Die musikalische Bildung der Kinder in Deutschland wird fatal vernachlässigt, wie eine neue Studie bestätigt. Das ist für die Gesellschaft selbstzerstörerisch. Und es ist ungerecht, denn es trifft einmal mehr Benachteiligte. Der abwertende staatliche Umgang mit dem Kulturgut Musik offenbart eine soziale Kurzsichtigkeit in Zeiten der Polarisierung. Und er stärkt die Gewissheit, dass sich nur Reiche einen armen Staat leisten können. Von Tobias Riegel.
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Deutsche Schulkinder werden nicht angemessen an wichtige Kulturtechniken herangeführt. Vermutlich, weil er (auf den ersten Blick) nicht einer wirtschaftsradikalen Logik von Verwertung und Nützlichkeit entspricht, wird der vor allem an Grundschulen essenzielle Musikunterricht zunehmend weggespart oder auf anderen Wegen beschädigt: Viele Schulkinder haben keine hinreichende Chance auf angemessene musikalische Bildung in der Grundschule, weil Musik zu selten unterrichtet wird, und wenn, dann zu oft von nicht dafür ausgebildeten Lehrkräften. Das ist gesellschaftlich selbstzerstörerisch und sozial kurzsichtig: Kulturtechniken können den Zusammenhalt in Zeiten der Polarisierung fördern, ihre positive Wirkung geht weit über technische Fertigkeiten an einem Instrument hinaus.
„Musikalische Bildung an Grundschulen ist bald Vergangenheit“
Eine große Ignoranz gegenüber solchen Einsichten zeigt die erste bundesweite Auswertung von Daten zum Musikunterricht in Deutschland, wie der Deutsche Musikrat aktuell mitteilt. Der in den nächsten Jahren weiter zunehmende Musiklehrermangel erfordere dringend sofortige Gegenmaßnahmen. Um den in den Lehrplänen der Länder vorgegebenen (bereits bescheidenen) Umfang des Musikunterrichts „fachgerecht abzudecken“, würden rechnerisch jedoch 40.000 Musiklehrkräfte gebraucht, so der Musikrat. Darauf nicht zu reagieren, sei ungerecht:
„Ohne ein ausreichendes Angebot an Musikunterricht in der Grundschule bekommen vor allem sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler kaum Chancen, mit Musik in Kontakt zu kommen.“
Der Musikrat spricht von einem Weckruf: Werde nicht gegengesteuert, „ist die musikalische Bildung an Grundschulen bald Vergangenheit“, warnte Generalsekretär Christian Höppner laut einer Mitteilung. Musikunterricht ist der neuen Studie zufolge einerseits zentral für die Persönlichkeitsbildung von Kindern – er findet aber andererseits in den ersten Schuljahren viel zu wenig statt, wie Medien aktuell berichten. Die am Mittwoch veröffentlichte Untersuchung hatten die Bertelsmann Stiftung, der Deutsche Musikrat und die Landesmusikräte-Konferenz beauftragt.
Bertelsmann – dubioser Partner für eine Bildungs-Studie
Zunächst eine Anmerkung zur Studie selber, die unter diesem Link zu finden ist: Mit der Bertelsmann Stiftung hat sich der Musikrat einen sehr fragwürdigen Partner gesucht, wenn es darum geht, durch Kürzungen und Fehlplanungen verursachte Missstände im Bildungswesen aufzudecken. Die NachDenkSeiten haben den destruktiven Charakter dieser mächtigen Stiftung etwa in diesem Artikel oder in diesem Artikel thematisiert.
Vor diesem Hintergrund könnte die Motivation von Bertelsmann für die Erstellung der Studie dubios erscheinen, dadurch könnten auch die Ergebnisse eingefärbt sein – wenn, dann aber mutmaßlich in eine beschönigende Richtung. Doch die nun veröffentlichten Resultate der Studie sind trotzdem noch bedenklich genug: Demnach haben die Grundschüler in den ersten vier Schuljahren je nach Bundesland einen Anspruch von ein bis zwei Stunden Musik in der Woche. Das ist bereits wenig. Zusätzlich werde dieser Unterricht nur zu rund 43 Prozent von Musiklehrern erteilt – aber zu etwa 50 Prozent „fachfremd“, die übrigen Stunden fallen ganz aus. Es gebe größere regionale Unterschiede. Wie für alle Schulformen und fast alle Fächer bestehe auch bei Musikpädagogen ein Mangel.
Der musisch-ästhetische Bereich wird „total vernachlässigt“
Bei Einstellungen seien die Schulen aber oft bemüht, zunächst die „Hauptfächer“ zu besetzen, sagte Maresi Lassek, Bundesvorsitzende des Grundschulverbands, gegenüber Medien. Die Bedeutung des Musikunterrichts werde unterschätzt, der musisch-ästhetische Bereich in der Grundschule „total vernachlässigt“. Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates, sagt dazu in einer aktuellen Stellungnahme:
„Wenn Politik und Gesellschaft jetzt nicht handeln, ist die musikalische Bildung an Grundschulen bald Vergangenheit – und damit ein zentraler Baustein für die Persönlichkeitsbildung Heranwachsender. Musikalische Bildung gehört zu den elementaren Kulturtechniken einer humanen Gesellschaft. Deshalb sind jetzt die Parlamente und Regierungen der Länder aufgefordert, die finanziellen Voraussetzungen für eine qualifizierte und kontinuierliche musikalische Bildung zu schaffen.“
In die Untersuchung waren Daten aus Länderministerien, Statistikämtern und Kultusministerkonferenz eingeflossen. Die Studie bezieht sich nur auf 14 Bundesländer – nicht auf Bayern und das Saarland, die dortigen Ansätze seien nicht vergleichbar, erläuterte die Vorsitzende der Landesmusikräte-Konferenz, Ulrike Liedtke. Mit der Studie habe man für das Grundschulfach Musik erstmals belastbare Zahlen zu Stundentafeln, erteiltem Unterricht und Lehrkräften. „Das Thema Musikunterricht in den Grundschulen braucht mehr Gewicht“, forderte auch Liedtke: Über Musik könne die Empathie- und Kommunikationsfähigkeit der Schüler gestärkt werden. Gemeinsames Musizieren unterstütze auch die Inklusion von Kindern mit Beeinträchtigungen und die Integration von Zugewanderten mit noch schwachen Sprachkompetenzen.
Zwischen den Ländern schwanken laut „Tagesspiegel“ die Anteile des fachgerecht beziehungsweise fachfremd erteilten Unterrichts stark. Positiver Spitzenreiter sei Sachsen-Anhalt, wo 88,6 Prozent des in der Stundentafel vorgesehenen Unterrichts – in einem Korridor von vier bis acht Stunden – von ausgebildeten Musiklehrkräften erteilt würde. Schlusslicht sei Bremen, dort würden 72,5 Prozent der in der Stundentafel vorgesehenen acht Stunden fachfremd unterrichtet.
„Die musikalische Bildung darf nicht zur Privatsache werden“
Die NachDenkSeiten haben das Thema Musikunterricht bereits in diesem Artikel aufgegriffen: Es sei einerseits Zeichen einer neoliberal dominierten Zeit, dass alles, was nicht direkt verwertbar ist, also auch die Begeisterung für das Musizieren, kurzsichtig vernachlässigt werde – nachdem es als „gestrig“ und „verstaubt“ diffamiert wurde. Andererseits zeige sich in diesem Verhalten auch eine selbstzerstörerische Ader des Neoliberalismus: Die langfristigen Folgen der Missachtung der Musik sind nicht nur eine kulturelle Ödnis, sondern auch ein Schaden an „liberalen“ Zielen – etwa in Situationen des Wettbewerbs.
Aber vor allem: Musik sei (neben der Befriedigung durch eine technische Fertigkeit oder ein erfolgreiches Konzert) ein wichtiges Kommunikationsmittel für den Alltag: Das Erlernen eines Instruments, das Spielen in der Band oder im Orchester, das Singen im Chor – es schütze vor Vereinsamung und gebe ganz allgemein Sicherheit. Insofern sei das Musizieren Grundlage für zahlreiche klassische „Soft-Skills“, die im Google-Zeitalter angeblich hohe Wertschätzung erfahren, wovon in der Realität neben Sonntagsreden nichts zu spüren sei.
Eher beweise der abwertende staatliche Umgang mit dem wichtigen Kulturgut Musik einmal mehr, dass sich nur Reiche einen armen Staat leisten können: Wer seinem Kind eine angemessene Begegnung mit der Welt der Musik ermöglichen möchte, sei auf eigene Initiativen und private Akteure angewiesen – und auf das nötige Geld, diese zu bezahlen. Das treibt auch Ortwin Nimczik um, Professor für Musikpädagogik und Präsident des Bundesverbands Musikunterricht:
„Die musikalische Bildung darf nicht zur Privatsache werden.“
Christian Höppner vom Musikrat brachte bereits 2018 im „Deutschlandfunk“ das Missverhältnis zwischen den „Deutschland-geht’s-gut!“-Rufen der Politik und einer sabotierten Musik-Bildung auf den Punkt:
“Und ich finde, dass das in der viertreichsten Industrienation der Welt ein Skandal ist, dass wir uns so eine defizitäre Bildung erlauben. Es geht nicht darum, lauter kleine Mozarts heranzuzüchten, sondern es ist einfach die Grundüberzeugung, dass Musik ein ganz wesentlicher Bestandteil ist, mit dem jedes Kind zumindest in Berührung kommen soll.“
Die NachDenkSeiten sind bei dem Thema unter anderem zu folgendem Schluss gekommen:
„Vor allem aber braucht es Kontinuität und einen Abschied vom Glauben an die Event-Kultur: Was passiert, wenn Simon Rattles Zirkus! weiterzieht? Es ist beim Musikunterricht wie bei vielen Bereichen, die vom Neoliberalismus attackiert wurden: Punktuelle, im Zweifel private Leuchtturm-Projekte sollen die teure langfristige staatliche Grundversorgung ersetzen und die Sicht auf den alltäglichen Mangel blenden – diese Strategie muss in die geistige Verarmung führen.“
Titelbild: antoniodiaz / Shutterstock