Westliche Sanktionen terrorisieren zahlreiche Länder – der Virus-Krise zum Trotz. Mächtige Staaten treten die internationale Solidarität mit Füßen. Gleichzeitig werden chinesische Hilfslieferungen in die EU sabotiert. Derweil schickt Kuba seine Ärzte in die Krisengebiete und Russland hilft Italien. Die aktuelle (zusätzliche) Erosion des Rufes der EU und der USA ist atemberaubend. Zusätzlich gerät der in der Krise besonders destruktiv wirkende Neoliberalismus unter Beobachtung. Sogar das „Manager-Magazin“ muss zugeben: „Die Systemfrage liegt auf dem Tisch und der Westen macht keine gute Figur.“ Von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Die hinter den Phrasen von der Demokratie versteckte Unmenschlichkeit westlicher Wirtschaftssanktionen wird im Zuge der Verwerfungen durch die Corona-Krise nochmals deutlicher als zu anderen Zeiten. Diesen Befund haben auf den NachDenkSeiten etwa gerade Oskar Lafontaine in diesem Artikel und Albrecht Müller in diesem Artikel festgestellt. Die durch die US-Sanktionen erheblich verschärfte Corona-Situation in Iran haben die NachDenkSeiten gerade in diesem Artikel beschrieben.
Im vorliegenden Artikel soll die Kontroverse über das medizinische Gefahrenpotenzial des Virus und über die Angemessenheit der Reaktionen ausgespart werden, auch weil die nun entfachten globalen gesellschaftlichen Dynamiken ihre Wirkung ohnehin entfalten – zum Teil unabhängig vom Ausgang des aktuellen wissenschaftlich/gesellschaftlichen Disputs über Mortalitätsraten etc.
Das doppelte moralische Armutszeugnis des Westens
Im Zusammenhang mit Corona und Sanktionen beschreibt das US-Medium „Grayzone“ ein doppeltes moralisches Armutszeugnis für reiche westliche Staaten: nämlich den Kontrast zwischen westlichen Zwangsmaßnahmen einerseits und der trotzdem bestehenden Hilfsbereitschaft der von Sanktionen betroffenen Länder andererseits:
„Die Sanktionen, die die Vereinigten Staaten gegen Dutzende von Ländern auf der ganzen Welt in dem Versuch verhängt haben, ihre unabhängigen Regierungen zu stürzen, haben die globale Coronavirus-Pandemie nur noch verschlimmert. Aber gleichzeitig haben einige dieser Nationen, die von der US-Wirtschaftskriegsführung ins Visier genommen werden, die Führung bei den Bemühungen übernommen, den Ausbruch von Covid-19 einzudämmen.“
Und so hat Italien Kuba und Venezuela um medizinische Hilfe wegen Coronavirus gebeten – und während die EU auf italienische Hilferufe nicht angemessen reagiert hat, ist chinesische und kubanische Hilfe bereits in Italien angekommen. Auch Russland will Material und Personal nach Italien senden. Aus Deutschland schallen ebenfalls Hilferufe nach China, wie der „Spiegel“ beschreibt. Während Länder wie Frankreich, Griechenland, Spanien und Italien chinesische Hilfsangebote annehmen, verweigert sich aber Deutschland, wie RT meldet. Andere EU-Länder halten laut dem russischen Staatssender sogar chinesische Hilfslieferungen auf.
„Krisenstaat Venezuela“ – Wenn die Sanktionen verschwiegen werden
Der unmenschliche und heuchlerische Charakter der westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Länder, die eigene Wege für ihre Politik wählen möchten, ist informierten und kritischen Bürgern schon lange bewusst. In der aktuellen Situation kann dieses Bewusstsein möglicherweise auch eine breitere Bevölkerung erreichen. Fabian Goldmann hat die destruktive Wirkung der Sanktionen kürzlich im „Deutschlandfunk“ unter dem Titel “Krieg mit anderen Mitteln“ beschrieben:
„Wie im Iran. Dort hat Trumps Kampagne des „maximalen Drucks“ zwar zu keinem besseren Atom-Deal, stattdessen zu einem Mangel an Krebsmedikamenten und Lebensmitteln geführt. Wie in Venezuela, wo infolge des US-Öl-Embargos vom August 2017 wahrscheinlich schon über 40.000 Menschen wegen mangelnder medizinischer Versorgung gestorben sind. Wie in Nordkorea, wo internationale Sanktionen mitverantwortlich dafür sind, dass Millionen Menschen wieder einmal eine Hungersnot droht. Wie in Syrien, wo auch die EU-Sanktionspolitik dazu beigetragen hat, dass das Gesundheitssystem und die Lebensmittelversorgung zusammengebrochen sind und selbst Hilfsorganisationen aufgrund der Zwangsmaßnahmen ihre Arbeit einstellen müssen.“
Als aktuelles Beispiel einer verzerrenden und verkürzten Berichterstattung kann man auf Berichte zum „Krisenstaat Venezuela“ verweisen, etwa auf diesen Beitrag der „Tagesschau“: Der Artikel zählt die Folgen der Sanktionen auf, ohne die Sanktionen selber mit einem Wort zu erwähnen – oder die vom IWF verweigerte Hilfe. So werden die Sanktions-Verwerfungen indirekt der Regierung Venezuelas angelastet. Für weitere Hintergründe und Informationen zu westlichen Sanktionsregimes sei noch einmal auf den oben zitierten Artikel in „Grayzone“ verwiesen (auf Englisch). Die NachDenkSeiten haben kürzlich über eine UNO-Initiative zur prinzipiellen Ächtung von Wirtschaftssanktionen berichtet.
Die Botschafter der Solidarität kommen heute aus Kuba, China und Russland
Die Grobheit, mit der einige westliche Staaten aktuell den eigenen internationalen Ruf (zusätzlich) ruinieren, erscheint leichtfertig. Und nicht nur der eigene Ruf wird bedroht: Gleichzeitig mit den nationalen Reputationen wird auch der EU als politischer Idee der letzte Rest ihrer Aura genommen. Das Tempo der (zusätzlichen) Erosion des Rufes der EU und der USA ist atemberaubend. Erscheint die Niederlage im Bereich der propagandistischen Selbstdarstellung etwa gegenüber China nicht empfindlich? Die neuen Botschafter der Menschlichkeit sind demnach nicht mehr die Überbringer von Freiheit und Marktwirtschaft aus dem Westen, die ja schon immer ein Medien-Mythos waren. Diese Botschafter kommen heute anscheinend aus Kuba, China und Russland.
Gleichzeitig wird nun möglicherweise endlich von breiten Schichten wahrgenommen, was schon immer zum Himmel schrie, aber unter Phrasen von der Demokratie verdeckt wurde: Die westlichen Sanktions-Regime sind allesamt (ohne Ausnahme) ein Verbrechen. Das kann und muss man in dieser Allgemeinheit sagen. Wer sie fortführt, macht sich fortgesetzt zum Verbrecher – und das auf der Weltbühne. Lange Zeit ist es mithilfe willfähriger Journalisten gelungen, diese Verbrechen durch westliche Staaten zu vernebeln, zumindest gegenüber weniger informierten Bürgern.
Nur noch Zyniker können Neoliberalismus verteidigen
Neben diesen außenpolitischen Vergehen durch westliche Staaten gerät nun auch die viele westliche Staaten nach innen dominierende Wirtschaftslehre unter verschärfte Beobachtung: Durch Kürzungen, Privatisierungen und andere destruktive „Reformen“ verursachte Missstände können aktuell nur noch sehr schwer von neoliberalen Journalisten vernebelt werden, ohne dass sich diese vollends als wirtschaftsradikale Zyniker offenbaren würden. Bertelsmann könnte es sich wohl nun nicht mehr leisten, zu fordern, Krankenhäuser zu schließen.
Die Philosophie von der Weisheit des Marktes und vom schwachen Staat ist aktuell noch stärker blamiert als ohnehin schon: durch die aktuell brutal sichtbare Verwundbarkeit, denen die Staaten (und damit die Bürger) als Folge vorsätzlicher Schwächungen ausgesetzt worden sind. Und dadurch, dass das Virus diese Verwundbarkeit nun schonungslos offenlegt. Man darf gespannt sein, mit welchen Techniken neoliberale Propagandisten versuchen werden, jene destruktive Theorie gegen die aktuellen Erfahrungen der Bürger zu verteidigen.
Virus als „Chance” – Oder als Schutzschild für Raubzüge?
Ist das Virus also etwa auch eine Chance im Kampf gegen den Wirtschaftsliberalismus? So sieht es zumindest Gert Ewen Ungar auf RT:
„Wenn es gut läuft, könnte uns jetzt ein Virus von einer rigorosen Belagerung zwar nicht von Außerirdischen, aber von einer Ideologie befreien, indem es uns aufs deutlichste vor Augen führt, wie begrenzt und wenig hilfreich deren Instrumentarium und deren Implikationen sind, wenn es um tatsächliche Krisenbewältigung geht. (…) So wird uns die Corona-Krise wieder unmittelbar darauf stoßen, wie katastrophal falsch grundlegende Annahmen des Neoliberalismus sind.“
Andererseits gehen viele Befürchtungen aktuell in die ganz andere Richtung. Viele Bürger wittern statt einer heilenden Zuspitzung einen autoritären finanzpolitischen Coup als Folge des Virus: Börsencrashs, die nicht der Finanzkrise, sondern „dem Virus“ angelastet werden. Eingeschränkte Grundrechte, die vielleicht nie wieder freigegeben werden. Dynamiken der gesellschaftlichen Vereinzelung, die noch nicht abgeschätzt werden können. Monströse Geld-Umschichtungen im Schatten des Virus. Festzustellen ist zudem eine Bereitschaft, sich einem (bislang) teils ominösen Notstand unterzuordnen.
„Die Systemfrage liegt auf dem Tisch“
Ein propagandistischer Gewinner der aktuellen Vorgänge scheint China zu sein: Täuscht der Eindruck, dass die mediale Dämonisierung durch westliche Medien zum Teil etwas abnimmt und teils durch einen respektvollen Blick ersetzt wird? Etwa in diesem Artikel. Aus einem gestern noch „diktatorischen Regime“ wird in der Wahrnehmung mancher (auch westlicher) Bürger langsam der fürsorgliche Staat, der (im Gegensatz zu EU-Staaten) seine Bürger durch radikale Maßnahmen schützt. Diese Erzählung ist nicht ganz von der Hand zu weisen und sie verfängt – wie etwa die „taz“ betrübt beschreibt. Weitere Fragen drängen sich auf: Wird China langfristig der wirtschaftliche Gewinner der Krise sein? Was bedeutet das langfristig für den chinesischen Einfluss auf Europa und für die deutsche Gesellschaft und ihren Umgang mit diesem Einfluss? Was bedeutet es für die zukünftige Wahl der militärischen und wirtschaftlichen Bündnispartner? Wird man nach Corona wieder zu alten Bündnissen zurückfinden?
Durch die aktuellen Dynamiken und die selbstzerstörerischen Reaktionen einiger westlicher Staaten darauf, ist auch die Geschäftswelt alarmiert. So fürchtet das „Manager Magazin“ in einem ansonsten sehr durchwachsenen Artikel:
„Die zweite Finanzkrise innerhalb von zehn Jahren und die demnächst offen wieder aufbrechende Eurokrise nach weniger als acht Jahren führen den Bürgern vor Augen, dass die Politik ihre Arbeit nicht macht. Die unzureichende Reaktion auf die Epidemie, also das Versagen, die Gesundheit der Bürger zu verteidigen, kommt hinzu und wird das Vertrauen in die politischen Eliten zusätzlich schwächen. Polarisierung und Radikalisierung werden zunehmen. Derweil beweisen die aufstrebenden Nationen Asiens, wie man es macht: gelenkte Wirtschaft, starker Staat, stabile Finanzsysteme.“
Der Artikel schließt:
„Die Systemfrage liegt auf dem Tisch und der Westen macht keine gute Figur.“
Titelbild: Zwiebackesser / Shutterstock