Die NachDenkSeiten hatten sich bereits in den letzten Wochen kritisch mit der Geschichte der CDU auseinandergesetzt. Albrecht Müller und Oskar Lafontaine beschäftigten sich dabei mit der Propaganda und der Lebenslüge der CDU. Ins gleiche Horn stößt die Schriftstellerin und Journalistin Daniela Dahn, die den NachDenkSeiten einen gut zum Thema passenden Auszug aus ihrem aktuellen Buch „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ zur Verfügung gestellt hat.
Warum ausgerechnet der DDR-Antifaschismus das größte Hassobjekt der westdeutschen Elite war und ist, habe ich lange nicht verstanden. Gut, die DDR-Historiker und Juristen hatten bei der Aufarbeitung von Schuld und Mitverantwortung an den Verbrechen der Nazis einen gewaltigen Vorsprung. Das galt nicht nur für die KZ-Forschung, sondern auch für persönliche Verstrickungen Einzelner, die Rückschlüsse auf die Strukturen des Systems zuließen. Die DDR-Führung hatte dabei den Vorteil, über die nötigen Archive zu verfügen und auch zusätzliche politische Motive zu haben. Denn viele der Belasteten waren inzwischen im Westen hohe Funktionsträger. Daraus aber ausschließlich auf den Willen zu Propaganda gegen die Bundesrepublik zu schließen, greift zu kurz. Kein Zeithistoriker vermag zu sagen, wie denn in dieser ungeheuerlichen Causa Globke eine Aufklärung hätte aussehen sollen, die nicht unweigerlich dem Ansehen der Bundesrepublik erheblichen Abbruch getan hätte. Die Herabwürdigung wuchs aus der Sache selbst.
Nestbeschmutzung wurde auch dem mutigen Ausnahmejuristen Fritz Bauer bösartig unterstellt. Als Generalstaatsanwalt in Hessen wollte der Initiator des Eichmann- und der Auschwitzprozesse auch Hans Globke in Frankfurt am Main den Prozess machen. Er hatte dazu insgeheim von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR Dokumente besorgt, denn die hatte die Personalakte Globkes. Bauer riskierte viel, nach dem damaligen politischen Strafrecht der BRD hatte er damit den Tatbestand des Landesverrats erfüllt. Als Adenauer von den Prozessplänen erfuhr, wurde Bauer massiv öffentlich attackiert und dem SPD-Ministerpräsidenten Georg August Zinn, gedroht, jede Zusammenarbeit zwischen CDU und SPD einzustellen. Bauers Ermittlungen gegen Globke mussten an die Staatsanwaltschaft Bonn abgegeben werden und wurden dort so schnell wie möglich eingestellt.
Nun blieb nur noch die DDR. Viele Antifaschisten hatten in Haft oder Exil ähnliche Leidensgeschichten erfahren, wie die Politbüromitglieder Hermann Axen, der Auschwitz überlebt hatte oder Albert Norden, Sohn eines Rabbiners, der erst nach der Rückkehr aus dem US-Exil erfuhr, dass sein Vater in Auschwitz vergast wurde. Man kann ihnen allen nicht absprechen, primär zutiefst verinnerlichte, antifaschistische Absichten verfolgt zu haben. Das von Norden herausgegebene, gut recherchierte Braunbuch über 1800 NS-belastete Politiker, leitende Beamte, Wirtschaftsführer und Generäle hatte nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die Aufarbeitung in der Bundesrepublik endlich in Gang kam. Hätte das nach der Einheit nicht zu den anzuerkennenden Lebensleistungen zählen können?
Auf so viel Souveränität der Sieger durfte nicht gehofft werden. Wie sehr die Vorzeigedemokratie der westlichen Elite vom DDR-Antifaschismus bis ins Mark getroffen wurde, ist mir erst unlängst ganz klar geworden. Die für die NS-Aufarbeitung überaus verdienstvolle Stiftung Topografie des Terrors lud am 5. Februar 2019 zur Präsentation des Buches „Der Fall Globke“[1] von Klaus Bästlein. Der Autor, langjähriger Referent beim Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, zeichnete sich schon durch seine dieser Behörde nahen Wortwahl nicht als DDR-Sympathisant aus. Dennoch hat er sich einem Thema gewidmet, das seit Jahrzehnten kein Historiker auch nur mit der Kohlenzange angefasst hatte: Dem spektakulären Urteil des in Vergessenheit geratenen Prozesses gegen Hans Globke, der 1963, noch während seiner Amtszeit als Chef des Kanzleramtes, in Abwesenheit in Ostberlin geführt worden war.
Das Buch analysiert das Urteil und kommt zu atemberaubende Erkenntnissen über den tatsächlichen Anteil Globkes am Völkermord an den Juden. Bisher hatte sich ein Bild verfestigt, wonach Globkes Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen zwar eine demaskierende Offenbarung seiner Gesinnung und wahrlich keine Empfehlung für ein hohes Amt war, aber die DDR-Propaganda seine Verstrickungen übertrieben hatte. Nach 65 Jahren werden die DDR-Ermittlungen gegen Globke endlich von einem westlichen Historiker und Volljuristen zur Kenntnis genommen.
Sehr viel schwerwiegender als die Kommentierung der Nürnberger Gesetze war danach, dass Hans Globke die Durchführungsbestimmung zu diesen Gesetzen nach eigenem Gutdünken verfasste. Der Reichsparteitag hatte zwar im September 1935 das Blutschutzgesetz erlassen, das arisches Blut vor nichtarischem schützen sollte. Aber auch danach blieb völlig unklar, wie man den Unterschied beider angeblichen Blutsorten überhaupt feststellen sollte, wer also Jude war. Der normative Rassenwahn erwies sich sowohl aus biologischer, wie auch aus theologischer Sicht als völliger Blödsinn. Es gibt kein messbares Merkmal, mit dem man jemanden einer jüdischen Rasse zuordnen kann.
Deshalb griff Globke, Referent für Rassefragen im NS-Innenministerium, auf eine Hilfskonstruktion zurück, die entgegen aller rassistischen Hetze jenseits ethnischer Kriterien lag – die Kirchenbücher. Die Religion wurde zur einzigen Stütze des Judenmords. Und damit noch etwas von der Abstammungslehre gerettet werden konnte, verfolgte man die Kirchen-Register bis in die Großelterngeneration. „Fortan entschied die zufällige Religionszugehörigkeit der Großeltern über das Schicksal der Betroffenen.“[2] So erfand Globke auch die unsägliche Bruchrechnung für jüdische Anteile. Er regte die Verordnung an, nach der alle Reisepässe von Juden für ungültig erklärt wurden und nur mit dem Stempel „J“ wieder in Kraft traten, und bestimmte die Zwangsvornahmen Sara und Israel. Damit hatte er das Definitionshindernis beseitigt.
Ein anderes großes Hindernis war die Befürchtung, dass bei Deportationen eine Flut von Eigentumsansprüchen der Hinterbliebenen auf die Gerichte zukommen würde. Globkes Durchführungsbestimmung zum Reichsbürgergesetz erklärte handstreichartig Juden, die außer Landes gingen, ob freiwillig oder nicht, für staatenlos. Und bei Staatenlosen verfiel das Vermögen auf das Reich. Nunmehr stand der Shoa nichts mehr im Wege. Eichmann konnte übernehmen. Doch auch Globke war kein reiner Schreibtischtäter. Kurz bevor in den besetzten Ländern Judendeportationen bevorstanden, reiste Globke persönlich an, ob in Frankreich, Ungarn oder Griechenland. Er überzeugte sich, ob alles so vorbereitet war, dass die Tötungsmaschinerie reibungslos in Gang kommen konnte.
Das Urteil sprach der Präsident des Obersten Gerichts der DDR, Heinrich Toeplitz, Mitglied der CDU und selbst rassisch Verfolgter. Neu war die exakte Beweiskette dafür, dass der Völkermord zuerst durch Gesetz begangen, ehe er physisch vollzogen wurde. Wegen „in Mittäterschaft begangenen, fortgesetzten Verbrechens gegen die Menschlichkeit in teilweiser Tateinheit mit Mord“ wurde Globke zu lebenslangem Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.
Bästleins Fazit zum DDR-Prozess: „Diese Zusammenhänge wurden in Deutschland erstmals im Globke-Urteil umfassend dokumentiert. Das Oberste Gericht nahm dabei durchweg richtige historische Einordnungen vor, und diese übertrafen das damals herrschende Niveau bei Weitem… Die juristischen Ableitungen und Einordnungen der von Globke entworfenen NS-Normativakte waren fehlerfrei; die westdeutsche Geschichtswissenschaft erreichte dieses Niveau erst mehr als 40 Jahre später.“[3] Ohne die Vorarbeit des Juristen Globke wäre der Holocaust nicht möglich gewesen. Er allein schuf die juristischen Voraussetzungen für den Massenmord. „Globke gehört zu den Haupttätern in diesem Bereich.“ Seine Verurteilung zu lebenslanger Haft war nach nationalem und internationalem Völkerrecht korrekt.
Schlimmer konnte es nicht kommen, zwischen dem CDU-Staat und dem Antifaschismus. Im ND hieß es in einem Kommentar: Adenauers rechte Hand ist rechtskräftig ein Zuchthäusler. Bästlein sieht darin Propaganda, aber der Satz beschreibt zutreffend eine Tatsache. Dieses Skandalon lag nicht beim ND. Auch wenn es insgesamt mit Begriffen wie „Weltgericht“ oder „Fortsetzung des Eichmann Prozesses“ die eigene Wahrnehmung in der Welt stark überhöhte und damit an Glaubwürdigkeit verlor.
Adenauer war jedoch durch nichts zu bewegen, auf diesen Mann im Kanzleramt zu verzichten. Globke war „ der zweite Mann im Staat“. Er bereitete jede Regierungsentscheidung vor, hatte die Justiz fest im Auge, legte die Prioritäten fest. Das erste Gesetz, das im Bundestag verabschiedet wurde, war 1950 das Amnestie-Gesetz für NS-Täter! Über Globkes Schreibtisch gingen alle wichtigen Personalfragen. Er bestimmte, wie der umstrittene Art. 131 GG auszulegen ist. Stand etwa die Frage, wer Präsident des BGH werden sollte, so hatte ein jüdischer Liberaler keine Chance gegen ein Mitglied des einstigen Reichsgerichtes. Globke ebnete der Organisation Gehlen den Weg und lies über sie die Opposition geheimdienstlich überwachen (auch SPD-Politiker wie Heinemann, Posser, Brandt, Wehner).
Die öffentliche Kritik an diesen Zuständen hielt sich in der Bundesrepublik im Kalten Krieg in Grenzen. Außer der jüdischen Journalistin Inge Deutschkron hat eigentlich niemand gegen den Altnazi protestiert, sagten die Historiker bei jener Buchvorstellung. Globke hat bei der Renazifizierung ganze Arbeit geleistet: Zwei Drittel der 9000 westdeutschen Richter und Staatsanwälte hatten schon unter Hitler gedient. Im Bundesjustizministerium, etwa in der Abteilung Strafrecht, waren 77 Prozent der leitenden Beamten einstige NSDAP-Mitglieder. Im Bundeskriminalamt war es noch schlimmer: Ende der 50er Jahre kamen im höheren Dienst zwei Drittel aus der SS. Beim BND hatte die Hälfte der Mitarbeiter eine NS-Vergangenheit.[4]
Auch die DDR wollte oder konnte nicht völlig auf NSDAP-Mitglieder verzichten. Aber ihre Personalpolitik zeigte doch, dass man nicht in solch perversem Ausmaß auf das Nazi-Erbe von acht Millionen NSDAP-Mitgliedern angewiesen war. Im Bereich Innere Sicherheit, also in der Staatssicherheit, der Volkspolizei und der höchsten Leitungsebene des Innenministeriums, arbeiteten bis 1970 zehnmal weniger PG´s, nämlich sieben Prozent.[5] Auf der mittleren Ebene des Innenministerium sollen es 20 Prozent gewesen sein, auch die Armee setzte auf Sachkenntnis. Doch wirklich Schwerstbelastete kamen nirgends in Verantwortung. Die Wiederverwendung beschränkte sich, bis auf wenige Ausnahmen aus der mittleren Ebene, auf niedere Chargen und nominelle NSDAP-Mitglieder, deren Werdegang überprüft wurde, was im Einzelfall Jahre dauern konnte.
Im Westen dagegen gehörten schwer Belastete aus der NS-Funktionselite sehr bald wieder zur neu-alten Elite im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft.[6] Als Kanzleramtschef Globke, der in der Bundesrepublik als unbelastet entnazifiziert worden war, im Oktober 1963 zusammen mit Adenauer zurück trat, hatte er das Werk der personalen Renazifizierung der Bundesrepublik abgeschlossen. Es habe in der BRD bestenfalls „Streichelstrafen für Mördernazis“ gegeben, so im selben Jahr der Philosoph Ernst Bloch. Von Globkes Erbe hat sich die Bundesrepublik bis heute nicht erholt. Das lässt sich nur mit Absicht erklären. Ostdeutsche mussten nach der Vereinigung den Eindruck gewinnen, dass sie das auch spüren sollen.
Im Buch folgt hier das Kapitel: Rechtslastige Signale aus allen staatlichen Institutionen, in dem nach dem Beitritt der DDR bundesdeutsche Einrichtungen wie Polizei, Geheimdienst, Justiz, Universitäten, Schulbüchern, Bundesbahn, Auswärtiges Amt, Bundeswehr, staatliche Versorgungsträger, auf nazifreundliche und gleichzeitig antikommunistische Verhaltensweisen, Verordnungen, Dienstvorschriften, Rechtsprechung oder Traditionspflege abgeklopft werden.
Titelbild: Blende8/shuttestock.com
[«1] Klaus Bästlein: Der Fall Globke, Propaganda und Justiz in Ost und West, Metropol Verlag, Berlin 2018
[«2] Ebenda S. 136
[«3] Ebenda S. 143
[«4] Zahlen aus: Klaus Bästlein: Das Urteil gegen Hans Globke, in: Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR, Frankfurt/M 2018, S. 92
[«5] Ebenda S. 178
[«6] Siehe: Annette Weinke: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949-1969. Paderborn 2002