“Die Bundesrepublik wird keine Nuklearmacht sein, sie wird das auch nicht wollen. Im Ernstfall können wir uns auch nicht selbst verteidigen”, sagt Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz und Staatssekretär a.D. im Interview mit der Friedrich-Ebert-Stiftung. Schade allerdings, dass Claudia Detsch von der SPD-nahen Stiftung ihn nicht gefragt hat, wie er sich den Ernstfall vorstellt und ob er ihn zu überleben gedenkt.
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Sie hat ihn auch nicht gefragt, was er von der Stationierung nuklearer Sprengköpfe in Deutschland hält, die von Bundeswehrpiloten ins Ziel geflogen werden sollen, wenn die USA den Ernstfall ausrufen. Die Bundesregierung hat über diese Bundeswehrpiloten keinerlei Befehlsgewalt. Sie beschafft nur die Flugzeuge und bezahlt die deutschen Piloten. (Hätte sie ihn gefragt, wäre die Antwort gewesen, daß er das richtig findet.) Sie hat ihn auch nicht gefragt, ob der Ernstfall womöglich aus Versehen eintreten könnte.
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat hat einen Alptraum beschrieben. Er warnt im Spiegel vom 20. Februar 2018 vor einem Atomkrieg aus Versehen durch Cyberattacken, Hacking, technisches Versagen und Mißverständnisse. Was für eine Perspektive. Löscht sich die Menschheit eines Tages womöglich aus Versehen selbst aus?
Dazu der Papst bei seinem Japanbesuch im November letzten Jahres: “Der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken ist unmoralisch, wie ebenso der Besitz von Atomwaffen unmoralisch ist…wir werden darüber gerichtet werden.” (vatican news 14.1.2020). Was für eine düstere Prophezeiung spricht der Papst da aus. Und wer wird gerichtet werden? Etwa diejenigen in der amerikanischen Regierung, die beschlossen haben, in den nächsten 30 Jahren mehr als 1.000 Mrd. Dollar in die Modernisierung ihres Atomwaffenarsenals zu investieren? (Begonnen vom Friedensnobelpreisträger Barack Obama.) In der begründeten Hoffnung, dass derartige Investitionen den Russen nicht möglich sind.
Wie ist die Situation heute? Folgt man den Statistiken von SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute, SIPRI-Jahrbuch 2019), so befinden sich heute knapp 15.000 Atomwaffen im Besitz der Atomwaffenstaaten, mehr als 90% davon in amerikanischer und russischer Hand. Fast 4.000 sind sofort einsatzfähig. Davon sind geschätzte 1.800 in ständiger Höchstalarmbereitschaft (Launch-on-Warning), die binnen Minuten abgefeuert werden können. Wenn ein Bruchteil dieser Sprengköpfe ins Ziel gebracht wird, hört die Menschheit auf zu existieren. Wie können wir einen solchen Wahnsinn, der unsere Existenz bedroht, womöglich Wahnsinn aus Versehen (s.o), hinnehmen?
Es gibt Menschen und Staaten, die nicht bereit waren, diesen Wahnsinn, ob er nun aus Versehen oder mit Absicht erfolgt, hinzunehmen. Unser Nachbar Österreich und dessen Außenminister Kurz, der heute Kanzler ist, hat das Verdienst, eine Initiative mit angestoßen zu haben, die dazu geführt hat, dass ein internationales Abkommen, der Atomwaffenverbotsvertrag, am 7. Juli 2017 mit der Mehrheit von 122 Stimmen im Rahmen der Vereinten Nationen angenommen worden ist.
Dieser Erfolg ist vor allem ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons) zu verdanken. ICAN startete 2007 anlässlich einer Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag ihre Kampagne zur Verhütung eines Atomkriegs. Der Atomwaffensperrvertrag, ein Vorläufer des Atomwaffenverbotsvertrags, war eine Kreation der 5 offiziellen Atommächte. In ihm verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, die nicht im Besitz von Atomwaffen sind, auf den Erwerb von Atomwaffen zu verzichten. Von Franz Josef Strauß wurde das damals als Versailles von kosmischen Ausmaßen gegeißelt, denn er hätte gern die Bundeswehr mit eigenen Atomwaffen ausgestattet.
Bemerkenswert ist im Atomwaffensperrvertrag vor allem Artikel VI, wonach sich die offiziellen Atommächte salbungsvoll verpflichten, “in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer Kontrolle”. Insofern hätte der Sperrvertrag zum Vorläufer eines Verbotsvertrags werden sollen. Mit der redlichen Absicht war es jedoch nicht weit her und so begann die Kampagne von ICAN.
Inzwischen haben sich 468 Organisationen aus 101 Ländern der Kampagne angeschlossen. ICAN erhielt im Oktober 2017 den Friedensnobelpreis, was der Initiative vorübergehend mediale Aufmerksamkeit verschaffte. Während sonst die deutschen Medien es vorziehen, vornehm Zurückhaltung zu üben in ihrer Berichterstattung über dieses existenzielle Thema.
Doch dann scherten ganz unverhofft Teile der Politik in Deutschland aus.
Zunächst aber, was ist der Atomwaffenverbotsvertrag? Er ist ein Vertrag, der seinen Unterzeichnern Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und den Einsatz von Atomwaffen verbietet. Inzwischen haben (Stichtag 27. September 2019) 79 Staaten den Vertrag förmlich unterzeichnet und von 32 Staaten wurde die Ratifizierungsurkunde bei den Vereinten Nationen hinterlegt. Der Vertrag tritt innerhalb von 90 Tagen in Kraft, sobald 50 Staaten ihn ratifiziert haben.
Nun mag man einwenden, was ist so ein Vertrag schon wert, wenn nicht einmal ein Atomwaffenstaat und auch kein NATO-Mitgliedsland ihn unterstützt. Trotzdem fürchten die großen Medien in Deutschland und auch anderswo die Berichterstattung darüber wie der Teufel das Weihwasser. Und hier kommt die deutsche Politik ins Spiel. Sie könnte tatsächlich Zeichen setzen. Dadurch, dass eine Mehrheit im Bundestag beschließt, dem Vertrag beizutreten. Denn dann müssten die amerikanischen Nuklearsprengköpfe aus Rheinland-Pfalz abgezogen werden. Und die schönen neuen Flugzeuge, welche von Deutschland in den nächsten Jahren beschafft und finanziert werden sollen, um die alten Tornados als Träger der Nuklearsprengköpfe abzulösen, sie würden nicht mehr gekauft.
Wie äußert sich zur Zeit die deutsche Politik? Gespalten. Die Bundeskanzlerin schweigt lieber und lässt andere reden. Zum Beispiel den deutschen Außenminister. Er hat eine besonders dumme Position vorgetragen, glaubt man der Berichterstattung in den Medien. Er warnte vor dem Abzug der Atomwaffen aus Deutschland, und zwar mit der originellen Begründung, er fürchte, dass sie dann womöglich woanders stationiert werden könnten.
Zum Glück gibt es auch andere Stimmen in der deutschen Politik, die den Vorstellungen der Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger sehr viel näher kommen. Etwa der gemeinsam von Linken und Grünen eingebrachte Antrag (über den kaum berichtet wurde), wonach Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten solle. Er wurde am 18.4.2018 im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags abschließend beraten und stand unter der Überschrift “Dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten – Atomwaffen abziehen”. Er wurde damals mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP abgelehnt. Die AfD enthielt sich der Stimme. Bleibt diese Mehrheit nach der nächsten Bundestagswahl bestehen? Das ist durchaus fraglich.
Denn ganz besonders bemerkenswert und auf der gleichen Wellenlänge wie Martin Schulz im letzten Bundestagswahlkampf hat sich Rolf Mützenich geäußert, damals immerhin im Fraktionsvorstand der SPD-Bundestagsfraktion zuständig für Außen- und Verteidigungspolitik. In einem Interview mit rbb-info am 20.9.2017 distanzierte sich der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, der inzwischen den Fraktionsvorsitz von Andrea Nahles übernommen hat, ausdrücklich von dem damaligen Außenminister Sigmar Gabriel. Der Atomwaffenverbotsvertrag, so Mützenich, sei eine wichtige Initiative, die zum richtigen Zeitpunkt komme. Und er fügte hinzu: Diese Position halte er auch in der SPD-Bundestagsfraktion für mehrheitsfähig. Er befürwortet nachdrücklich den Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag und bei seiner erwiesenen Geradlinigkeit, und wenn er sich gemeinsam mit der neuen SPD-Spitze in der SPD durchsetzen kann, wäre das auch ein Hinweis, worum es im nächsten Bundestagswahlkampf u.a. gehen wird, nämlich um eine neue Friedenspolitik, ähnlich wie Willy Brandt nach dem damaligen Ende der Großen Koalition, letztlich um unser Überleben.
Verbündete hat Mützenich unter anderem bereits in den Landesregierungen von Rheinland-Pfalz, Berlin und Bremen. So nahm der Landtag von Rheinland-Pfalz im August 2019 mit den Stimmen von SPD, FDP (!) und Grünen eine Entschließung an, welche die Ziele der internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen unterstützt und die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags der Vereinten Nationen durch Deutschland fordert.
Noch gibt es also Hoffnung, auch in Deutschland. Denn ein Bundestagswahlkampf um eine neue Friedenspolitik, gemeinsam geführt von SPD, Grünen und Linken, würde ganz neue Kräfte freisetzen und neue Allianzen mit Bürgerinitiativen schmieden. Womöglich würde die CDU/CSU, wie damals bei Willy Brandt, diese Politik wütend beschimpfen. Und der amerikanische Botschafter Grenell, wenn er bis dahin noch im Amt ist, wäre entsetzt. Aber die Kräfte, die es auch in den USA gibt, welche auf Entspannung setzen, sie wären am Ende dankbar für eine solche Initiative. Denn auch sie möchten dem Fallbeil entkommen, bevor es Unheil anrichtet.
*Uwe Thomas war Landesminister in Schleswig-Holstein und Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung.
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