In Italien hat die „Erkrankung, die verläuft wie ein Schnupfen“ (Zitat des Leiters des Frankfurter Gesundheitsamtes) nun bereits 631 Menschenleben gefordert und das Gesundheitssystem an den Rand des Chaos geführt. Und dies ist nur der Beginn. Was wir heute in Italien beobachten, wird mit zwei, drei Wochen Verzögerung auch in Deutschland zu beobachten sein. Dennoch lautet die Devise von Bund und Ländern „Augen zu und durch“. Wertvolle Zeit wurde und wird vertrödelt, die Kanzlerin ist auf Tauchstation, ihr Gesundheitsminister chronisch überfordert und übt sich in Beschwichtigungsversuchen. Während andere Länder handeln, streitet man sich in Deutschland über Zuständigkeiten. Auch wenn es bitter klingt: In Sachen Corona ist Deutschland ein „failed state“ – der Politik ist die Kontrolle entglitten. Von Jens Berger.
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Wer über das Coronavirus schreibt, läuft schnell Gefahr, von einigen Zeitgenossen als „Panikmacher“ abserviert zu werden. Unter Verweis auf den meist mild oder gar symptomfreien Krankheitsverlauf wirken Forderungen nach konsequenten Eindämmungsmaßnahmen in der Tat schnell überzogen. Doch hier wäre mehr Differenzierung nötig. Denn Personen, die älter als 65 oder vorerkrankt sind, nutzen die „schnupfenähnlichen“ Symptome junger, fitter Erkrankter herzlich wenig. Hier geht es um kalte Wahrscheinlichkeiten und erst wer das verstanden hat, kann die Risiken richtig einordnen.
Erst gestern fragte mich ein Freund, ob ich eigentlich Angst vor „Corona“ habe? Meine Antwort war ein klares „Jein“. Nein, ich selbst habe keine Angst. Ich bin ein rationaler Mensch, der weniger an Götter und das Schicksal, dafür aber um so mehr an Statistiken, Wahrscheinlichkeiten und die Wissenschaft glaubt. Als – zumindest im „Coronamaßstab“ – junger und vergleichsweise sportlicher Mensch ohne Vorerkrankungen gehöre ich einer demographischen Gruppe an, bei der eine Covid-19-Erkrankung in nahezu allen Fällen mild und oft sogar nahezu symptomfrei verläuft; „wie ein Schnupfen“ könnte man sagen.
Aber um mich geht es hier auch nicht. Gäbe es auf der Welt nur junge, gesunde Menschen, bräuchten wir uns wohl über Corona nicht weiter zu unterhalten. Aber dem ist bekanntlich nicht so und für Menschen mit anderen demografischen oder medizinischen Vorbedingungen sehen die Daten zu Covid-19 leider vollkommen anders aus. So weisen die Daten der chinesischen Behörden für Menschen, die älter als 70 Jahre sind, massiv höhere Sterblichkeitsraten von 8,0% bis 14,8% aus. Der deutsche Virologe Christian Drosten nennt in diesem Zusammenhang sogar Sterblichkeitsraten von 20 bis 25 Prozent. Stark erhöht ist auch die Sterblichkeitsrate von Menschen mit Vorerkrankungen.
Man kann solche Wahrscheinlichkeiten gut mit dem aus älteren Filmen bekannten „Russischen Roulette“ vergleichen. Als junger, gesunder Mensch hat man bei Covid-19 eine geschätzte Fallsterblichkeit von unter 0,1%. In einem Revolver mit mehr als eintausend leeren Kammern befindet sich also eine Patrone. Das Risiko ist überschaubar. Bei einer Sterblichkeitsrate von 20 Prozent – wie sie für vorerkrankte über 80-Jährige zutreffen dürfte – hat der Revolver jedoch nur fünf Kammern, von denen in einer eine scharfe Kugel steckt. Würden Sie dieses Risiko freiwillig eingehen? Ganz sicher nicht.
Um mich, meine Frau und meinen Sohn, allesamt jung und „pumperlgesund“, mache ich mir daher auch keine Sorgen … wohl aber beispielsweise um meine Eltern, die nicht mehr den demografischen und medizinischen Komfort haben, zu keiner Risikogruppe zu gehören.
Hier möchte ich gerne den Bogen vom Einzelfall zur Gesellschaft und zur Politik schlagen. Politik ist nicht dazu da, die Jungen und die Starken zu schützen. Solidarität heißt vor allem, sich für die Interessen derjenigen einzusetzen, die Hilfe und Unterstützung benötigen. Und hier ist es vollkommen irrelevant, dass Covid-19 in 80% aller Fälle – vornehmlich bei den Jungen und Starken – mild oder gar symptomfrei verläuft. Interessant sind im gesellschaftlichen und politischen Kontext die 20% aller Fälle, in denen die Krankheit nicht mild verläuft und hier vor allem die relativ wenigen Fälle, in denen die Krankheit schwere, kritische oder gar tödliche Verlaufsformen annimmt. Hier ist es die originäre Aufgabe der Politik, diese Menschen zu schützen und hier hat die deutsche Politik bereits jetzt auf ganzer Ebene versagt und dies wider besseren Wissens!
Covid-19 kam nicht überraschend nach Deutschland. Doch anstatt die Infektionsketten früh zu unterbrechen und Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung in einem frühen Stadium einzudämmen, begnügte sich die Bundesregierung mit Beschwichtigungsfloskeln und selbstaffirmativen Schulterklopfern, wie gut man doch vorbereitet sei. Doch gut vorbereitet war und ist hierzulande überhaupt nichts und bis heute – mehr als drei Monate nach dem Ausbruch der Krankheit in China – wirken die Verantwortlichen vollkommen überfordert und deplatziert. Es scheint so, als sei den Verantwortlichen der Ernst der Lage zu keiner Zeit überhaupt bewusst – ein Kontrollverlust ohnegleichen.
Um was geht es eigentlich? Nachdem das Unterbrechen der Infektionsketten gescheitert ist und das Virus sich nun weitestgehend ungehemmt verbreitet, ist das, was Virologen als „Durchseuchung“ der Bevölkerung bezeichnen, nicht mehr abzuwenden. Die entscheidende Stellschraube für die Politik ist nun die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus ausbreitet. Hier geht es tatsächlich um Menschenleben, wie die momentane Lage in Italien es vortrefflich aufzeigt.
Zugespitzt: Wenn für zwei Patienten, die eine künstliche Beatmung benötigen, nur ein Intensivbett samt Beatmungsgerät zur Verfügung steht, muss der Arzt vor Ort entscheiden, welcher Patient die lebensrettende Behandlung bekommt. Je mehr solcher Fälle konzentriert in einem bestimmten Zeitraum auftreten, desto mehr Patienten können nicht optimal intensiv- und apparatemedizinisch versorgt werden und desto höher ist die Sterblichkeit bei solchen schweren Verlaufsformen. Daher ist auch so wichtig, die Infektionsrate zu senken und damit die Krankheiten zeitlich so weit wie möglich zu strecken. Dies wäre auch die oberste Aufgabe der Politik.
Doch weder auf organisatorischer noch auf kommunikativer Ebene nimmt die Politik diese Aufgabe wahr. Die Folgen sind absehbar. In Italien, das Deutschland in Sachen Corona lediglich drei, vier Wochen voraus ist, sind bereits jetzt die Krankenhausbetten überbelegt und die Kapazität der Intensivstationen ist erschöpft.
Wie gut Deutschland darauf vorbereitet ist, zeigt ein einfaches Rechenbeispiel. In Deutschland kommen auf 100.000 Einwohner rund 30 Intensivbetten. Wenn sich nun 50% der Bevölkerung mit dem neuen Coronavirus infizieren und die Krankheit in zwei Prozent aller Fälle kritisch verläuft, würden 1.000 Patienten um diese 30 Betten konkurrieren und man darf hier auch nicht vergessen, dass diese Betten zur Zeit zu 80% belegt sind. Von 30 Betten stehen de facto also nur sechs sofort zur Verfügung. Diese Zahlen mögen technisch oder gar abstrakt wirken. Aber letztlich ist dies die Kernfrage, die letztlich den Unterschied machen wird, wie schwer Covid-19 Deutschland treffen wird und wie hoch die Zahl der Opfer sein wird. Wenn es zu einer massiven Infektionswelle kommt, reicht dies hinten und vorne nicht aus, aber zum Glück werden ja auch nicht alle Patienten gleichzeitig krank. Wenn sich die 1.000 Patienten aus dem Rechenbeispiel gleichmäßig auf ein oder gar zwei Jahre verteilen, ist die Versorgung weitestgehend gesichert. Kommt es jedoch zu einer rasanten Epidemie, in der diese Fälle gehäuft in wenigen Wochen auftreten, steht das Gesundheitssystem vor dem Kollaps.
An der Zahl der Betten und der personellen Ausstattung der Krankenhäuser kann die Politik auf die Schnelle freilich nichts ändern. Die hierfür verantwortlichen Fehlentscheidungen im Rahmen der Privatisierung und der Sparpolitik liegen in der Vergangenheit. Aufgabe der jetzigen Politik wäre es – wie bereits erwähnt – die Infektionsrate derart zu verlangsamen, dass der auf die Schnelle nicht zu behebende Mangel an Kapazitäten möglichst wenige Todesopfer fordert. Und hier muss man leider die „Augen-zu-und-durch“-Strategie der Bundesregierung als vorsätzliche Inkaufnahme von Opfern werten. Weil man konsequente Eindämmungsmaßnahmen (noch) für unverhältnismäßig hält, nimmt man billigend in Kauf, dass es in einigen Wochen zu – womöglich dramatischen – Engpässen bei der intensivmedizinischen Versorgung der Bevölkerung kommen wird.
Ist das alles übertrieben? Immerhin sprechen wir doch selbst im Fall Italien doch „nur“ von zur Zeit 631 Toten. Wer so argumentiert, vergisst jedoch, dass die Pandemie gerade eben erst beginnt. Auch die Pest oder die Spanische Grippe hatten zu einem bestimmten Zeitpunkt nur 631 Todesfälle. Aber dabei blieb es nicht und dabei wird es auch bei Covid-19 nicht bleiben. China hat gezeigt, dass man eine derartige Epidemie mit großem Aufwand auch zu einem späteren Zeitpunkt noch eindämmen und die Zahl der Infizierten begrenzen kann. Die WHO bringt es in ihrem Bericht zu den chinesischen Maßnahmen auf den Punkt: „Ein großer Teil der Weltgemeinschaft ist sowohl in der Geisteshaltung als auch materiell nicht bereit, solche Maßnahmen zu ergreifen.” Dem ist, insbesondere was Deutschland betrifft, nichts hinzuzufügen. Deutschland wird niemals flächendeckend ganze Bundesländer inklusive der kompletten Industrie stilllegen. Covid-19 wird sich also weiterverbreiten. Die Frage ist nur, in welchem Tempo und damit auch mit welcher Sterblichkeitsrate.
Wenn Bund und Länder sich weiterhin auf die Rolle des kommentierenden Beobachters zurückziehen und sich weigern, die Krise aktiv zu managen, wird dies Menschenleben kosten. Dies ist anscheinend weder der Politik noch der Öffentlichkeit zur Zeit wirklich klar; anders ist der Fatalismus, in den das Land sich verabschiedet hat, kaum zu erklären.
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