Die ´´volonté générale´´ für ein liberales Europa steht für die politische Klasse über dem Volkswillen der Franzosen
Die Interpretation des Volkswillens ist ein schwieriges Geschäft. Das weiß man schon seit Rousseaus Unterscheidung zwischen der „volonté générale“ als dem über die individuellen Interessen hinausgehenden Gemeinwillen und der „volonté de tous“ als der unmaßgeblichen Summe bloßer Einzelinteressen. Folgt man den Äußerungen der europäischen politischen Klasse, so war die Volksabstimmung in Frankreich über den Vertrag der EU-Verfassung nur eine momentane Addition von ganz unterschiedlichen und daher im rousseauschen Sinne unmaßgeblichen Willensbekundungen.
Das „Non“ der Franzosen zum europäischen Verfassungsvertrag entspricht nach Meinung fast aller Politiker und der überwiegenden Zahl der Kommentatoren keineswegs dem übergeordneten gemeinsamen Interesse, weder Frankreichs noch Europas. Nein, die vorab konstituierte „volontè générale“ für eine wirtschaftsliberale Grundordnung steht über der aus unterschiedlichen Motiven gespeisten mehrheitlichen Ablehnung dieses Modells durch die „Untertanen“ Europas. Wie anders könnte man – obwohl die Verfassung ohne die Zustimmung aller 25 EU-Länder nicht in Kraft treten kann – etwa die gemeinsame Erklärung des luxemburgischen EU-Ratspräsidenten Jean-Claude Juncker, des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso und des EU-Parlamentspräsidenten Josep Borrell verstehen, wonach „Europa weiter geht“, und dass man zuversichtlich sei, „dass wir wieder einmal eine Möglichkeit finden, Europa voranzubringen“. Der deutsche Kommissar Günter Verheugen sieht „keinen Grund, den Verfassungstext zu ändern“. Andere maßgebliche EU-Vertreter sehen Nachverhandlungen auch nur über Teile der EU-Verfassung als ausgeschlossen an.
Auch Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer sehen in der Ablehnung der Franzosen nicht das Ende der Bemühungen um diesen europäischen Verfassungsvertrag. Der Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten müsse weitergehen. Schröder: „Wir wollen die Verfassung, weil wir ein demokratisches, soziales und starkes Europa wollen“ – sollen doch die Franzosen davon halten, was sie wollen, und abstimmen, wie sie wollen – könnte man hinzufügen. Bundespräsident Horst Köhler sieht – wie das gängig geworden ist, wenn das Volk gegen die herrschende Politik bockt – ein Vermittlungsproblem. „Die Menschen wissen nicht mehr: Was ist eigentlich die Identität Europas?“ Will sagen, die Menschen wissen nicht mehr, was jenseits dem durch ihre Abstimmung zum Ausdruck gekommenen Willen – der unmaßgeblichen „volonté de tous“ eben – noch für eine „volonté générale“ für das einheitliche liberale Europa steht. Diesem „Gemeinwillen“ hat sich der Volkswille unterzuordnen.
Unsere politische „Klasse“ von den EU-Gremien, über Chirac, Berlusconi, Blair oder Schröder, ob konservativer oder sozialdemokratischer Herkunft hält es mit Europa genauso wie mit der europaweit ausgegebenen neoliberalen Wirtschaftsdoktrin: Sie wird als sakrosankt, als alternativlos, als objektiv notwendig erklärt, deshalb ist es um so schlimmer für das Volk, dass seine Mehrheit das nicht begreifen will.
Merkel und Schäuble kochen darüber hinaus gleich wieder ihr bekanntes politisches Süppchen. Sie warnen vor einer „Überdehnung“ Europas und sehen die Ursache für die Ablehnung der Franzosen in der – wohlgemerkt gar nicht zur Abstimmung stehenden -Erweiterung der Europäischen Union um die Türkei, um Rumänien und Bulgarien. Sie lenken damit auch bei uns Wasser auf die Mühlen derjenigen, die wie einzelne chauvinistische Kräfte in Frankreich aus nationalistischen oder reaktionären „souveränistischen“ Motiven den Vertrag über die EU-Verfassung bekämpft haben.
Selbstredend stehen hinter einer „Oui-Non“-Entscheidung immer auch unterschiedliche Motive. Es ist gar nicht zu bestreiten, dass Le Pens braune Gesinnungskameradschaft in fremdenfeindlicher Manier gegen Europa mobil machten. Und zweifellos haben die Franzosen auch Präsident Chirac und Premier Raffarin, ja sogar einem Großteil der französischen Sozialisten für ihre Art der „Reformpolitik“ einen Denkzettel verpasst. Der frühere sozialistische Kulturminister Jack Lang sprach zu Recht auch von einer „Strafe für eine schlechte Regierungspolitik“.
Die Meinung der Mehrheit der Franzosen über ihre eigenes Abstimmungsverhalten scheint aber viel differenzierter zu sein, als uns die vorschnellen Abwiegler vor diesem Desaster weiß machen wollen. Die Abwiegler sprechen wohlweislich nicht von einer Ablehnung, sondern nur von einem „Rückschlag“ für das von der EU-Kommission und den europäischen Regierungen vorgegebene Ziel – und „Rückschlag“ kann ja nur heißen, dass man nicht daran denkt, sich von dem eingeschlagenen Kurs abbringen lassen will.
In einer am Abstimmungsabend veröffentlichten Umfrage eines renommierten französischen Meinungsforschungsinstituts sprechen sich 72% der Franzosen für einen weiteren Ausbau Europas aus, aber 48% halten die gegenwärtige europäische Politik für schlecht. Wenn man auch nur ab und zu die Diskussion über den europäischen Verfassungsvertrag in den französischen Zeitungen verfolgt hat oder sich am Abend der Volksabstimmung auf Phoenix einmal die französische Debattenlage angehört hat, dann ist man vor dem Hintergrund der oberflächlichen deutschen Befassung mit dem Thema höchst erstaunt über die ziemlich genaue Kenntnis der französischen Öffentlichkeit über das, was im Vertragstext steht und über die wirklichen Themen, worüber sich die Franzosen politisch gestritten haben. Da geht es um die in Deutschland nahezu unbekannte Bolkestein-Direktive, da geht es um demokratische Defizite, da geht es um „Liberalismus“ oder „Ultraliberalismus“ angelsächsischer Prägung, da geht es um den sprichwörtlichen „Klempner“ aus Osteuropa, um die Frage nach dem „sozialen Europa“, um das „Europa der Dividenden gegen das Europa der Centimes“.
Der Frankreich-Korrespondent der FAZ, Christian Schubert, hat es schon vor dem Referendum auf den Punkt gebracht: „Verlierer Liberalismus“ überschreibt er seine Analyse. Fast fünf Jahrzehnte europäische Einigung brachten auf wirtschaftlicher Seite einen Liberalisierungsschub nach dem anderen. Schubert hat auch Recht damit, dass seit den achtziger Jahren die „Regierungen von links und rechts diesen Kurs weitgehend mitgetragen“ haben. Die Globalisierung, die grenzüberschreitenden Spekulationen, die nicht mehr kontrollierbaren Finanzströme, der Steuersenkungswettlauf, die Kapitalfluchtmöglichkeiten in Niedrigsteuerländer, das Dumping bei Löhnen oder bei Arbeitnehmerrechten, auch grenzüberschreitende Dienstleistungsangebote nach den Bedingungen der osteuropäischen Entsendeländer, all das ist ja alles in den früheren europäischen Vertragswerken politisch gewollt eingeführt oder festgeschrieben worden. Sicher die EU hat auch etwa auf den Gebieten des Verbraucherschutzes und der Umweltstandards Fortschritte gebracht, aber wo sind gemessen am voranschreitenden „Liberalismus“ vergleichbare Schübe für ein sozialeres Europa geblieben? Danach fragt die FAZ selbstverständlich nicht, wohl aber die Mehrheit der Franzosen.
Der Unterschied zu den Verträgen von Lissabon und Nizza und dem Vertrag zu einer EU-Verfassung ist ausschließlich der, dass früher nie eine Volksabstimmung über die Verträge stattgefunden hat. Die erste Chance, (jedenfalls auch) diesem wirtschaftspolitischen Kurs eine Absage zu erteilen, hat das französische Volk genutzt, die Niederländer werden vielleicht bald folgen und Tony Blair stellt schon in Frage, ob es in seinem Land überhaupt noch ein Referendum geben wird.
Nun bergen Volksabstimmungen sicher auch immer die Gefahr, dass sich diffuse Ängste oder gar populistische, ja sogar reaktionäre Elemente breit machen, wer das „Non“ der Franzosen aber nur damit abzutun versucht, will offenbar nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich in unserem Nachbarland die Bevölkerung schon seit einiger Zeit mit mächtigen, ja sogar aggressiven Demonstrationen und Streiks gegen das zu Wehr setzten, was wie bei uns auch den Franzosen als „Reformpolitik“ abverlangt wurde. Wie in Deutschland unter einer rot-grünen Regierung haben auch die französischen Arbeitnehmer unter einer konservativen Regentschaft am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass Arbeitszeitverlängerung, Lohnkürzungen oder Unternehmenssteuersenkungen keine zusätzlichen Arbeitsplätze schaffen – im Gegenteil. Die Mehrheit der Franzosen ist – das zeigen über das Referendum hinaus alle Umfragen – gegen ein „angelsächsisches“ Wirtschaftsmodell und für die Bewahrung eines „sozialen Frankreichs“. Deshalb stimmte die Mehrheit gegen ein liberales und gleichzeitig für ein soziales Europa. Für Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit haben die Franzosen ihre Revolution gemacht und diese Grundwerte wollen sie sich nicht durch eine Gegen-„Reform“ von Oben oder gar von einem neuen „Absolutismus“ des neoliberalen Gottesgnadentums entreißen lassen.
Die Ablehnung des Vertrags über eine EU-Verfassung durch eines der ursprünglichen und bedeutendsten Gründungsmitglieder des Vereinten Europas könnte, ja müsste sogar ein Weckruf an die europäische „politische Klasse“ jeglicher Couleur sein, für eine ehrliche Bestandsaufnahme nicht nur im Hinblick auf die demokratische Weiterentwicklung der Europäischen Union, sondern vor allem auch zu einer Diskussion um eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Grundordnung für Europa ohne neoliberalen Scheuklappen.
Eine solche Bestandsaufnahme und eine Debatte darüber soll und darf aber offenbar nach dem Willen unserer obersten Leiter der Politik, die sich als Verwalter der „volonté générale“ berufen fühlen und deren Gemeinwillen sich das Volk als Untertan zu unterwerfen hat, nicht stattfinden. Dafür stehen die Durchhalteparolen „Europa geht weiter“ oder „der Ratifizierungsprozess“ muss weitergehen, „Nachverhandlungen sind ausgeschlossen“.
Augen zu und durch, wird als Devise ausgegeben. Das mag man so lange durchhalten können, bis das Volk sich andere Wege als demokratische Abstimmungen sucht, um seinem Unmut über die herrschende Politik Luft zu machen. Damit könnte sogar noch die Grundidee des Vereinten Europas wieder in Gefahr geraten, nämlich die Utopie des friedlichen Europa.