In der afghanischen Hauptstadt Kabul ließen sich vor wenigen Tagen zwei Männer zeitgleich zum Präsidenten vereidigen. Neben diesen zwei „Regierungen“ gibt es noch jene der Taliban, das sogenannte Islamische Emirat. Hauptverantwortlich für die Misere sind nicht nur die Afghanen selbst, sondern auch jene, die sich seit Jahrzehnten in der Region aufgrund ihrer eigenen Machtspielchen einmischen. Von Emran Feroz.
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Am vergangenen Montag ließ sich Afghanistans Präsident Ashraf Ghani im Arg – dem afghanischen Präsidentenpalast – ein zweites Mal zum Präsidenten küren. Zwei Wochen zuvor hatte ihn die Unabhängige Wahlkommission (ICE) zum Sieger der vergangenen Präsidentschaftswahlen erklärt. Diese hatten im Oktober stattgefunden und merkwürdigerweise hatte es ganze fünf Monate gedauert, bis alle Stimmen ausgezählt waren, während weniger als zwanzig Prozent der Wahlberechtigten überhaupt zur Urne geschritten waren. Ähnlich wie bei vorherigen Wahlen stand der Vorwurf der Wahlfälschung im Raum. Doch diesmal wollte Hauptkontrahent Abdullah Abdullah, der in der Vergangenheit dann doch stets eingeknickt ist, das Wahlergebnis nicht akzeptieren und sorgte für eine Zäsur, indem er sich ebenfalls zum Präsidenten vereidigen ließ – und zwar zeitgleich zu Ghani.
Richtig gelesen. In Afghanistan gibt es nun zwei Präsidenten. Dies sorgt nicht nur unter Afghanen für viele Scherze, sondern auch im Ausland. Kurz nach der Doppelvereidigung schlug Trevor Noah in seiner Daily Show etwa vor, dass die beiden Präsidenten doch in Tag- und Nachtschichten arbeiten könnten.
Doch so amüsant die gegenwärtigen Entwicklungen in Kabul zu sein scheinen: Die Lage ist todernst und kann zu einer weiteren Eskalation beitragen. Vor zwei Wochen unterzeichneten die USA ein Abzugsabkommen mit den afghanischen Taliban in Katar. Zu den Bedingungen des Deals gehörten inner-afghanische Gespräche, die nach dem Abzug der NATO-Truppen einen längerfristigen Frieden im Land garantieren sollen. Diese Gespräche sollten in diesem Moment stattfinden, doch das tun sie nicht, da die politischen Eliten in Kabul gespaltener sind denn je zuvor. Ironischerweise waren es ebenjene Eliten, die in der Vergangenheit immer wieder darauf hinwiesen, dass die Taliban keine geeinte Gruppierung seien. Doch nun ist das genaue Gegenteil der Fall.
Ein Land, drei Regierungen
Demnach existieren in Afghanistan gegenwärtig insgesamt drei verschiedene Regierungen: Jene von Ghani und Abdullah sowie das sogenannte Islamische Emirat der Taliban, die aktuell womöglich mehr Gebiete kontrollieren als die beiden Präsidenten. Warum es zur aktuellen Krise gekommen ist, hat mehrere Gründe. Die Anhänger Ghanis machen in erster Linie Abdullah verantwortlich und werfen ihm vor, das offizielle Wahlergebnis nicht anerkennen zu wollen. Derart simpel ist das Ganze selbstverständlich nicht.
Die sogenannte Unabhängige Wahlkommission scheint nämlich abermals nicht unabhängig zu sein, sondern agiert als Instrument Ghanis. Dies behaupten zumindest Kritiker, darunter auch internationale Beobachter wie der US-Professor Thomas H. Johnson von der Naval Postgraduate School in Monterey, Kalifornien, der über die „Wahlfälschung Ghanis“ – so nennt er das Geschehen – einen langen Bericht verfasst hat, in dem er Ashraf Ghanis Team eine gezielte und von langer Hand geplante Wahlmanipulation vorwirft.
Ähnliche Vorwürfe gab es bereits 2014 und 2009. In allen Fällen ging Abdullah als Verlierer hervor. Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 befand sich Abdullah anfangs auf dem ersten Platz. Nach einer Stichwahl gegen Ghani verlor er. Auch damals eskalierte der Streit zeitweilig, bis er letztendlich vom damaligen US-Außenminister John Kerry nach mehrmaligem Erscheinen in Kabul „gelöst“ wurde. Für Abdullah wurde der Posten des CEO, eine Art Regierungschef, den es laut der afghanischen Verfassung gar nicht gibt, geschaffen. Ghani wurde zum Präsidenten ernannt, nicht gewählt. Selection statt election, wortwörtlich. 2009 verlor Abdullah gegen Ex-Präsident Hamid Karzai. Auch damals war von Wahlfälschung die Rede.
Ironischerweise ist es Karzai, der aktuell die richtigen Worte findet und mit dem Finger auf die Amerikaner zeigt. Sie seien für die Misere verantwortlich und hätten das Dilemma vorzeitig lösen können, wenn es den Willen gegeben hätte, und tatsächlich ist dies gar nicht so falsch. Das US-amerikanische Demokratieprojekt ist in Afghanistan gescheitert. Der Grund hierfür ist nicht das einfache Volk, denn dieses war sich seiner Verantwortung bewusst und versuchte stets und trotz Taliban-Drohungen, zur Urne zu schreiten. Es sind die korrupten Eliten, die dank westlicher Hilfe an die Macht gekommen sind und für faire Wahlen nicht bereit sind. Stets sehen sie ihre Machtpositionen, allen voran den Zugang zu ausländischen Geldern, bedroht – und für den fortwährenden Erhalt ebenjener nehmen sie scheinbar alles in Kauf. Selbst eine Zersplitterung des Staates.
Es ist gewiss nicht falsch, Afghanistan im Jahr 2020 – mehr als achtzehn Jahre nach dem westlichen Einmarsch – als einen gescheiterten Staat zu bezeichnen, in dem eine weitere Supermacht versagt hat. Wohin dies führen wird, bleibt weiterhin offen. Eine inner-afghanische Versöhnung, die dringend notwendig wäre, ist weiterhin nicht in Sicht. Stattdessen findet ein fortwährendes Teile-und-Herrsche-Spiel statt, dass dank ausländischer Akteure auf den Schultern der Afghanen ausgetragen wird. Das gegenwärtige Geschehen in Kabul erinnert an historische Szenarien, die sich vor rund zweihundert Jahren abspielten. Auch damals erklärten sich etwa mehrere Prinzen gleichzeitig zum neuen König – und bekriegten einander, während sie von verschiedenen Seiten unterstützt wurden.
In Afghanistan wurde das Great Game zwischen Briten und Russen ausgetragen, der Kalte Krieg zwischen Ost und West und seit 2001 ein „War on Terror“, bei dem die Kriegsparteien undurchschaubarer geworden sind, fließend die Seiten wechseln oder teils auf mehreren Seiten agieren. Während Ghanis Vereidigung von westlichen Vertretern, allen voran von den US-Amerikanern, begleitet wurde, fand man auf Abdullahs Zeremonie Vertreter Russlands, Irans und der Türkei. Dies muss nicht viel bedeuten. Es bedeutet allerdings etwas, und zwar, dass das Great Game des 21. Jahrhunderts in Afghanistan noch lange kein Ende vor sich hat.
Titelbild: Natanael Ginting / Shutterstock