Viele Jahre hat das politische Establishment das Problem sozialer Ungleichheit mehr oder weniger ignoriert und sich nicht darum gekümmert. Aber zunehmend fliegt der politischen Klasse ihre Politik in Form von massiven Krisen (siehe Thüringen) und zunehmendem Rechtsradikalismus bis hin zu Terrorattentaten um die Ohren. Nicht wenige machen sich Sorgen, dass die stark zugenommene soziale Ungleichheit unsere Demokratie gefährdet. Der Politologe Christoph Butterwegge hat zum Thema „Ungleichheit“ nun ein Grundlagenwerk mit dem Titel „Die zerrissene Republik“ vorgelegt. Udo Brandes hat es für die NachDenkSeiten gelesen.
„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“
Eine Rezension von Udo Brandes
Um mal von hinten anzufangen: Was ist das Fazit von Christoph Butterwegge? Letztlich die Umkehrung der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte. Dazu gleich mehr. Vorab ein Detail, das mich überraschte: Ich habe immer gedacht, dass die neoliberale Politikära mit dem Koalitionsbruch der FDP (Stichwort Lambsdorff-Papier) und der Inthronisierung von Helmut Kohl durch das Misstrauensvotum von 1982 einsetzte. Butterwegge, und das hat mich überrascht, setzt den Beginn der Umverteilungspolitik von unten nach oben jedoch weitaus früher an, nämlich noch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition 1974/75 (S. 402). Vielleicht habe ich es überlesen, aber ich habe im Buch nirgendwo eine nähere Erläuterung dieser Datierung des Beginns der Umverteilungspolitik von unten nach oben gefunden. Da ich Butterwegge nicht unterstelle, dass er sich diese Datierung aus den Fingern gesaugt hat, gehe ich also zukünftig davon aus, dass die Neoliberalisierung der SPD nicht erst unter Gerhard Schröder begann, sondern schon zu Zeiten Helmut Schmidts.
Wie definiert Butterwegge die Ungleichheit in der Gesellschaft?
Butterwegge unterscheidet drei Dimensionen von Ungleichheit: Wirtschaftliche Ungleichheit, soziale Ungleichheit und politische Ungleichheit.
„Um wirtschaftliche Ungleichheit handelt es sich dann, wenn die ökonomischen (Macht)strukturen eine Verteilungsschieflage beim Einkommen und/oder Vermögen hervorbringen, die bestimmte Personengruppen hinsichtlich der ihnen zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen privilegiert und andere diskriminiert. Von sozialer Ungleichheit sprechen wir dann, wenn gesellschaftliche Normen, Strukturen und/oder Institutionen bestimmte Personengruppen im Hinblick auf die Stellung oder den Status ohne sachlichen Grund benachteiligen, andere hingegen ohne sachlichen Grund bevorzugen (Ich habe dies so verstanden, dass zum Beispiel Schulen von ihrer ganzen Anlage her Kinder aus bürgerlichen Elternhäusern privilegieren und Kinder aus Arbeiterfamilien benachteiligen; UB). Von politischer Ungleichheit ist dann die Rede , wenn nicht alle Bürger/innen eines (demokratisch verfassten) Landes über dieselben Möglichkeiten der Einflussnahme auf staatliche Entscheidungsprozesse und Personalentscheidungen verfügen“ (S. 12).
Butterwegge sieht in der ökonomischen Ungleichheit den entscheidenden Wirkfaktor:
„Man kann davon ausgehen, dass die ökonomische Ungleichheit der Schlüssel zur Erklärung gesellschaftlicher Verwerfungen unterschiedlicher Art ist. Denn sie strahlt auf die übrigen Gesellschaftsbereiche aus. Es gibt unterschiedliche Erscheinungsformen der Ungleichheit, die letztlich im wirtschaftlichen Bereich wurzeln“ (S.13).
Butterwegge betont aber auch, dass es sich bei Ungleichheit nie um ein rein ökonomisches Problem handle und dass man Ungleichheit nicht nur aus der Ökonomie erklären dürfe:
„Ökonomistisch wäre es hingegen, allen Ernstes anzunehmen, dass man soziales Ansehen, aber auch weltanschauliche Überzeugungen, politische Orientierungen und religiöse Glaubensbekenntnisse eines Menschen unmittelbar aus den materiellen Lebensbedingungen von Klassen und/oder Schichten ableiten kann“ (S. 14).
Auch Marx und Engels, so Butterwegge, hätten immer wieder auf die Eigengesetzlichkeit und relative Autonomie des geistig-politischen Überbaus verwiesen.
Die Ursachen des erstarkenden Rechtsradikalismus
Sie werden es vielleicht auch schon mal beobachtet haben: Wenn im Fernsehen oder Radio über den zunehmenden Rechtsradikalismus diskutiert wird, kann man den Eindruck bekommen, als wären ganz plötzlich braune Männchen vom Himmel geflogen gekommen. Was ich damit sagen will: Die ökonomischen und sozialen Ursachen dieser Entwicklung werden in den Medien gerne verschwiegen oder verleugnet. Dabei hat der Soziologe Max Horkheimer diesen Zusammenhang schon am Vorabend des Zweiten Weltkrieges prägnant auf den Punkt gebracht:
„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (Max Horkheimer).
Auch Butterwegge betont die sozioökonomische Bedingtheit des neuen Rechtsradikalismus. Er hält kultursoziologische Deutungen dieses Phänomens, wie sie zum Beispiel die Soziologin Cornelia Koppetsch in ihrem viel diskutierten Buch „Gesellschaft des Zorns“ vertritt, für unzureichend:
„Wenn sich Cornelia Koppetsch gegen eine ‚sozialpolitische Deutung’ des rechtspopulistischen Aufschwungs – gemeint ist wohl eine Analyse der ökonomischen Entwicklung und der Klassenverhältnisse – wendet und in diesem Zusammenhang von einem unscharfen Ansatz spricht, trifft sie nicht den entscheidenden Punkt. Natürlich spielen kulturelle Aspekte, rassistische Ressentiments und (standort)nationalistische Ideologeme eine wichtige Rolle beim Erstarken des Rechtspopulismus, aber grundlegend dafür bleiben die ökonomische Verfasstheit und unsoziale Funktionsweise des Finanzmarktkapitalismus“ (S. 385).
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass unser werter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich gerade in jüngster Zeit als engagierten Kämpfer für Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit inszeniert, einer der verantwortlichen politischen Brandstifter ist, die den sozialen Frieden in unserem Land zerstört haben. Denn Steinmeier war in der rot-grünen Regierung Minister im Kanzleramt unter Gerhard Schröder – und einer der maßgeblichen Architekten der sogenannten Reformpolitik Schröders. Die wiederum war in großen Teilen nichts anderes als ein asozialer Klassenkampf von oben. Man könnte auch sagen: Die Unsicherheit und Spannung in der Gesellschaft und die damit zusammenhängende Gewalt, die wir heute erleben, wurde von Schröder, Steinmeier und Konsorten gesät. Deshalb stimme ich ausdrücklich Butterwegges Betonung des Ökonomischen als Ursache der aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen zu. Dass er diesen Zusammenhang auch in der medialen Öffentlichkeit immer wieder thematisiert, kann man ihm gar nicht hoch genug anrechnen. Denn die großen Medien, ob öffentlich-rechtlich oder privat, leugnen bzw. verschweigen diese Zusammenhänge nur allzu gern.
Butterwegges Fazit
„Deutschland steht vor einer sozialen Zerreißprobe, und in fast allen Gesellschaftsbereichen wächst die Unruhe, ohne dass in der Öffentlichkeit die Gründe dafür erkannt und von den politisch Verantwortlichen die nötigen Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Es ist beinahe zum Verzweifeln. (…) Trotzdem gibt es auch gewisse Lichtblicke: Wie es scheint, ist die Bevölkerung der sozioökonomischen Ungleichheit hierzulande gegenüber zuletzt sensibler geworden und weist dem Staat heute vermehrt die Aufgabe zu, Einkommens- und Vermögensunterschiede zu begrenzen“ (S. 391).
Und zum Zusammenhang zwischen ökologischer Krise und sozioökonomischer Ungleichheit:
„Solange der Neoliberalismus in den mächtigsten Staaten der Welt die Wirtschaft ebenso dominiert wie die übrige Gesellschaft, wird es keine ökologische Nachhaltigkeit geben. Anders formuliert: Ohne mehr sozioökonomische Gleichheit kann es weder Gerechtigkeit noch Frieden mit der Natur geben“ (S. 393).
Politisch sei deshalb eine umfassende System-, also Fundamentalkritik notwendig, die die destruktiven Folgen kapitalistischen Wirtschaftens anprangert und Alternativen benennt. Und dafür sei ein harter Klassenkampf notwendig:
„Der gesellschaftliche Zusammenhang kann nur durch gezielte Umverteilung von oben nach unten gestärkt werden, was harte Auseinandersetzungen zwischen mächtigen Interessengruppen, die früher als Klassenkämpfe bezeichnet worden wären, nicht ausschließt, sondern zur Voraussetzung hat“ (S. 403).
Als konkrete politische Maßnahmen nennt er unter anderem
„die Wiedererhebung der Vermögenssteuer, eine höhere Körperschaftssteuer, eine vor allem große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinswesens heranziehende Erbschaftssteuer, ein progressiv verlaufender Einkommenstarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf den persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragssteuer (Abschaffung der Abgeltungssteuer)“ (S.403).
Dazu empfiehlt Butterwegge weitere Maßnahmen wie eine solidarische Bürgerversicherung, die Erhöhung des Mindestlohns und anderes mehr, was ich nicht alles im Detail aufführen kann.
Kritik
Butterwegge sieht offenbar Bourdieus Klassenbegriff kritisch, weil er den Kapitalbegriff auf soziales, kulturelles und symbolisches Kapital ausweitete. Denn er sieht darin eine gewisse Beliebigkeit:
„In der Tradition von Bourdieu könnte ein findiger, nach Reputation strebender und auf mediale Resonanz bedachter Wissenschaftler mühelos weitere ‚Kapitalsorten’ erfinden“ (S. 139).
Butterwegge nennt dann eine Vielzahl weiterer denkbarer Kapitalformen. Und kritisiert dann den Soziologen Andreas Reckwitz:
„Dass der menschlichen Fantasie im Hinblick auf die weitere Zerfaserung und Zersplitterung des Kapitalbegriffes offenbar keine Grenzen gesetzt sind, bewies Reckwitz, als er den genannten, größtenteils willkürlich konstruierten und immer weiter vermehrten Kapitalformen das ‚Aufmerksamkeits-’, das ‚Reputations-’ und das ‚Singularitätskapital’ hinzufügte“ (S. 139).
Um dann zu der Schlussfolgerung zu kommen:
„Nur jenes Kapital, dem Marx sein Hauptwerk widmete und das sich mit ihm in Agrar-, Handels-, Manufaktur, Industrie-, Boden-, Immobilien- und Finanzkapital, aber auch in Geld-, produktives und Warenkapital sowie in fixes und variables Kapital unterteilen lässt, spielte so gut wie keine Rolle mehr, entfaltet jedoch im Gegensatz zu den übrigen Kapitalsorten seit Jahrhunderten wirkliche Macht und liegt als Klassen- und Herrschaftsverhältnis einer fast in der ganzen Welt dominierenden Gesellschaftsformation zugrunde – dem Kapitalismus. Dieser begründet auch in Deutschland noch immer die sozioökonomische Ungleichheit“ (S. 139).
Nun ist ökonomisches Kapital zwar in der Tat die in ihrer Wirkung dominierende Kapitalart. Trotzdem liegt Butterwegge meines Erachtens falsch, wenn er den von Bourdieu konzipierten erweiterten Kapitalbegriff für relativ irrelevant hält. Dazu ein kurzes Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht kann die Gesellschaft mit seinen Urteilen tiefgreifend beeinflussen. Dies haben wir erst kürzlich durch das Urteil zu Sanktionen gegen Bezieher von Arbeitslosengeld II (= Hartz-IV) gesehen. Die Verfassungsrichter haben also eine reale gesellschaftliche Macht. Und das, obwohl ihr Einkommen und Vermögen im Vergleich zu einer Milliardärsfamilie wie den Quandt-Klattens (Mehrheitsaktionäre bei BMW) geradezu lächerlich gering ist. Trotzdem verfügen sie über erhebliche gesellschaftliche Macht. Diese wuchs ihnen aufgrund ihres kulturellen Kapitals (u. a. juristische Examen) und ihres sozialen Kapitals zu (Es werden nicht ohne Grund immer wieder Politiker mit juristischen Examen Verfassungsrichter. Beispiele: Der CDU-Politiker Peter Müller, ehemals Ministerpräsident im Saarland; oder der CDU-Politiker Stephan Harbart, der bis 2018 Mitglied des Deutschen Bundestags war). Mit anderen Worten: Auch durch die Akkumulation von Bildung und Beziehungskapital kann erhebliche gesellschaftliche Macht erworben und ausgeübt werden.
Für wen ist das Buch etwas?
Butterwegge schreibt in einem akademisch-wissenschaftlichen Stil. Aus diesem Grund ist das Buch nicht unbedingt die geeignete Lektüre für politisch Interessierte, die sich nur über die wesentlichen Aspekte des Themas informieren möchten und eher einen journalistischen Stil bevorzugen. Aber für Studenten der Politologie, Soziologie und Ökonomie, die nach einem fundierten Überblick zur wissenschaftlichen und politischen Diskussion über das Thema „Soziale Ungleichheit“ und die sozialen Verhältnisse in Deutschland suchen, und für Journalisten und sonstige Fachleute, die sich mit dem Thema beschäftigen, ist das Buch ein hervorragendes Grundlagenwerk, in dem man immer mal wieder nachschlägt, um zu einzelnen Aspekten des Themas zu recherchieren.
Inhaltsverzeichnis (wegen des großen Umfangs verkürzt auf die Hauptkapitel mit kurzen Erläuterungen von mir; Tipp für Interessierte: Auf Amazon kann man mit der Funktion „Blick ins Buch“ die gesamte Inhaltsangabe und einige Seiten aus dem Text einsehen.)
Einleitung
- Definitionen, Dimensionen und Diskussionen über Grundlagen der gesellschaftlichen Ungleichheit
- Untersuchungen zur (west)deutschen Sozialstruktur zwischen seriöser Empirie und purer Ideologie (Hier referiert Butterwegge soziologische Forschungs- und Theorieansätze von 1945 bis zur Gegenwart, von Helmut Schelsky bis Andreas Reckwitz; UB)
- Sozialstrukturentwicklung und Diskurskonjunkturen der Ungleichheit
(Hier referiert Butterwegge den Diskurs über soziale Ungleichheit von Ludwig Erhards Paradigma „Wohlstand für alle“ bis hin zu gegenwärtigen Diskussionen wie Jens Spahns „Tafel“-Interview oder Kevin Kühnerts Sozialisierungsforderung und die Antwort der CDU auf Rezos Video; UB) - Erscheinungsformen der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit
(u. a. Einkommens- und Vermögensverteilung, Bildungsungleichheit, gesundheitliche Ungleichheit, Armut und Krankheit im Alter ; UB) - Entstehungsursachen und Entwicklungstendenzen der Ungleichheit: Prekarisierung, Pauperisierung und Polarisierung
(Die US-Amerikanisierung deutscher Politiken; u. a. Neoliberalismus; Agenda 2010; Ökonomisierung und Privatisierung des Sozialen; Steuerpolitik: Geschenke für Gutbetuchte; UB) - Konturen und Perspektiven einer zerrissenen Republik
(U. a. US-Amerikanisierung der Sozialstruktur, des sozialen Klimas und der politischen Kultur; Rechtspopulismus; Verlustängste, Abstiegssorgen und Panikreaktionen der Mittelschicht; Alternativen zur wachsenden Ungleichheit; UB)
Titelbild: frankie’s / Shutterstock
Literaturauswahl
Christoph Butterwegge: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Verlag Beltz Juventa, Weinheim, Basel 2020, 414 Seiten, 24,95 Euro.