Nach unserem letzten Beitrag vom 6. März zum Thema Rentenreform in Frankreich war eigentlich angedacht, unsere Leser über den Fortgang der Streik-und Protestbewegung im Rahmen der Kommunalwahlen vom 15. und 22. März auf dem Laufenden zu halten. Wir erwarteten zahlreiche Aktionen gegen die Reformpläne der Regierung Macron, gerade in einer solch politisch brisanten Zeit. Aber nichts geschah. Das Coronavirus hat die Republik im Griff, die Demonstranten blieben zu Hause. Die Kommunalwahlen fanden trotzdem statt. Von Marco Wenzel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Noch am Sonntag, 8. März, war es in ganz Frankreich, besonders aber in Paris, anlässlich des Internationalen Frauentages zu massiven Demonstrationen der Feministinnen zusammen mit den Gewerkschaften gekommen, wobei das Thema Rentenreform von den fortschrittlichsten Feministinnen ganz besonders in den Vordergrund gerückt wurde. Gerade die Frauen wären von der geplanten Rentenreform ja aufgrund meist unvollständiger Berufskarrieren besonders betroffen. Es gibt keine Gleichberechtigung der Frau, solange diese Gesellschaft von neoliberalen Herrschaftsstrukturen und Ausbeutung geprägt ist. Die Unterdrückung der Frau ist, genauso wie die Lohnarbeit, integraler Bestand des kapitalistischen Systems.
Die Demonstrationen am Frauentag waren aber das letzte größere Auftreten der Protestbewegung. Die Pandemie untergrub ab jetzt die weiteren öffentlichen Kundgebungen. Am 8. März überschritt die Anzahl der Infizierten erstmals die Grenze von 1000 Fällen. Langsam, aber sicher bestimmte das Coronavirus von nun an das Geschehen.
Am Donnerstag, 12. März, kündigte Macron in einer Fernsehansprache die Schließung von Schulen sowie Kurzarbeit an, um die Epidemie einzudämmen. Die Kommunalwahlen am Sonntag, 15. März, sollten aber stattfinden, wenn auch unter erhöhten Sicherheitsmaßnahmen in den Wahllokalen.
Nachdem am 11. März die Weltgesundheitsorganisation das Virus zur Pandemie erklärt hatte, wurden am 13. März Versammlungen von mehr als 100 Personen in ganz Frankreich verboten. Die Regierung verbot aber Demonstrationen noch nicht formell, das Versammlungsverbot sollte nicht für politische und gewerkschaftliche Mobilisierungen gelten. Innenminister Castaner “lud“ nur „zur Verschiebung von Demonstrationen ein“.
Die große Mehrheit der Demonstrationen wurde aber von den Organisatoren selbst schon im Vorfeld abgesagt. Der „Marsch für das Klima“ sowie der „Marsch gegen Polizeigewalt“, die am 14. März in Paris stattfinden sollten und von den Gewerkschaften unterstützt wurden, waren bereits vorher von den Veranstaltern abgesagt worden, der Streik für das Klima am 13. März wurde aber aufrechterhalten genauso wie der Marsch für das Klima, der wie geplant in allen anderen Städten, außer Paris, stattfand. Nur am Samstag, 14. März, einen Tag vor der ersten Runde der Kommunalwahlen, fand in Paris der lange angekündigte Aktionstag der Gelbwesten mit etwa 1000 TeilnehmerInnen statt, dies obwohl mehrere Sprecher der Gelbwesten-Bewegung, wie Jérôme Rodrigues, dazu aufgerufen hatten, an diesem Samstag nicht zu demonstrieren, um die Demonstranten nicht der Gefahr einer Infizierung auszusetzen. Es kam hier wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei, die etwa 80 DemonstrantInnen verhaftete.
Am 14. März kündigte Premier Philippe die Schließung von Freizeiteinrichtungen, Cafés und Bars ab Mitternacht an. Am 16. März schlussendlich wurde ein allgemeines Ausgehverbot verkündet.
Symbolische Ehrung von Betreuern, wirtschaftliche Priorität zur Unterstützung von Unternehmen
Eingeleitet von den Klängen der Nationalhymne richtete der französische Präsident Macron in einer Fernsehrede vom Donnerstagabend, 12. März, leere Solidaritätsappelle zur Corona-Pandemie an die Bevölkerung. Eine ähnlich substanzlose Fernsehansprache sollte am 18. März auch die deutsche Bundeskanzlerin Merkel halten, siehe hierzu den Kommentar von Jens Berger auf den Nachdenkseiten.
Die Ansprache von Macron, die, wie könnte es auch anders sein, mit den Worten „es lebe Frankreich!“ endete, wollen wir uns hier nochmal genauer ansehen.
Nach einleitendem leerem und pathetischem Geschwafel hub Macron mit einer abstoßend heuchlerischen Lobrede auf die “Helden in weißen Kitteln” und ihre Selbstaufopferung zum Wohle der Nation sowie zum Lob des öffentlichen Gesundheitswesens an. Eine Lohnerhöhung als kleines Dankeschön an die Beschäftigten im Gesundheitssystem hat Macron nicht anzubieten.
Wer die Politik der Regierung in Bezug auf das Gesundheitswesen kennt, dem konnte solch verlogene Heuchelei nur noch die Zornesröte ins Gesicht treiben. Macron und seine Vorgänger haben mit ihrer neoliberalen Politik der Privatisierung und Rationalisierung das französische Gesundheitswesen an die Wand gefahren. Wenn Frankreich heute keine Reserven mehr hat, um einen außergewöhnlichen Ansturm von Patienten versorgen zu können, dann ist es vor allem Macron selber, der dafür die Verantwortung zu tragen hat. Es war die Politik seiner Regierung, die Demontage der öffentlichen Dienstleistungen und die Privatisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Sparsamkeit und Ausgabenreduzierung waren dabei ihre obersten Prioritäten. Der Ausverkauf des öffentlichen Gesundheitssystems an „Investoren“ war dazu das Mittel. Ganz nach dem Geschmack des „gelernten Investmentbankers“ Macron und zum Wohle seiner früheren Brötchengeber, die ihm garantiert einen Posten freihalten, wenn seine Regierungszeit vorüber ist.
Zwischen 2017 und 2018 sind über 4000 Krankenhausbetten verschwunden, dafür ist die Anzahl der Tagesbetten in den ambulanten Kliniken ausgebaut worden. Der Trend geht zur Verlagerung der Kapazitäten auf die ambulante Versorgung.
Im April 2018 klagte eine Hilfsschwester des Universitätskrankenhauses von Rouen bei einem Besuch von Macron: “Wir brauchen Betten, wir brauchen Personal”, worauf Macron antwortete: “Es gibt kein magisches Geld.“ Frankreich steuere auf eine Verschuldung von 100 Prozent des BIP zu. „Es sind Ihre Kinder, die dafür zahlen, insofern Sie es nicht selber sind.“
Das Krankenhauspersonal fordert seit Monaten mehr Mittel und eine Lohnpolitik, die diesen Namen verdient: Der Präsident weigerte sich stets, Geld in die Hand zu nehmen, um eine ausreichende Zahl von Betreuern für die Pflege der Kranken zu garantieren.
40 Prozent der Arztstellen sind frei, 30 Prozent der Krankenpflegestellen sind unbesetzt. Seit einem Jahr gibt es in den Krankenhäusern Streiks, seit über einem Jahr geht das Krankenhauspersonal regelmäßig auf die Straße, um gegen unzureichende Ausrüstung, mangelndes Personal und miserable Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. Ärzte werfen den Rednern der Regierung ihre weißen Kittel vor die Pulte, mehr als 300 Ärzte sind Anfang des Jahres kollektiv von leitenden Posten in der Krankenhäusern zurückgetreten, weil sie den Kopf nicht mehr hinhalten wollten für die mangelnde Versorgung ihrer Patienten aufgrund von Personalmangel und mangelnder Ausstattung und auch nicht mehr für die schlechten Arbeitsbedingungen des ihnen unterstellten Krankenhauspersonals, das ständig am Rande der Erschöpfung arbeitet.
Und die Reaktion der Regierung Macron? Streikende und demonstrierende Krankenhausmitarbeiter, Notfalldienste und Feuerwehrleute wurden von berüchtigten, verrufenen, mutmaßlich rechtsextremen Schlägertrupps in Uniform, den CRS, auf offener Straße verprügelt und mit Tränengas beschossen.
Und jetzt, nach der Zerschlagung des öffentlichen Krankenhaussystems ruft Macron die Pfleger zur Hilfe und zu weiteren Anstrengungen auf. „Sie leisteten eine bemerkenswerte Arbeit“, so sein Premierminister.
Nachdem Macron und Philippe die Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals ruiniert haben, versuchen sie nun, dieses für sich zu mobilisieren und es dazu aufzufordern, “zusammenzustehen” und ihre Anstrengungen „zum Wohle der Nation“ zu verdoppeln. Dies alles angesichts einer Gesundheitskrise, die die Regierung durch die Sabotage der öffentlichen Krankenhäuser und der medizinischen Forschung selbst geschaffen hat.
Die Beschäftigten im Gesundheitswesen werden ihrer Verantwortung auch so gerecht werden und ihre Patienten nicht im Stich lassen. Dazu bedarf es weder der Schmeicheleien noch der Lobhudeleien eines Macron oder Philippe. Das Vertrauen in die Regierung aber ist weg. Nach Corona werden die Streiks und die Arbeitskämpfe weitergehen.
Macron sorgte sich in seiner Ansprache auch um die Wirtschaft. Und wenn Macron „Wirtschaft“ sagt, dann meint er damit die Unternehmer. So kündigte er staatliche Entschädigungszahlungen für Unternehmer und die Übernahme der Lohnkosten für die Beschäftigten von Firmen an, die zum Schutz der öffentlichen Gesundheit schließen müssen. Um jeden Preis, mit allen erforderlichen Mitteln, ohne Budgetbegrenzung. Wer wird am Ende die Rechnung bezahlen?
Macron kündigte zugleich die Möglichkeit zum Aufschub der im März von den Unternehmen zu entrichtenden Beiträge und Steuern an. Ob und wie die Kredite später zurückgezahlt werden sollen, steht noch in den Sternen. Die Hilfe für die Betriebe soll unbegrenzt sein, es soll keine Obergrenze geben.
Während die öffentlichen Gelder scheinbar weder für die Renten noch für die Sozialleistungen ausreichen, öffnet der Staat nun die Kassen, um die Unternehmen zu retten. Die Gelder sollen vorgeblich die kleinen Unternehmen vor der Pleite bewahren, da es aber keine Obergrenze geben soll, werden auch die Großunternehmen damit beschert. Das CAC40 (ein französischer Leitindex) hatte gerade die zweitschlechteste Woche in seiner Geschichte abgeschlossen. Aus allen Blickwinkeln sind es die Arbeitnehmer, die für die Krise bezahlen, indem sie Löhne verlieren und öffentliche Gelder verschwendet werden. Denn wenn am Ende der Krise gefragt wird, wer die entstandenen Schulden denn nun bezahlen soll, werden die Arbeitgeber jammern, dass die Kassen leer sind und dass sie kein Geld haben, um die entstandenen Schulden zu bezahlen.
Die Arbeitnehmer ihrerseits sollen von Kurzarbeitergeld leben. Zumindest die, die einen regulären unbefristeten Arbeitsvertrag haben. Wer illegal, schwarz oder als Leiharbeiter arbeiten muss, hat darauf natürlich keinen Anspruch. Die Schulen werden geschlossen, die Familien sollen die Betreuung der Kinder derweil zu Hause übernehmen. Freiwillig und ohne Entschädigung. Was sollen alleinerziehende Mütter machen, die selber arbeiten?
Die Rechnung werden die Arbeitnehmer so oder so zahlen, entweder über weitere Leistungskürzungen im Sozialbereich oder über Steuererhöhungen. Eine Erhöhung der Reichensteuer, Erbschaftssteuer oder des Spitzensteuersatzes, um die Mehrausgaben zu decken, dürfte kaum auf dem Programm von Macron stehen. Um diese massiven Staatshilfen zu finanzieren, müsste das Großkapital besteuert werden.
Ein Gesundheitssystem außerhalb des Marktes
In derselben Fernsehansprache sprach Macron zum Schluss noch von der Notwendigkeit eines „Gesundheitssystems außerhalb der Marktgesetze“. Absolute Priorität sei jetzt die Gesundheit. Die erste Lehre aus der Epidemie sei deshalb, jederzeit eine kostenlose staatliche Behandlung für alle Bürger zu gewährleisten. Niemals dürfe dieses Gut in private Hände geraten. Es sei “verrückt”, die Produktion von Nahrungsmitteln und die Heilung von Kranken an nichtstaatliche Institutionen abzugeben.
Dabei ging die neoliberale Politik der Regierung Macron von Anfang an genau in die entgegengesetzte Richtung.
Wen will Macron zum Narren halten? Ein schlanker Staat, Eigeninitiative und Privatisierungen sind das Markenzeichen von Macron. Er wurde gegen den Widerstand im PS von François Hollande in dessen Regierung geholt, um dort neoliberale Reformen durchzusetzen. Eine Sache, von der Macron offensichtlich mehr verstand als die französischen „Sozialisten“, die damals gerade an der Regierung waren. Und er machte seine Arbeit gegen die französische Arbeiterklasse gut. Als er mitbekommen hatte, dass die Felle des PS wegen dessen arbeiterfeindlicher Politik den Bach hinunterschwammen, die PS jeden Kredit bei ihrer Stammwählerschaft verloren hatte und abgewählt werden würde, da setzte Macron sich ab und gründete die LREM, um schlussendlich 2017 so zum nächsten Präsidenten gewählt zu werden. Und als neuer Präsident setzte Macron seine neoliberale Privatisierungs- und Umverteilungspolitik gegen alle Proteste und notfalls auch mit Polizeigewalt und mit der Arroganz eines Louis XVI unbeirrt weiter fort.
Macrons Amtszeit war vom ersten Tag an von Protesten und Demonstrationen gegen seine Politik geprägt. Von Beginn seiner Amtszeit an lässt er die Proteste der Gelbwesten gegen soziale Ungleichheit, die Massenstreiks gegen die Bahnprivatisierung, gegen Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Dienst und der Renten sowie die oben erwähnten Demonstrationen des Krankenhauspersonals und der Feuerwehr brutal durch die Bereitschaftspolizei niederschlagen.
Als Nächstes sind schon wieder Kürzungen beim Sozialversicherungssystem zur Finanzierung des Gesundheitswesens geplant, sobald die Rentenkürzungen durch die Nationalversammlung gepeitscht und die Leistungen der Arbeitslosenversicherung gekürzt worden sind. Seine Rentenreform will er im Schnellverfahren und mit antidemokratischen Mitteln per Regierungsdekret durchsetzen.
Die letzten Proteste und Streiks gegen die Rentenreform sind nur die Fortsetzung der Proteste der Eisenbahner und der Gelbwesten, die Fortsetzung der „nuits debout“ und des Ärgers der FranzösInnen über die neoliberale Politik von Macron. Es geht längst nicht mehr nur um die Rentenreform, wie wir bereits des Öfteren betont haben. Aus der Ablehnung der Rentenreform als dem x-ten sozialen Rückschritt, der von Macron der Bevölkerung gegen alle Proteste auferlegt wurde, wurde dieser Kampf allmählich zu einer Ablehnung des neoliberalen Projekts der Regierung. Macrons neoliberales Projekt wird von einer reaktionären Ideologie begleitet. Es geht längst gegen den Neoliberalismus in Frankreich, gegen die „Welt von Macron“, gegen die „Macronie“, wie es in Frankreich genannt wird.
Und jetzt will Macron plötzlich der öffentlichen Daseinsfürsorge das Wort reden? Ein Sinneswandel ist von Macron nicht zu erwarten, Konsequenzen aus seiner „Einsicht“ auch nicht. Irgendwann wird die Pandemie vorbei sein und dann wird wieder munter auf dem Rücken der Bevölkerung weiter gespart und privatisiert. Sein Geschwätz von einem Gesundheitssystem außerhalb der Marktgesetze ist ein Versuch, die Wogen zu glätten und die Wähler bei den Kommunalwahlen zu täuschen.
Macrons verlogene Aussagen in seiner Fernsehansprache haben ihm leider auch das Lob des pseudolinken Führers der LFI, Jean-Luc Mélenchon, eingebracht. Dieser forderte, es dürfe nun keine „Polemik“, sondern nur „Solidarität und Zusammenhalt“ geben, und er behauptete, Macron habe einen Sinneswandel durchgemacht. Mélenchons Versuch, Illusionen um den allgemein verhassten Macron zu schüren, sind absurd und für die Linken keinesfalls zielführend.
Die Kommunalwahlen
Bis zur oben erwähnten Fernsehansprache von Macron war nicht klar, ob die anstehenden Kommunalwahlen vertagt werden sollten oder nicht. Zumal in den Kommunen selbst schon Personen, die zur Wahl standen, und auch Bürgermeister infiziert waren. Nach langem Hin und Her und Beratungen mit dem Senat wurde die erste Runde der Kommunalwahlen am 15. März dann doch abgehalten. Macron hatte sich nach eigenem Bekunden mit einem Expertenteam beraten und die hatten dafür grünes Licht gegeben, wenn auch unter besonderen sanitären Sicherheitsvorkehrungen. Reinigung, Wasserstelle, hydro-alkoholisches Gel, Markierung am Boden zur Einhaltung der Sicherheitsabstände… Die Räumlichkeiten und die gesamte Ausrüstung mussten vor und nach der Wahl gereinigt werden.
Eine Annullierung der Wahlen hätte zudem über ein Ausnahmegesetz beschlossen werden müssen, für dessen Ausarbeitung und Annahme in der Nationalversammlung am 12. März nur noch ganze 2 Tage zur Verfügung standen. Eine andere Möglichkeit wäre das Ausrufen des Ausnahmezustandes gewesen, was aber natürlich allzu unverhältnismäßig gewesen wäre.
Und so kam es, wie es kommen musste: Die Wahlbeteiligung war so tief wie noch nie, sie lag unter 45 Prozent. Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten ging also nicht wählen. Gewinner des Tages waren die Grünen, die in vielen großen Städten jetzt die BürgermeisterIn stellen werden.
Und wie erwartet hat die schlechte Reputation des Staatschefs zu einem Fiasko der LREM geführt. Ausgerechnet in Paris kommt die Kandidatin der LREM und frühere Gesundheitsministerin Agnès Buzyn nur auf den dritten Platz. Die bisherige Amtsinhaberin Anna Hidalgo vom PS liegt in Paris vorne. Frau Buzyn hatte nach dem Sexskandal des von Macron mit aller Macht durchgesetzten Kandidaten Benjamin Griveaux extra ihren Ministerposten aufgegeben, um in Paris zu retten, was noch zu retten schien.
Auch der rechte FN konnte zulegen, während die Resultate für LFI schlecht ausfielen.
Insgesamt kann man von dieser ersten Runde sagen, dass die Rechte gewonnen und die Linke verloren hat. Wie dem auch sei, die Wahlen waren eher von den Diskussionen über die Wahlumstände als über die Wahlkandidaten bestimmt. Die zweite Runde der Kommunalwahlen am kommenden Sonntag findet nicht statt. Die KandidatInnen, die in der ersten Runde mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen haben, gelten aber als gewählt. Emmanuel Macron kündigte am Montagabend die Verschiebung der zweiten Runde der Kommunalwahlen an, die für Sonntag, 22. März, geplant war, was von den Politikern weitgehend begrüßt wird.
Die Ergebnisse der ersten Runde werden beibehalten. Die rund 30.000 am Sonntag bereits gewählten BürgermeisterInnen kommen damit ins Amt. Bei den verbleibenden 5.000, über die in der zweiten Runde entschieden werden sollte, werden die Ergebnisse eingefroren. Im Mai wird ein Update zur Gesundheitssituation vorgenommen, um zu sehen, ob die Organisation der zweiten Runde im Juni tragfähig ist.
Die Zeitung „La Libération“ bezeichnete die Wahlen angesichts der Umstände, unter denen sie durchgeführt wurden, als eine Farce. Am Mittwoch hat der Ministerrat beschlossen, die Forderung nach einer zweiten Runde innerhalb der aktuellen Frist zurückzunehmen und einen Gesetzentwurf einzubringen, der unter anderem die Verlängerung der Amtszeit der Bürgermeister vorsieht, wenn die erste Runde ergebnislos verlaufen ist, und sich mit Fragen im Zusammenhang mit den Wahlkampfkonten befassen wird, so ein Bericht, der aus parlamentarischen Quellen stammt.
Der Text wurde am Mittwochnachmittag im Ministerrat diskutiert und sollte am Donnerstag in der Nationalversammlung in einem “select”-Komitee debattiert werden. Mit mindestens einem Meter Abstand zwischen den Teilnehmern im Ausschuss und in den Halbkreisen – auch Senatoren auf der Tribüne, wenn es nicht genug Platz gibt – Mikrofone müssen vor und nach den Sitzungen gereinigt werden.
Und die Rentenreform?
Auch die ist vorerst einmal ausgesetzt. Der Zeitplan war kaum noch einzuhalten, zumindest dann nicht, wenn Macron noch ein Minimum des Anscheines demokratischer Legitimität bewahren und das Gesetz nicht ohne weitere Diskussionen im Senat und in der Nationalversammlung kurzerhand per Regierungsdekret durchsetzen wollte. Das allerdings hätte zu einem großen Aufschrei aller Parteien geführt und mit Sicherheit wäre die Sache auch vor dem Verfassungsgericht gelandet und letztendlich auch gescheitert. Wie wir bereits berichtet hatten, hatte die Regierung beschlossen, das Schnellverfahren zur Durchsetzung der Rentenreform einzusetzen und nach einer ersten, abgebrochenen Lesung in der Nationalversammlung beschlossen, das Gesetzesprojekt per Regierungsdekret an den Senat weiterzuleiten. Den Senat hatte die Regierung dann gezwungen, ihre Stellungnahme vor Ende April abzugeben, damit das Projekt noch vor den Sommerferien von der Nationalversammlung in zweiter Lesung verabschiedet und Gesetzeskraft erlangen sollte.
Die Fraktionsvorsitzenden des Senats erklärten, dass die Voraussetzungen für eine ruhige Debatte zurzeit nicht gegeben seien. Die Senatoren, wie die Abgeordneten wegen der Kommunalwahlen derzeit in Ferien, sollen am 23. März wieder an die Arbeit gehen. Wie könnte der Senat, in dem 348 Abgeordnete sitzen – die Mitarbeiter der Institution nicht eingerechnet – dann seine Beratungen aufnehmen, wenn die Exekutive am Freitag ein Versammlungsverbot für mehr als 100 Personen angeordnet hat? Macron kann bei der Rentenreform kaum einerseits den absoluten Notstand verordnen, Schulen, Hochschulen, Theater, Kinos schließen, und andererseits verlangen, dass der Senat mit über 300 Mitgliedern tagt.
“In Anbetracht der Entwicklung der Situation besteht keine Dringlichkeit, diesen Text zu prüfen”, so Hervé Marseille, Vorsitzender der Fraktion der Union der Mitte im Senat, der meinte, dass es “andere Prioritäten” gibt, und zwar im Bereich “Gesundheit”, aber auch im Bereich “Wirtschaft und Soziales”.
„Die Regierung darf dies nicht ausnutzen, um Dinge zu verabschieden, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden”, sagt er. Genauso sieht das die Intersyndicale, in der die CGT, die FO, die CFE-CGC, die Solidaires, die FSU und die Jugendbewegungen zusammengeschlossen sind, auch.
Nachdem mindestens 18 Abgeordnete und zwei Senatoren bereits mit dem Coronavirus infiziert sind, Mitarbeiter nicht eingerechnet, kündigte Macron am Montag an, dass die Rentenreform, dieses symbolträchtige Projekt der fünfjährigen Periode, im Zusammenhang mit einer akuten Gesundheitskrise “ausgesetzt” wird. Wie immer sprach Macron in der Ich-Form, als wäre er der König der FranzösInnen, der allein das Recht habe, die Geschicke des Landes zu bestimmen: “Ich habe beschlossen, dass alle laufenden Reformen ausgesetzt werden, beginnend mit der Rentenreform”, sagte er. “Wir befinden uns im Krieg”, rechtfertigte er und betonte, dass “alle Maßnahmen (…) fortan auf die Bekämpfung der Epidemie ausgerichtet sein müssen…“.
Auch auf Seiten der Finanzierungskonferenz, die am 24. März wieder zusammenkommen soll, herrscht zur Zeit Funkstille.
Wann das Gesetzgebungsverfahren für beide Texte wieder in Gang kommt, steht noch nicht fest. Der Zeitplan für die Inkraftsetzung noch vor den Sommerferien ist kaum noch einzuhalten. Es hängt alles davon ab, wann die Arbeit im Parlament wieder aufgenommen wird. “Wir sind von der Länge der Quarantäne abhängig“, meint der Generalberichterstatter für die Reform.
Fazit:
Was monatelange Streiks und Demonstrationen nicht geschafft haben, schafft das Virus mühelos. Das Gesetzesprojekt zur Rentenreform ist vorerst ausgesetzt. Trotzdem besteht kein Grund zum Feiern. Denn es handelt sich nur um eine Zwangspause – sobald die Beschränkungen aufgehoben sind, werden auch die Schritte zur Durchsetzung der Rentenreform unerbittlich weitergehen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Es ist abzuschätzen, dass das im September passieren wird. Die Gegner des Projektes und die Gewerkschaften haben jetzt Zeit, sich zu sammeln und neue Reserven aufzubauen. Ob sie im Herbst aber mit gewohnter Stärke wieder präsent sein werden, bleibt abzuwarten. Bis dahin läuft noch viel Wasser die Seine hinunter. Der nächste interprofessionelle nationale Aktionstag gegen das Projekt ist für den 31. März angesagt. Ob der Aktionstag abgesagt werden muss, steht bis jetzt noch nicht fest. Der Zeitplan der Regierung ist durcheinander gekommen, es sieht demnach nach einem heißen Herbst aus.
Die Coronavirus-Epidemie hat diese Krise der Versorgung nicht nur im öffentlichen Gesundheitssystem verschärft. Für die Menschen gibt es kaum noch Sicherheit, es gibt keine staatlichen Reserven mehr, die im Notfall in die Bresche springen. Der Virus ist der Auslöser, aber der Kapitalismus besonders in seiner neoliberalen Ausprägung ist die ursprüngliche Krankheit.
Christophe Castaner drängt die Franzosen, zu Hause zu bleiben: „Bleib zu Hause”, sagte der Innenminister in einer Fernsehansprache. “Alle diejenigen, die reisen werden, müssen “ihre Reise rechtfertigen können”, fügte er hinzu. Aber Macron überlässt es den Arbeitgebern, welche Betriebe schließen, welche Kurzarbeit machen und welche den normalen Betrieb aufrechterhalten wollen. Es gibt nur Ratschläge von Seiten der Regierung, keine Vorgaben. Ist es wirklich absolut notwendig, in einer solchen Zeit Autos zu produzieren?
Die CGT und die FO forderten am Montag die Schließung der Chantiers de l’Atlantique in Saint-Nazaire (Loire-Atlantique) und bezeichneten es als “unverantwortlich”, mitten in einer Pandemie so viele Beschäftigte auf dieser Schiffbaustelle zu versammeln – ein Antrag, der von der Geschäftsleitung abgelehnt wurde. Ist es im Zusammenhang mit der Coronavirus-Epidemie “wirklich “lebensnotwendig für das Land“, weiterhin 5.000 Menschen auf dem Gelände zu versammeln, um Liner zu produzieren, „die nicht sozial dringlich sind?“, fragt die CGT in einer Erklärung.
Aber die Arbeiter haben laut Arbeitsgesetz ein Rückzugsrecht, bei Aufrechterhaltung ihres vollen Lohnes, wenn eine immanente Gefahr für sie selber oder für andere besteht. In vielen Betrieben mit starken Betriebsräten wird der Betrieb so auch gegen den Willen der Bosse lahmgelegt. Was die Regierung wirklich beunruhigt, ist eine weit verbreitete Inanspruchnahme dieses Rückzugsrechts. „Bleibt zu Hause“, so sagt die Regierung selber. Nun, dem soll nichts entgegenstehen. Konsequent und koordiniert durchgeführt könnte daraus ein Generalstreik werden und das Streikgeld zahlt dann die Regierung.
Werner Rügemer hat in einem exzellenten Beitrag gestern auf den NachDenkSeiten zum Schluss eine lange Liste von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung sowohl vor den gesundheitlichen Risiken als auch vor den wirtschaftlichen Folgen der aktuellen Epidemie aufgestellt. Darauf sei an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen: „Heuchler, Profiteure und andere Menschenfreunde – ‚Corona‘ als Anlass für kollektive demokratische Selbstorganisation“
Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock