„Altersrassismus“ – Kann man die Isolation von Risikogruppen wirklich so bewerten?
Der Bundestagsabgeordnete der Linken, Diether Dehm, und der SPD-Abgeordnete Christian Petry haben zusammen einen Text verfasst mit der Überschrift „Altersrassismus oder Corona-Realismus?” und den NachDenkSeiten zur Veröffentlichung angeboten. Das soll geschehen, obwohl der Text mich nicht überzeugt. Er ist aber ein gutes Beispiel dafür, wie man die Sache auch sehen kann. Albrecht Müller.
Warum die kritische Bewertung? Ich zitiere den ersten Absatz des Textes von Dehm und Petry:
„Sicher, der Strategie tritt gerade der eine oder andere Journalist und selbst der eine oder andere enge politische Freund näher: Risikogruppen (wie Ü-60-Jährige) werden von der infektiösen Bildfläche weggesperrt, damit die ‚Wirtschaft wieder rollt‘“.
Wie bitte? Ich stelle mir vor, der Leserbriefschreiber, der der Redaktion der NachDenkSeiten vor kurzem geschrieben hat, dass er arbeitslos war, sich selbstständig gemacht hat und jetzt alles, was er in seiner Not aufgebaut hat, kaputt geht und er wieder vor dem Nichts steht, liest den ersten Absatz von Dehm und Petry. Er wird die Welt nicht mehr verstehen. Und ich kann als „Ü-60-Jähriger“ ergänzen, dass ich mich im Interesse der Existenzrettung von Millionen jüngerer Menschen gerne von der “infektiösen Bildfläche wegsperren” lasse bzw. selbst den Rückzug antrete.
Soweit die Vorbemerkung, und jetzt der Text von Diether Dehm und Christian Petry:
Altersrassismus oder Corona-Realismus?
Von Diether Dehm (Die LINKE)[*] und Christian Petry (SPD)[**]
Sicher, der Strategie tritt gerade der eine oder andere Journalist und selbst der eine oder andere enge politische Freund näher: Risikogruppen (wie Ü-60-Jährige) werden von der infektiösen Bildfläche weggesperrt, damit die „Wirtschaft wieder rollt“.
Sollen aber die kulturellen und rechtsstaatlichen Bedenken dabei auch weggesperrt werden? Wenn der Grüne Boris Palmer für die „langfristige Isolation von Risikogruppen“ wirbt? Immerhin: bei Olaf Scholz regt sich der Sozialdemokrat und er protestiert dagegen: Menschenleben hätten Vorrang vor Wirtschaft (obwohl, logisch: der Niedergang von Wirtschaft hat auch mit Menschensterben zu tun).
Der Isolier-Gedanke ploppt immer öfter auf und in die Breite. Von Pressekonferenzen aus Krankenhäusern und Pflegeheimen als pragmatische Prioritätensetzung unter deren Beatmungs- und Betreuungsengpässen. Doch der Gedanke findet sich auch in finsterem Zynismus in der Unterhaltungskunst.
Der Hollywood-Sciencefiction „Soylent Green“ aus 1973 hat plötzlich einen enormen Anstieg an Zugriffen. Edward G. Robinson spielte dort 1973 den alten, wohnungsvertriebenen Sol Roth, der sich bei Beethovens „Pastorale“ 2022 einschläfern und wie zigtausende Andere zu synthetischem Soylent-Futter verarbeiten lässt. Und zwar durch einen Nestle-ähnlichen Konzern. Zur Notnahrung einer hungernden US-Bevölkerung nach einer Klima- und Nahrungskatastrophe, in einem Polizeistaat, welcher Ansammlungen verbietet.
So schlimm wird es wohl nicht kommen. Aber Altendiskriminierung schuf enormen Raum für derlei Dystopien, seit Rentenprivatprofiteure wie „Allianz“, Maschmeyer & Co jungen Rentenzahlern per großangelegtem Lobby- und Medienaufwand demographisch demagogisch Ängste und Hass auf „die alten Schmarotzer“ einzuflößen versucht haben. Dabei wären die Rentenkassen beim gleichzeitigen Älterwerden der Alten sicherer, wenn allein die Zahl der Tariflöhne verdoppelt würde und erst recht, wenn alle einzahlen würden.
„Herdenimmunisierung“ ohne Alte klingt plausibel. Und wer dann die Alten wegschließen möchte, betont selbstredend, alles sei zu „ihrem Besten“ und appelliert an deren Eigenverantwortung beim „Cocooning“ (Mode-Begriff in Irland für Abkapselung & Fütterung von Alten). Es seien zwar die infizierten Jungen, die die Risikogruppe der über 60-Jährigen gefährden, aber immerhin: Arbeitskraft und körperliche Abwehrkräfte der Älteren seien ja ohnehin reduziert, vorerkrankt, vernutzt. Und zudem ohne lange Verwertungsperspektive.
Dies wird von einer Marktwirtschaft propagiert, deren Trumpf-Ass-Karte aber im Ärmel steckenbleibt: mit Erhöhung des MarktANGEBOTS nämlich zu locken. Mit einem Mehr an Sport, Transport, ambulanter Pflege und Kultur für Ältere, also mit einer öffentlichen Infrastruktur, die vorzugsweise in deutschen Dörfern seit Jahrzehnten unter Null gefahren worden war. Es ist mit der Einschränkung von Versammlungsfreiheit wie mit dem Gewaltmonopol und Polizei: was der Staat persönlich entzieht, sollte er öffentlich-rechtlich ersetzen. Aber der „Neoliberalismus“ (weshalb bereits Hermann Scheer vor diesem schönenden Kampfbegriff warnte) betreibt in Wahrheit die Beschränkung von Freiheiten für die „unteren“ Zweidrittel. Wäre er vor Jahrzehnten gegen die damaligen Alten vorgegangen, also gegen die in der formierten Gesellschaft von 1968 mit NS-Hintergrund, autoritärer Freiheitsentzug wäre leichter von der Hand gegangen.
Aber die Alten von heute hatten mal an Willy Brandts „Mehr Demokratie“ geschnuppert, gegen Pershings getanzt und manchmal sogar Marx, Marcuse und Abendroth gelesen – sind also oft zu renitent, um sich auf Dauer Versammlungen verbieten zu lassen und zu „altmodisch“ für Skype-Konferenzen statt Live-Debatten und Demos.
Und sie haben einige schlechte Erfahrungen mit dieser sozialen und kulturellen Konzernhegemonie: das Abwracken von Kapitalsteuern, Pflege, Renten und Löhnen geschah immer dann, wenn die Unteren den Oberen etwas kampflos überließen. Also reagieren diese heutigen Alten nicht eben nur dankbar, wenn ausgerechnet die, die sie wegschließen möchten, genau die sind, die für Versaubeutelung von Schutzmasken, Atemgeräten und Pflegepersonal und für die Privatisierung von Krankenhäusern verantwortlich waren.
Gäbe es also nicht dieses vorbelastete Verhältnis zwischen den Oberen und ihren Unteren, hätte es den Heißhunger der Konzerne nie gegeben und die Nimmersatten, die auf jedweder Not steigenden wie fallenden Kurs spekulieren, einige Maßnahmen klängen pragmatisch und plausibler und würden jetzt nicht mit derart verschwörungstheoretischer Bösgläubigkeit verhandelt: was du den Herrschenden kampflos delegierst – wann kriegst du es jemals zurück? Dieser Dialog zwischen Unten und Oben ist kontaminiert. Aus befristeter Einschränkung von (auch bürgerlich parlamentarischer) Freizügigkeit ersteht flugs ein demokratiepolitisches Angstszenario: George Orwell meets „Soylent Green“.
Dabei wäre es nur logisch, nicht durch flächendeckenden Shutdown ein Übermaß an wirtschaftlichem Dauerschaden zu erzeugen, wonach und wodurch bald noch mehr Menschenleben und Sozialstaat zerstört sein dürften. Risikogruppen auf Distanz zu bringen, hätte Sinn. Aber die Sorge, demnächst selbst als Arbeitskraftverkäufer*In vom Mainstream der Kapitalisten geteert, gefedert und an den Pranger genagelt zu werden, wenn man uneinsichtig ist und solidarisch mit Anderen demonstriert, liefert den Argwohn.
Wir wissen nicht, wie die Coronapandemie letzlich verläuft und welche dramatischen Auswirkungen auf Leib und Leben der Menschen sie noch haben kann. Noch liegt das Mortalitäts-Geschehen des CoVid 19 in Deutschland weit unter dem der multiresistenten Keime, die aufgrund der spekulativen Pflegekürzung und Hygieneeinsparung der letzten Jahrzehnte jährlich Leben in Größenordnung einer deutschen Stadtbevölkerung vernichtet. Wenn nun dafür die Wirtschaft weiter gedownshuttet wird, spricht der Volksmund allmählich vom Schießen „mit Kanonen auf Spatzen“ und meint damit nicht nur die Unverhältnismäßigkeit, sondern auch Vergeblichkeit des Unterfangens.
Wären da konzentrische Maßnahmen gegen Alte und andere Risikogruppen nicht maßvoller, oder, wie sagt man, „zielführender“? Zumal, zynisch weitergesponnen, alte und andere teilverbrauchte, teilbeschädigte Arbeitskräfte nicht ohnehin aus den Augen aus dem Sinn gehören, wenn sie ihren Job bereits hinter sich haben? Wie erfrischend waren die Alten denn in Werbeplakaten und Popsongs? Und dann war da noch das Gerede von der „Tyrannei der alten weißen Männer“ und „unserer Oma als alte Umweltsau“, weil sie bei Lidl immer noch ihr Kotelett zum Billigpreis einkauft? Geiz ist geil. Aber nicht der Geiz der Alten.
Wir haben in unserem „Rotroten Buch zum Älterwerden, Respekt und Rente“ gemeinsam mit Sahra Wagenknecht, Martin Schulz, Konstantin Wecker und anderen ein paar Argumente gegen diese diskriminierende Sicht aufs Alter (einige sprechen sogar von „Altersrassismus“) zusammengestellt und erlauben uns, hier diese Argumentation nicht noch einmal wiederholen zu müssen. (Immerhin: der Eulenspiegel-Buch-Verlag sollte in diesen KMU-fressenden Zeiten auch überleben und Bücher verkaufen!)
Der Staat spendet gerade stehende Ovationen und zieht den Hut für Pflegekräfte: in einem Respekt, der oft so tiefempfunden herzlich klingt wie der „Freundschafts“-Button bei Facebook oder wenn sich alle 11 Minuten ein Paar auf Parship „verliebt“. Wenn dann die Pflegekräfte aber 20 % mehr Lohn fordern, setzen sich viele im Staat den Hut (besser: die Stamokappe) wieder auf: „soweit sollten wir denn dann doch nicht gehen“.
Wichtig ist aber, zusätzlich auf einige medizinische und soziale Widersprüchlichkeiten bei einem allzu forschen Alte-Wegschliessen hinzuweisen:
- die Ausbildung von Antikörpern (Immunisierung) ist – bevor es einen validen Impfstoff gibt – immer verbunden mit einer erhöhten Sterberate. Und zwar ab einem Alter, in dem das Immunsystem über sinkende Potenziale verfügt. Dennoch sollte das „Immun-Argument“ nicht mechanisch hingenommen werden: wie stark körpereigene Abwehrkräfte über dem 60. Lebensjahr nach unten gehen, ist auch in der Hand der Gesellschaft und ihrer Träger, deren Alkohol und Nikotingenuss, Schlaftiefe, Arbeitszeitregime, körperlich sportlichem und psychischem Ausgleich usw..
- alle seriöse Gesundheitsforschung weist darauf hin, dass das Immunsystem keine außerhalb der Psychosomatik geparkte Struktur ist, sondern auch eng damit zusammenhängt, wie entfremdet und zerstörerisch die Arbeit in den vergangenen Lebensjahrzehnten verlaufen war und weiter verläuft. Deswegen sollte sich auch nicht zu viel politische Bequemlichkeit breitmachen, das ganze Problem auf den dämonischen Kugelkopf eines Virus einzugrenzen, ohne den Gesamtzusammenhang zu sozialen Lebens-Konditionen herzustellen, die im wesentlichen Ausmaß auch von dem abhängen, was Arbeitsstress genannt und in engem Zusammenhang mit „Vorerkrankung“ genannt werden sollte
- Ach ja, und wenn die über 60-Jährigen von jüngeren MitarbeiterInnen distanziert werden sollen, dann ist doch Betrieb und Arbeitsplatz als Hauptinfektionsherd die erste Adresse. Dann darf auch offensiver für ein Renteneintrittsalter ab 60 geworben werden, statt – wie von F. Merz – ab 70
- Denn, ja: welche/r Alte will sich aus kulturellen Zusammenhängen mit Jüngeren herausdrängen lassen, wenn davon junge Börsenhaie profitieren, die jetzt auf fallende Kurse wetten oder ihr Pulver für Aktien- und Firmenaufkäufe nach der Krise trockenhalten? Für diese Profiteure sollen jetzt Konzerne und Verluste verstaatlicht und dann, nach erneuertem Gewinnsprudeln, wieder privatisiert werden?
Wohlbemerkt: es geht jetzt um Lösungen und nicht erst nach Abschaffung des Kapitalismus. (Dieser vermag nämlich auch weniger neoliberal zu überleben). Wenn nun DIESE Bundesregierung JETZT mit allerlei rhetorischem und medialem Aufwand vom Parlament, von Älteren und Risikogruppen fordert, erhebliche Rechte und Freiheiten an den Staat abzutreten, dann ist doch ihre Legitimationsbasis für diese gewaltige Aufgabe doch zu dünn – wiewohl es die Große Koalition gibt und wiewohl die CDU nun über 30 % ansteigt.
Das Misstrauen gegen vergangene Regierungen und deren Parteien ist auch zu sehr angewachsen; die Privatisierungs-Raubzüge in Gesundheit, Pflege, Rente, Bahn, Finanzsektor und Sozialstaat in zu böser, frischer Erinnerung. Und die Angst ist auch zu groß vor modisch wohlfeiler Alterdiskriminierung, die sich mit Krisenbewältigern und Profiteuren verbündet.
In Italien wird breit von einer „Regierung der nationalen Einheit“ gepostet. Orban macht sich gerade zum Diktator, zumindest auf Zeit. Wer bei uns dem Staat gravierende persönliche Rechte (nicht nur von Risikogruppen) abzutreten propagiert und dies auf echte breitmehrheitliche Akzeptanz zu basieren wünscht, darf nicht länger vor privaten Riesenvermögen und Profiteuren halt machen. Und der muss sofort die Basis der Bundesregierung relevant verbreitern. Und zwar um entschiedene KapitalismuskritikerInnen und standfeste Gewerkschafter!
Die staatliche Legitimationsbasis muss tragfähiger werden. Nicht nur, um das mindeste Vertrauen auf die Rückgabe von bürgerlichen Bewegungs-Freiheiten nach der Krise zu verstärken, sondern auch um zumindest Teile des wohlbegründeten Misstrauens gegenüber diesem Staat zu überwinden, was sich in den letzten Jahren auf teilweise skurrilen Projektionsflächen und Artikulationsalternativen für oder gegen Deutschland verlagert hat und was wieder für demokratisch legitimierte Bezüge im Rahmen des gelebten Grundgesetzes und seiner Sozialstaatlichkeit zurückgewonnen werden sollte.