz allein wäre mir der Weg zu Abitur, Studium und Journalismus niemals gelungen, da hätte ich der klügste kleine Junge der Welt sein können. Das ist eine echte Kränkung fürs Ego, weil unser Selbstwertgefühl im Kapitalismus immer darauf beruht, dass wir unsere Erfolge auf eigene Leistung zurückführen. In meinem Buch zeichne ich nach, dass es in meinem Fall Leute gab wie meine Mutter, meine Lehrerinnen, meine Tanten oder das Jugendamt, die frühzeitig in mir ein bildungshungriges Kind gesehen haben, das es zu fördern gilt.
Lesetipp: Baron, Christian: Ein Mann seiner Klasse. Claassen. Hardcover. 288 Seiten. 20 Euro. Erschienen: 31.Januar 2020.
Titelbild: Hans Scherhaufer