Für westliche Leitmedien ist die Sache klar: Was auch immer Russlands Präsident Wladimir Putin tut, spricht oder ankündigt, ist von Übel. Entsprechend kann die von ihm angekündigte Verfassungsänderung nur seinem Machterhalt dienen. Der US-amerikanische politische Journalist Mike Whitney hält diese Sichtweise für falsch. Er hat sich die Rede genau angehört und darin viel Kluges und Bedenkenswertes gefunden.
Die Rede vor der Bundesversammlung; Putin gelobt, den Kapitalismus zu zügeln und die Souveränität zu stärken
Von Mike Whitney
Die westlichen Eliten und ihre Lakaien in den Medien verachten den russischen Präsidenten Wladimir Putin und sie machen keinen Hehl daraus. Die Gründe dafür dürften auf der Hand liegen. Putin hat den US-Ambitionen in Syrien und in der Ukraine einen Dämpfer versetzt, er hat sich Washingtons größtem strategischen Rivalen in Asien, nämlich China, angeschlossen, und ist dabei, seine wirtschaftlichen Beziehungen mit Europa zu intensivieren, was die US-Dominanz in Zentralasien langfristig bedroht. Außerdem hat Putin sein Atomwaffenarsenal auf Vordermann gebracht, was es Washington verunmöglicht, die gleiche Einschüchterungstaktik anzuwenden, die es bisher in Bezug auf andere, verletzlichere Länder anwendet.
Es ist also verständlich, dass die Medien Putin dämonisieren und als kaltblütigen „KGB-Schurken“ verunglimpfen wollen. Das stimmt natürlich nicht, aber es passt zum falschen Narrativ, dass Putin wie besessen dabei sei, aus reiner Bosheit einen heimlichen Krieg gegen die Vereinigten Staaten zu führen. Jedenfalls hat die tiefsitzende Russophobie der Medien inzwischen so extreme Züge angenommen, dass sie außerstande sind, auch nur über einfache Ereignisse zu berichten, ohne vollkommen in ein Märchenland abzudriften. Das sieht man zum Beispiel an der Berichterstattung der New York Times über Putins jüngste Rede zur Lage der Nation, die er am 15. Januar hielt. Die absurde Analyse der Times zeigt, dass ihre Journalisten kein Interesse daran haben, wiederzugeben, was Putin wirklich gesagt hat, sondern ihnen jedes Mittel recht ist, ihre Leser davon zu überzeugen, dass Putin ein berechnender Tyrann ist, der von einem unersättlichen Machthunger getrieben wird. Man lese nur diesen Ausschnitt aus dem Artikel in der Times:
„Niemand weiß, was derzeit im Kreml vorgeht. Und das ist vielleicht genau der springende Punkt. Präsident Wladimir W. Putin kündigte letzte Woche Verfassungsänderungen an, die ihm neue Wege eröffnen könnten, um Russland bis zu seinem Lebensende zu regieren…“ (falsch)
„Im Kleingedruckten steht, dass die Befugnisse des Ministerpräsidenten nicht in dem Ausmaß erweitert würden, wie zunächst angekündigt, während die Abgeordneten des Staatsrats weiterhin dem Präsidenten zu Diensten zu sein scheinen. Mr. Putins Plan ist also vielleicht doch, Präsident zu bleiben? …“ (wieder falsch)
Der Journalist Yury Saprykin gab auf Facebook etwas Ähnliches zum Besten, nur in Versform:
„Wir werden darüber reden, wie er im Amt bleiben wird,
Wir werden raten, geht er nun oder nicht.
Und dann – tadah! – wird er nicht gehen.
Das heißt, nicht vor den Wahlen,
und danach ganz sicher nicht.“ (ein drittes Mal falsch)
Das ist eine grottenschlechte Analyse. Ja, „Putin kündigte letzte Woche Verfassungsänderungen an“. Doch die haben rein gar nichts mit einem wie auch immer gearteten finsteren Plan zu tun, an der Macht zu bleiben, und jeder, der die Rede gelesen hat, wüsste das. Leider kommen die meisten der anderen zirka hundert 0815-Artikel zum Thema zu dem gleichen absurden Schluss wie die Times, also, dass die Veränderungen, die Putin in seiner Rede ankündigte, nur seine eigentliche Absicht verbergen, nämlich seine Amtszeit so lange wie möglich zu verlängern. Wieder einmal enthält die Rede selbst nichts, was diese Behauptungen stützen würde, es handelt sich nur um einen weiteren Versuch, Putin zu verleumden.
Was also hat Putin in seiner jährlichen Ansprache vor der Bundesversammlung tatsächlich gesagt?
Nun, hier fängt es an, interessant zu werden. Er kündigte Veränderungen im sozialen Netz an, mehr finanzielle Unterstützung für junge Familien, Verbesserungen im Gesundheitssystem, höhere Gehälter für Lehrer, mehr Geld für Bildung, Krankenhäuser, Schulen, Bibliotheken. Er versprach, ein System von „Sozialverträgen“ zu etablieren, die den Staat dazu verpflichten, die Armut zu verringern und den Lebensstandard zu heben. Er sagte zu, für gesündere Mahlzeiten für Schüler zu sorgen, für niedrigere Zinsen für Menschen, die ihr erstes Haus kaufen, größere wirtschaftliche Unterstützung für Arbeiterfamilien, höhere Rentenzahlungen, Erhöhung des Mindestlohns, zusätzliche finanzielle Hilfen für ein „Netzwerk außerschulischer Technologie- und Ingenieurs-Zentren“. Putin fügte auch folgendes Kleinod hinzu:
„Es ist sehr wichtig, dass Kinder, die die Vorschule und Grundschule besuchen, die wahren Werte einer großen Familie erfahren – dass Familie für Liebe, Glück, Mutter- und Vaterfreuden steht, dass Familie ein starkes Band mehrerer Generationen ist, die durch den Respekt für die Älteren und die Sorge für die Kinder geeint sind, die jedem Zutrauen, Sicherheit und Verlässlichkeit gewährt. Wenn die jüngeren Generationen diese Situation als natürlich, als moralisch richtig und als wesentlichen Bestandteil und verlässliche Unterstützung im Hintergrund in ihrem Erwachsenenleben annehmen, werden wir in der Lage sein, die historische Herausforderung anzunehmen und Russlands Entwicklung zu einem großen und erfolgreichen Land zu garantieren.“
Natürlich tauchen derartige von Herzen kommende Erklärungen nie in der Times oder in anderen westlichen Medien auf. Stattdessen werden die Amerikaner mit dem immer gleichen erbarmungslosen Putin-Psycho-Geschwätz überschwemmt, das zur festen Größe in den Nachrichten geworden ist. Der Schwall an Lügen, Verleumdungen und Lügen über Putin ist so stetig und so erdrückend, dass das Einzige, dessen wir uns vollkommen sicher sein können, ist, dass man nichts glauben kann, was in den Mainstreammedien über Putin geschrieben wird. Darüber besteht kein Zweifel.
Abgesehen davon ist Putin ein Politiker, was bedeutet, dass er womöglich keines seiner Versprechen einlösen wird. Das ist eine sehr reale Möglichkeit. Doch, wenn das der Fall ist, warum ist sein früherer Premierminister Dimitri Medwedew dann unmittelbar nach der Rede zurückgetreten? Medwedew und sein gesamtes Kabinett sind zurückgetreten, weil sie erkannten, dass sich Putin vom westlichen Kapitalismus-Modell abwendet und in eine völlig andere Richtung steuert. Putin setzt nun auf die Stärkung von Sozialstaatsprogrammen, die Menschen aus der Armut helfen, ihren Lebensstandard heben und die wachsende soziale Kluft verringern. Und er braucht ein neues Team, das ihm hilft, seine Vision umzusetzen, darin liegt der Grund für die Entlassung Medwedews und seiner Regierungsmannschaft. So fasst es The Saker in einem aktuellen Artikel im Unz Review zusammen:
„Die neue Regierung macht deutlich, gerade mit der Nominierung von Ministerpräsident Mischustin und seinem Vize-Präsidenten Andrej Belousow: Diese beiden gelten als entschiedene Befürworter eines sogenannten „Staatskapitalismus“ in Russland: Darunter versteht man eine Wirtschaftsphilosophie, in der der Staat das private Unternehmertum nicht unterdrückt, sondern unmittelbar und in hohem Maße daran beteiligt ist, die richtigen wirtschaftlichen Bedingungen zu schaffen, so dass der staatliche und der Privatsektor wachsen können. Entscheidend ist, dass der „Staatskapitalismus“ auch das einzige Ziel der Unternehmenswelt (Profit zu machen) den Interessen des Staates und damit den Interessen des Volkes unterwirft. Mit anderen Worten: Auf Wiedersehen, Turbokapitalismus nach Maßgabe der Verfechter der Atlantic Integrationists (Ziel der Atlantic Integrationists ist die Eingliederung Russlands in die US-Einflusssphäre; Anmerkung der Übersetzerin)! (“The New Russian Government”, The Saker)
Genau das vollzieht sich derzeit in Russland. Putin wendet sich von Washingtons parasitärem Kapitalismus-Modell ab und ersetzt es durch eine freundlichere Version, das die Bedürfnisse des Volkes besser berücksichtigt. Diese neue Version eines „gemanagten Kapitalismus” stellt die gewählten Beamten an die Spitze des Systems, um die Öffentlichkeit vor der Brutalität der Marktkräfte und vor der ewig zermalmenden Austerität zu schützen. Es ist ein System, das darauf abzielt, den normalen Menschen zu helfen, nicht der Wall Street oder der globalen Bank-Mafia.
Während jedoch die Veränderungen an Russlands Wirtschaftsmodell entscheidend sind, wird Putins politischen Veränderungen am meisten Aufmerksamkeit gezollt. Das hier sagte er:
„Die Vorgaben des internationalen Rechts und von Verträgen wie auch von Entscheidungen internationaler Gremien können auf russischem Staatsgebiet nur soweit gültig sein, wie sie die Rechte und Freiheiten unseres Volkes und unserer Bürger nicht einschränken und nicht im Widerspruch zu unserer Verfassung stehen…“
Was bedeutet das? Heißt das, Putin will internationales Recht oder die Verträge, die er mit Russlands Nachbarn abgeschlossen hat, nicht respektieren? Nein, tatsächlich hat sich Putin als enthusiastischer Vertreter des Völkerrechts und des UN-Sicherheitsrats erwiesen. Er ist der festen Überzeugung, dass diese Institutionen eine entscheidende Rolle für den Erhalt der globalen Sicherheit spielen, ein Thema, das ihm am Herzen liegt. Was der russische Präsident hier vielmehr zu sagen scheint, ist, dass die Rechte des russischen Volkes und der souveränen russischen Regierung Vorrang vor ausländischen Unternehmen, Verträgen oder Freihandelsabkommen haben. Russland wird nicht zulassen, dass die mächtigen und heimtückischen globalistischen multinationalen Unternehmen die Kontrolle über die politischen und ökonomischen Hebel staatlicher Macht übernehmen, so wie sie es in Ländern weltweit getan haben. Putin erläuterte diesen Punkt in folgender Ausführung:
„Russland kann nur als souveräner Staat Russland bleiben. Die Souveränität unseres Staates muss bedingungslos sein. Wir haben viel dafür getan, dies zu erreichen. Wir haben die Einheit unseres Staates wiederhergestellt und haben die Situation überwunden, als gewisse Kräfte in der Regierung im Grunde von Oligarchen-Clans usurpiert wurden. … Wir haben mächtige Reserven angelegt, die die Stabilität unseres Landes und seine Fähigkeit stärken, (uns) vor jeglichen Versuchen ausländischer Druckausübung zu schützen.“
Für Putin ist Souveränität – die höchste Macht eines Staates, sich selbst zu regieren – das Grundprinzip, das den Staat legitimiert, sofern der Staat den Willen des Volkes ehrlich repräsentiert. Er führt dies später in seiner Rede so aus:
„Die Meinung der Menschen, unserer Bürger als den Trägern der Souveränität und Hauptmachtquelle muss entscheidend sein. Letzten Endes entscheidet das Volk alles, heute und in der Zukunft.“
Während es also entscheidende Unterschiede zwischen der russischen und der US-Demokratie geben mag, so bleibt das Grundprinzip das Gleiche: Die erste Verantwortung der Regierung liegt darin, den „Willen des Volkes“ auszuführen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Putins politische Philosophie kaum von der, die der US-Verfassung zu Grunde liegt. Ein Unterschied liegt jedoch in Putins Auffassung von Freihandel. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten glaubt Putin nicht, dass Freihandelsabkommen die Autorität des Staates einschränken sollen. Viele Amerikaner erkennen nicht, dass Handelsabkommen wie NAFTA oft Bestimmungen beinhalten, die die Regierung daran hindern, im besten Interesse ihrer Bevölkerung zu handeln. Globalistische Handelsgesetze hindern Regierungen daran, Anreize für Unternehmen zu schaffen, um das Outsourcen von Produktionsjobs zu verlangsamen. Sie unterlaufen Umweltbestimmungen und Gesetze zur Lebensmittelsicherheit. Einige dieser Abkommen schützen sogar Ausbeuterbetriebe und andere Menschenrechtsverletzer vor Strafe oder Verfolgung.
Ist es ein Wunder, dass Putin sich an diesem unmoralischen Schwindel nicht beteiligen möchte? Ist es Wunder, dass er das Bedürfnis hat, deutlich zu machen, dass Russland nur jene Gesetze und Verträge einhalten wird, die „die Rechte und Freiheiten unserer Völker und Bürger nicht einschränken und nicht im Widerspruch zu unserer Verfassung stehen“? Hier ist noch einmal Putin:
„Bitte vergessen Sie nicht, was unserem Land nach 1991 widerfahren ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, … gab es auch Drohungen, Gefahren bisher unvorstellbaren Ausmaßes. … Deshalb … müssen wir ein solides, verlässliches und unverletzliches System schaffen, das absolut stabil sein wird, was seine äußeren Konturen angeht, und das Russlands Unabhängigkeit und Souveränität garantieren wird.“
Was also geschah nach der Auflösung der Sowjetunion?
Die Vereinigten Staaten schickten einen Klüngel Halsabschneider-Ökonomen nach Moskau, um bei der „Schock-Therapie“-Kampagne behilflich zu sein, die das soziale Netz zerschlug, über die Renten herfiel, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Armut und Alkoholismus potenzierte, die Privatisierung beschleunigte, die einer Generation gieriger Oligarchen Vorschub leistete und die reale Wirtschaft in eine qualvolle Langzeit-Depression stürzte.
Der Ökonom Joseph Stiglitz verfolgte die Geschehnisse in Russland damals genau und fasste sie wie folgt zusammen:
„In Russland sagte man den Menschen, dass der Kapitalismus neuen, nie dagewesenen Wohlstand bringen werde. Doch tatsächlich brachte er beispiellose Armut, die man nicht nur an einer Senkung des Lebensstandards, einem geschrumpften BIP ablesen konnte, sondern an verkürzter Lebensdauer und schwerwiegenden anderen sozialen Indikatoren, die eine Verschlechterung der Lebensqualität anzeigten. …
Die Anzahl der armen Menschen in Russland stieg beispielsweise von zwei auf zwischen 40 bis 50 Prozent, mehr als jedes zweite Kind wuchs in einer Familie unter der Armutsgrenze auf. Die Marktökonomie war für die meisten dieser Menschen ein noch ärgerer Feind, als die Kommunisten vorhergesagt hatten. … In einigen Gebieten der früheren Sowjetunion fiel das Bruttoinlandsprodukt, das Nationaleinkommen, um mehr als 70 Prozent. Und dieser kleinere Kuchen wurde immer ungerechter verteilt, so dass wenige Menschen immer größere Stücke bekamen und die Mehrheit mit immer weniger abgespeist wurde. … (PBS-Interview mit Joseph Stiglitz, Commanding Heights)
Während Washingtons Agenten damit beschäftigt waren, Moskau zu plündern, rückte die NATO ihre Truppen, bewaffneten Divisionen und Raketenbasen näher an Russlands Grenze heran und verletzte damit eindeutig die Versprechen, die man Mikhail Gorbatschow gegeben hatte, nämlich das Militär „keinen Zentimeter nach Osten“ auszudehnen. Derzeit sind mehr Kampftruppen und mehr Waffen an Russlands Westflanke als jemals zuvor seit der deutschen Truppenaufstockung für die Operation Barbarossa im Juni 1941. Natürlich fühlt sich Russland durch diese offen feindselige Truppe bedroht. (Übrigens, diese Woche: „Die USA führen ihren größten und provokantesten Einsatz in Europa seit der Zeit des Kalten Krieges durch. Laut der Website des US-Militärs in Europa: „Übung DEFENDER-Europe 20 ist die Entsendung einer kampfbereiten Truppe von Divisionsgröße aus den Vereinigten Staaten nach Europa.“ Das Pentagon und seine NATO-Verbündeten simulieren rücksichtslos einen Krieg mit Russland, um Moskau daran zu hindern, seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa zu stärken.) Hier noch einmal Putin:
„Ich bin davon überzeugt, dass es höchste Zeit ist für eine ernste und direkte Diskussion über die Grundprinzipien einer stabilen Weltordnung und die drängendsten Probleme, denen die Menschheit gegenübersteht. Es ist notwendig, politischen Willen, Weisheit und Mut zu zeigen. Die Zeit verlangt ein Bewusstsein unserer gemeinsamen Verantwortung und echtes Handeln.“
Das ist ein Thema, das Putin seit seiner wegweisenden Rede in München im Jahr 2007 oft wiederholt hat. Damals sagte er:
„Wir sehen eine wachsende Verachtung für die Grundprinzipien des Völkerrechts. Und unabhängige Rechtsnormen nähern sich tatsächlich immer näher dem Rechtssystem eines bestimmten Staates an. Ein Staat und, natürlich, vor allem die Vereinigten Staaten, hat seine Landesgrenzen in jeder Hinsicht überschritten. Das sieht man in der Wirtschafts-, Kultur- und Bildungspolitik, die sie anderen Staaten aufzwängen. Nun, wer kann das schon leiden? Wer freut sich darüber? …“ („Wars not diminishing”: Putins bahnbrechende Rede in München, 2007, Youtube)
Putin nimmt daran Anstoß, dass die Vereinigten Staaten unilateral handeln, wann immer es ihnen beliebt. Washingtons launenhafte Missachtung des Völkerrechts hat riesige Regionen im Mittleren Osten und Zentralasien destabilisiert und hat bei Staatschefs für Irritationen gesorgt, weil sie nie wissen, wo die nächste Krise auftauchen wird oder auf wie viele Millionen Menschen sie sich auswirken wird. Wie Putin in München sagte: „Niemand fühlt sich sicher.“ Niemand hat das Gefühl, dass er sich auf den Schutz des Völkerrechts oder Resolutionen des UN-Sicherheitsrates verlassen kann.
Putin: „Sehen Sie sich nur die Lage im Mittleren Osten und Nordafrika an… Statt Reformen herbeizuführen, zerstörte eine aggressive Intervention staatliche Einrichtungen und das Leben der Menschen dort. Statt Demokratie und Fortschritt herrschen nun Gewalt, Armut, soziale Verwerfungen und eine totale Missachtung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Leben…
Das Machtvakuum in einigen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas führte offensichtlich zur Entstehung von Gebieten der Anarchie, die sich schnell mit Extremisten und Terroristen füllten. Für den sogenannten Islamischen Staat kämpfen Tausende Militante, darunter frühere irakische Soldaten, die man nach dem Einmarsch von 2003 auf der Straße stehen ließ. Viele Rekruten kommen aus Libyen, dessen Staat infolge eines groben Verstoßes gegen die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates zerstört wurde…“
Übertreibt Putin Washingtons Rolle bei der Vernichtung des Irak, Libyens, Syriens und Afghanistans oder handelt es sich um eine angemessene Bewertung von Amerikas schädlicher und destabilisierender Rolle in der Region? Ganze Zivilisationen wurden in Schutt und Asche gelegt, Millionen Menschen getötet oder über die Region verstreut, um einen nebulösen strategischen Vorteil zu erreichen oder um Israel dabei zu helfen, seine vermeintlichen Feinde auszuschalten. Und dieses ganze militaristische Abenteurertum lässt sich auf die Auflösung der Sowjetunion zurückführen und die triumphierende Reaktion der US-Strippenzieher, die in Russlands Zusammenbruch grünes Licht für ihre Neue Weltordnung sahen.
Washington schwelgte in seinem Triumph und nahm seine Möglichkeit wahr, globale Entscheidungsprozesse zu bestimmen und unilateral einzugreifen, wann immer es ihm geboten schien. Die unverzichtbare Nation musste sich nicht mehr mit Formalitäten wie dem UN-Sicherheitsrat oder dem Völkerrecht herumschlagen. Selbst die Souveränität (anderer Staaten) wurde als archaische Vorstellung beiseite gewischt, die im neuen grenzenlosen Konzern-Imperium keinen Platz mehr hatte. Einzig die Ausbreitung des Kapitalismus westlicher Prägung in alle vier Himmelsrichtungen war entscheidend, insbesondere in die Regionen, die lebenswichtige Ressourcen oder explosives Wachstumspotential beherbergten. (Eurasien) Jene Regionen waren die eigentliche Beute.
Doch dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Washingtons Kriege zogen sich unendlich hin, während allmählich neue Machtzentren entstanden. Plötzlich war die globalistische Utopie nicht mehr in Reichweite, das Amerikanische Jahrhundert hatte geendet, ehe es überhaupt begonnen hatte. Derweil erstarkten Russland und China immer mehr. Sie forderten ein Ende des Unilateralismus und eine Rückkehr zum Völkerrecht, doch ihre Forderungen wurden glatt abgelehnt. Die Kriege und Interventionen zogen sich immer weiter hin, obwohl die Aussichten auf einen Sieg in immer weitere Ferne rückten. Hier noch einmal Putin:
“Wir haben keinen Zweifel daran, dass die Souveränität der zentrale Begriff im gesamten System internationaler Beziehungen ist. Der Respekt für die Souveränität und ihre Stärkung wird dabei helfen, Frieden und Stabilität auf nationaler wie internationaler Ebene zu garantieren. … Zunächst muss es gleiche und unteilbare Sicherheit für alle Staaten geben. (Treffen des Waldai-Diskussionsclubs, „The Future in Progress: Shaping the World of Tomorrow”, vom Büro des Präsidenten Russlands)
In der Tat ist die Souveränität das grundlegende Prinzip, auf dem die globale Sicherheit beruht, und doch ist es die Souveränität, die die westlichen Eliten erpicht sind auszulöschen. Führende Konzerne wollen die Grenzen ausradieren, um den ungehinderten, zollfreien Warenverkehr und die schrankenlose Bewegung von Menschen in einer riesigen vernetzten Freihandelszone, die den ganzen Planeten umfasst, zu ermöglichen. Und während ihr Plan von Putin in Syrien und in der Ukraine durchkreuzt wurde, haben sie Zugewinne in Afrika, Südamerika und Südostasien erzielt. Der Virus kann nicht eingedämmt werden, er kann nur ausgelöscht werden. Putin:
“Im Grunde steckt das gesamte Projekt der Globalisierung heute in der Krise und in Europa, wie wir wohl wissen, hören wir jetzt Stimmen, die sagen, dass der Multikulturalismus gescheitert ist. Meiner Ansicht nach ist diese Situation in vielerlei Hinsicht die Folge falscher, übereilter und zu einem gewissen Grad überzogen selbstsicherer Entscheidungen, die die Eliten einiger Länder vor einem Vierteljahrhundert getroffen haben. Damals, in den späten 1980er bis frühen 1990er Jahren bestand die Chance, den Globalisierungsprozess nicht nur zu beschleunigen, sondern ihm eine andere Qualität zu verleihen und ihn harmonischer und nachhaltiger zu machen.
Doch einige Länder, die sich selbst als Sieger im Kalten Krieg sahen – sie sahen sich selbst nicht nur so, sondern sagten das offen – schlugen den Weg ein, die globale politische und wirtschaftliche Ordnung einfach nach ihren eigenen Interessen umzuformen.
In ihrer Euphorie verließen sie im Wesentlichen den echten und gleichberechtigten Dialog mit anderen Akteuren auf dem internationalen Parkett und lehnten es ab, universelle Institutionen zu verbessern oder zu schaffen, und versuchten stattdessen, die ganze Welt ihren eigenen Organisationen, Normen und Regeln unterzuordnen. Sie wählten den Weg der Globalisierung und Sicherheit um ihrer selbst willen, für die auserwählten Wenigen und nicht für alle.“ (Treffen des Waldai-Diskussionsclubs)
Wie Putin sagt, es gab die Chance, „die Globalisierung harmonischer und nachhaltiger zu machen“ (womöglich wird Chinas Seidenstraßen-Projekt genau das bewirken). Doch Washingtons Eliten haben diese Vorstellung abgelehnt und sich stattdessen dafür entschieden, der Welt ihre eigene selbstherrliche Vision aufzudrängen. Infolgedessen wird überall in Europa demonstriert und protestiert, rechte populistische Parteien haben Zulauf und die Mehrheit der Bevölkerung vertraut nicht mehr auf grundlegende demokratische Institutionen. Die westliche Version der Globalisierung wird glattweg als Betrug abgelehnt, der durchtriebene Milliardäre mit Vermögen überhäuft, während die normale arbeitende Bevölkerung in die Röhre schaut. Hier noch einmal Putin:
“Es scheint so, als ob die Eliten die zunehmende Hierarchisierung der Gesellschaft und die Erosion der Mittelklasse nicht sieht. … (doch die Situation) erzeugt ein Klima der Unsicherheit, das sich unmittelbar auf die öffentliche Stimmung auswirkt.
Sozialwissenschaftliche Studien, die man rund um die Welt durchgeführt hat, zeigen, dass die Menschen in unterschiedlichen Ländern, auf unterschiedlichen Kontinenten dazu neigen, die Zukunft düster und trostlos zu sehen. Das ist bedauerlich. Die Zukunft lockt sie nicht, sondern macht ihnen Angst. Gleichzeitig sehen die Menschen keine echten Chancen oder Möglichkeiten, etwas zu ändern, Ereignisse zu beeinflussen und die Politik zu gestalten.“ (Treffen des Waldai-Diskussionsclubs)
Es stimmt, das Leben ist härter geworden und scheint immer härter zu werden, doch kann Putin Abhilfe schaffen, hat er eine Lösung? Wird er sich gegen den Lauf der Dinge stemmen und die Auswirkungen der Globalisierung rückgängig machen? Wird er Washingtons Plan durchkreuzen, lebenswichtige Bodenschätze im Mittleren Osten zu kontrollieren, zum Hauptakteur in Zentralasien zu werden und die globale Macht noch weiter an sich zu reißen?
Nein, Putin ist bei weitem nicht so ehrgeizig. Wie er in seiner Rede andeutet, ist sein unmittelbares Ziel, die Wirtschaft so zu reformieren, dass Armut verschwindet und das Vermögen gleichmäßiger verteilt wird. Das sind praktische Maßnahmen, die dabei helfen, den Kapitalismus abzumildern und die Wahrscheinlichkeit gesellschaftlicher Unruhen zu verringern. Er möchte auch potentielle Gefahren für den Staat abwehren, indem er die russische Souveränität stärkt. Darin liegt der Grund, weshalb er Korrekturen an der Verfassung vornimmt. Das Ziel ist, Russland vor schädlichen ausländischen Akteuren oder Mitgliedern der fünften Kolonne zu schützen. Unterm Strich bedeutet das: Putin sieht, was in der Welt geschieht und hat einen Kurs festgelegt, der den Interessen des russischen Volkes am besten dient. Die Amerikaner könnten sich glücklich schätzen, wenn sie ein Staatsoberhaupt hätten, das das Gleiche täte.
Titelbild: Gevorg Ghazaryan/shutterstock.com
Mike Whitney ist US-amerikanischer Journalist und schreibt über Politik und Finanzen. Unter anderem hat er ein Kapitel über Obama und die Wirtschaft im Buch Hopeless: Barack Obama and the Politics of Illusion verfasst.