Großbritannien: COVID-19 – Unsere Führungsfiguren haben Angst. Nicht vor dem Virus – vor uns

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In ungeahntem Ausmaß schütten westliche Regierungen Geld aus, vorgeblich, um Millionen von Menschen vor den größten Härten des wirtschaftlichen Stillstandes zu schützen. Dabei geht es ihnen aber um etwas anderes: Den Versuch, das kollabierende kapitalistische System krampfhaft am Leben zu halten. Es gilt zu kaschieren, dass der Neoliberalismus vollkommen außerstande ist, die Krisen zu lösen, die er erzeugt hat, meint Jonathan Cook. Übersetzt von Susanne Hofmann.

Man kann ihn förmlich riechen, den Angstschweiß, der aus den Poren von Fernsehsendungen und Posts in den Sozialen Medien dringt: jetzt, wo es unserem politischen und medialen Establishment endlich dämmert, was das Coronavirus eigentlich bedeutet. Und ich spreche hier nicht von der Gefahr, die für unsere Gesundheit besteht.

Eine Weltsicht, die über beinahe zwei Generationen jede andere Denkweise übertönt hat, kracht in sich zusammen. Sie hat keine Antworten auf unser aktuelles Dilemma. Es liegt eine Art tragisches Karma in der Tatsache, dass heute so viele große Länder – gemeint sind wirtschaftsstarke Länder – von jenen geführt werden, die ideologisch, emotional und spirituell am wenigsten dafür gerüstet sind, mit dem Virus fertigzuwerden.

Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit überall im Westen, doch Großbritannien stellt eine besonders aufschlussreiche Fallstudie dar.

Schleppendes Handeln

Am Wochenende kam heraus, dass Dominic Cummings, der ideologische Taktgeber hinter Großbritanniens clowneskem Premierminister Boris Johnson, hauptsächlich dafür verantwortlich war, dass die britische Regierung auf das Coronavirus so zögerlich reagiert hat und damit das Land auf den (schlechten) italienischen Weg der Ansteckung geführt hat und nicht auf den (guten) Weg, den Südkorea eingeschlagen hat.

Laut Medienberichten am Wochenende stoppte Cummings anfangs die Maßnahmen der Regierung und führte hinsichtlich der kommenden Seuche ins Feld, „falls es bedeutet, dass einige Rentner sterben, tja Pech.“ Dieser Ansatz erklärt, weshalb viele Tage lang nichts geschah, man danach noch einige Tage zögerte und erst jetzt zu einem Entschluss kam.

Selbstverständlich leugnet Cummings, dies je geäußert zu haben und nennt die Behauptung „verleumderisch“. Doch lassen wir die Formalitäten mal beiseite. Zweifelt denn wirklich – wirklich – jemand daran, dass das der erste Gedanke war, der Cummings und dem halben Kabinett kam, als sie mit einer drohenden Ansteckung konfrontiert wurden? Schließlich erkannten sie, dass dadurch eine Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie ins Wanken gebracht wurde, der sie ihre gesamte politische Karriere verschrieben hatten, um sie in eine Sekte für die Massen zu verwandeln. Eine Wirtschaftstheorie, der sie – durch glückliche Fügung – ihre politische Macht und ihr Klassenprivileg verdanken.

Und wie es der Teufel will, verwandeln sich diese radikalen Monetaristen bereits still und leise in Möchtegern-Sozialisten, um die allerersten Wochen der Krise zu überstehen. Es liegen aber noch viele lange Monate vor ihnen.

Austerität wird ausrangiert

Wie ich in meinem letzten Beitrag voraussagte, hat die britische Regierung in der letzten Woche die Austeritätsmaßnahmen abgestoßen, die doch seit mehr als einem Jahrzehnt den Markenkern der Conservative-Party-Lehrmeinung darstellten, und kündigte einen Geldsegen an, um Unternehmen zu retten, deren Geschäfte nun lahmgelegt sind, sowie Mitglieder der Öffentlichkeit, die nicht mehr in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Seit dem Finanzcrash von 2008 haben die Tories die Sozialausgaben radikal zusammengestrichen und so eine gigantische Unterklasse in Großbritannien geschaffen. Sie haben bewirkt, dass die örtlichen Behörden mittellos dastehen, außerstande, das Defizit auszugleichen. Die letzten zehn Jahre entschuldigte die konservative Regierung ihr brutales Vorgehen mit dem Mantra, es gebe schließlich keinen „magischen Geldbaum“, um in schwierigen Zeiten für Abhilfe zu sorgen.

Der freie Markt, so ihre Argumentation, sei der einzige fiskalisch verantwortungsvolle Weg. Und in seiner unendlichen Weisheit entschied der Markt, dass das eine Prozent – die Millionäre und Milliardäre, die die Wirtschaft in die Finanzkrise von 2008 bugsiert hatten – sich noch schamloser bereichern sollten, als es ohnehin der Fall war. Wir Übrigen konnten dagegen dabei zusehen, wie unsere Löhne und Chancen zusammenschnurrten, damit das eine Prozent noch mehr Vermögen auf Offshore-Inseln bunkern konnte, unerreichbar für uns und die Regierung.

Der „Neoliberalismus” wurde zum mystifizierenden Begriff, mit dem man den nicht nachhaltigen Konzernkapitalismus im Spätstadium nicht nur als vernünftiges und gerechtes System neu interpretierte, sondern als einziges System, das ohne Gulags oder Warteschlangen auskam.

Dem Neoliberalismus schlossen sich nicht nur britische Politiker (einschließlich der meisten Labour-Abgeordneten) an, sondern auch die gesamte Medienlandschaft, auch wenn der „liberale“ Guardian hin und wieder halbherzig barmte, ob es nicht an der Zeit sei, diesen Turbokapitalismus ein wenig fürsorglicher zu gestalten.

Nur verblendete, gefährliche Jeremy-Corbyn-Anhänger sahen es anders.

Eigennütziges Märchen

Doch plötzlich, so scheint es, haben die Tories den magischen Geldbaum doch noch gefunden. Er stand immer da und ist offenbar üppig bestückt mit tiefhängenden Früchten, von denen wir Übrigen uns bedienen dürfen.

Man muss kein Genie wie Dominic Cummings sein, um zu erkennen, wie politisch furchterregend dieser Moment für das Establishment ist. Die Story über die unerbittlichen ökonomischen Realitäten, die sie uns 40 Jahre lang oder länger erzählt haben, wird derzeit als eigennütziges Märchen entlarvt. Man hat uns angelogen – und das werden wir bald ganz deutlich erkennen.

Darum hat der Tory-Politiker Zac Goldsmith, Sohn eines Milliardärs, der kürzlich ins House of Lords aufstieg, jeden als „Trottel“ bezeichnet, der die Unverfrorenheit besaß, Boris Johnson „ungefragt zu kritisieren“. Und aus diesem Grund hat die gefeierte „politische Journalistin“ Isabel Oakeshott – vormals bei der Sunday Times und regelmäßiger Gast der Sendung Question Time der BBC – auf Twitter Mike Hancock und Johnson für ihre Selbstaufopferung und ihr Engagement für das Wohl der Öffentlichkeit im Umgang mit dem Virus Beifall gespendet.

Machen Sie sich darauf gefasst. In den kommenden Wochen werden immer mehr Journalisten wie der Pressekorps Nordkoreas klingen, mit Lobeshymnen an „den guten Führer“ und der Aufforderung, darauf zu vertrauen, dass er schon am besten weiß, was in unserer Stunde der Not zu tun ist.

Die Verzweiflung der politischen und medialen Kaste hat einen triftigen Grund – ein Grund, der uns genauso große Sorgen bereiten sollte wie das Virus selbst.

Vor zwölf Jahren wankte der Kapitalismus am Rande des Abgrunds, seine strukturellen Schwächen wurden für jeden offensichtlich, der es sehen wollte. Die Finanzkrise von 2008 hat dem globalen Finanzsystem beinahe den Garaus gemacht. Es wurde aber von uns, der Allgemeinheit, gerettet. Die Regierung griff tief in unsere Taschen und übergab unser Geld den Banken. Oder vielmehr den Bankern.

Durch die Bankenrettung retteten wir die Banker – und die Politiker – vor ihrer wirtschaftlichen Inkompetenz und man nannte das wiederum verschleiernd „quantitative Lockerung“.

Doch das wurde uns nicht vergolten. Die Banken gingen nicht in unseren Besitz über, wir erhielten keine bedeutsame Beteiligung an ihnen. Wir bekamen im Gegenzug für unsere riesige öffentliche Investition nicht einmal die Aufsicht darüber. Sobald wir sie gerettet hatten, gingen die Banker sogleich wieder dazu über, sich selbst und ihre Freunde zu bereichern, wie sie es zuvor getan und damit 2008 die Wirtschaft abgewürgt hatten.

Die Bankenrettung hat den Kapitalismus nicht repariert, sie hat seinen unvermeidlichen Zusammenbruch lediglich eine Weile aufgeschoben.

Der Kapitalismus ist immer noch strukturell fehlerhaft. Seine Abhängigkeit von einem endlos wachsenden Konsum kann keine Antwort liefern für die Umweltkrisen, die ein solcher Konsum notwendigerweise zur Folge hat. Volkswirtschaften, die künstlich „wachsen“, während zugleich Ressourcen schwinden, erzeugen letzten Endes Blasen von Nichts – Blasen, die bald wieder platzen werden.

Überlebensmodus

Das Virus zeigt einige dieser strukturellen Mängel – eine frühe Warnung vor dem umfassenderen Umweltnotstand und eine Erinnerung, dass der Kapitalismus, indem er ökonomische Gier mit der Umweltgier verschränkt, dafür sorgt, dass beide Bereiche zugleich zusammenbrechen.

Pandemien wie diese sind das Ergebnis unserer Zerstörung natürlicher Lebensräume – wir züchten Rinder für Burger, pflanzen Palmen für Kuchen und Kekse, fällen Bäume für Möbel zum Selbstaufbauen. Tiere werden immer dichter zusammengetrieben, so dass sich Krankheiten zwangsläufig über Artgrenzen hinweg ausbreiten. Und dann gelangen Krankheiten in einer Welt der Billigflüge leicht und schnell in alle Winkel des Planeten.

In Wahrheit bleiben dem Kapitalismus in Zeiten des Zusammenbruchs wie diesem, der seit einem Jahrzehnt währt, nur „magische Geldbäume“. Der erste, Ende der 2000er Jahre, war für die Banken und Großkonzerne reserviert – die Vermögenselite, die jetzt unsere Regierungen als Plutokratien beherrscht.

Der zweite „magische Geldbaum”, der gebraucht wird, um mit den weitaus katastrophaleren volkswirtschaftlichen Kosten fertig zu werden, die uns das Virus beschert, musste seine Äste bis zu uns ausstrecken. Doch Vorsicht. Die Freigiebigkeit wurde nicht auf einen größeren Kreis erweitert, weil sich der Kapitalismus auf einmal um die Obdachlosen und Almosenempfänger sorgt. Der Kapitalismus ist ein amoralisches Wirtschaftssystem, das von der Profit-Akkumulierung für die Kapitaleigner angetrieben wird. Und das sind nicht du oder ich.

Nein, der Kapitalismus ist nun im Überlebensmodus. Aus dem Grund werden westliche Regierungen, jedenfalls für eine gewisse Zeit, versuchen, Teile ihrer Öffentlichkeit zu „retten“ und ihnen einen Teil des kommunalen Vermögens zurückzugeben, das der Allgemeinheit jahrzehntelang entzogen wurde. Diese Regierungen werden versuchen, die Tatsache noch ein wenig länger zu kaschieren, dass der Kapitalismus vollkommen außerstande ist, die Krisen zu lösen, die er erzeugt hat. Sie werden versuchen, unsere Unterordnung unter ein System zu sichern, das unseren Planeten und die Zukunft unserer Kinder zerstört hat.

Das wird nicht ewig funktionieren, was Dominic Cummings nur allzu bewusst ist. Das ist der Grund, warum die Regierung Johnson, wie auch die Trump-Administration und ihre Abziehbilder in Brasilien, Ungarn, Israel, Indien und anderswo dabei sind, drakonische Notstandsgesetze zu formulieren, mit denen ein längerfristiges Ziel verfolgt wird als das gegenwärtige der Ansteckungsverhütung.

Westliche Regierungen werden zu dem Schluss kommen, dass es an der Zeit ist, das Immunsystem des Kapitalismus gegen ihre eigene Öffentlichkeit in Stellung zu bringen. Es besteht die Gefahr, dass sie – angesichts der Chancen, die sich hier bieten – anfangen werden, uns und nicht das Virus als die eigentliche Plage zu behandeln.