Florian Zollmann über Auslandsberichterstattung: „Das führt zum Versagen der Demokratie“

Florian Zollmann über Auslandsberichterstattung: „Das führt zum Versagen der Demokratie“

Florian Zollmann über Auslandsberichterstattung: „Das führt zum Versagen der Demokratie“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Wie sieht es aus, wenn Medien mit zweierlei Maß messen? Darauf gibt der Journalismusforscher Florian Zollmann im NachDenkSeiten-Interview Antworten. Unter anderem anhand der Beispiele Afghanistan, Frankreich und Syrien zeigt Zollmann, der an der Newcastle University in England lehrt, wie Medien die Realität auf den Kopf stellen. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wenn wir Medien konsumieren, sehen wir Korrespondenten über Ereignisse in Frankreich, Hongkong, Afghanistan usw. berichten. Die Auslandsberichterstattung spielt in unseren Medien eine große Rolle. Offensichtlich wollen Medien ihre Nutzer darüber unterrichten, was im benachbarten Ausland, in der Welt sich abspielt. Was ist das aber für eine Berichterstattung, Herr Zollmann? Können wir ihr vertrauen?
 
Die Medien berichten nicht objektiv und nicht ausgewogen über globale Ereignisse. Wie wir in unserem letzten Interview festgestellt haben, sind Nachrichten das Resultat einer vorherrschenden Ideologie und Kultur. Miteinander verbundene Interessen aus Politik und Wirtschaft beeinflussen die Medien in ihrer Eigenschaft als Quellen des „objektiven“ Journalismus. Aber auch Eigentumsstrukturen, Anteilseignung, Werbeabhängigkeit, Netzwerke und Lobbying spielen eine Rolle. Diese Faktoren führen zu einer allgemeinen ideologischen Stoßrichtung der Nachrichteninhalte: Bestimmte Sachverhalte und Fakten werden hervorgehoben, andere bagatellisiert.

Lassen Sie uns bitte an konkreten Beispielen aufzeigen, wo die Schieflagen in der Auslandsberichterstattung liegen. Beginnen wir mit Afghanistan und dem so genannten „Krieg gegen den Terror“. Die NachDenkSeiten haben dazu schon viele kritische Beiträge gebracht. Wo setzt Ihre Kritik an?

In großen Teilen der deutschen Medienkultur gilt die Auffassung, dass der von den USA angeführte Westen beim „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan und anderen Ländern mit grundsätzlich „guten“ Absichten auftritt. Demnach ginge es bei dem Einsatz, an dem sich ja auch Deutschland seit Dezember 2001 beteiligt, darum, Terroristen zu bekämpfen und beispielsweise in Afghanistan für Frieden, Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Auch konzentriert sich die Berichterstattung auf die Taliban, die in den Medien als „Killer“ und „Feinde der Menschlichkeit“ bezeichnet und daher, so wird es suggeriert, von unseren Soldaten bekämpft werden müssen. Es mag erstaunlich klingen: Die in der deutschen Medienberichterstattung über Afghanistan verwendeten ideologischen Erklärungsmuster ähneln zum Teil den Diskursen der sowjetischen Staatspresse. Das zeigt eine Studie des britischen Medienwachhundes Media Lens, die die sowjetische Medienberichterstattung über die sowjetische Intervention in Afghanistan in den 1980er Jahren mit der westlichen Medienberichterstattung der US-angeführten Intervention in Afghanistan in den 2000er Jahren vergleicht. 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, um einen Aufstand militanter Gruppen, der auch zukünftige Führer der Taliban miteinbezog, zu bekämpfen. Die auf den Einmarsch folgende Besatzung dauerte bis 1989 und hatte verheerende Folgen für das Land. Staatsgesteuerte sowjetische Presseorgane wie Krasnaya Zvezda oder Pravda bezeichneten die sowjetische Militärkampagne in Afghanistan als eine friedenssichernde Mission. Laut der Sowjetpresse sei es bei der Intervention darum gegangen, afghanische Zivilisten vor Jihadisten und Terroristen zu schützen und für Sicherheit in der Region und in der russischen Heimat zu sorgen. Über die enorme Zahl getöteter Afghanen, die auf 1,5 Millionen geschätzt wird, berichteten die Sowjetmedien kaum.

Auch bei „unseren“ Kriegen gibt es viele Tote.

So ist es, aber auch bei uns werden solche Zahlen unter den Teppich gekehrt. Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass seit Beginn des „Krieges gegen den Terror“ 480.000 Menschen durch direkte Gewalt in Afghanistan, Pakistan und Irak getötet wurden, wobei die Zahl der indirekten Todesfälle (durch Krankheit, Vertreibung und Zerstörung vitaler Infrastruktur) wohl im Millionenbereich liegt. Durch das von US-Präsident Barack Obama durchgeführte Drohnen-Programm wurden innerhalb von fünf Jahren 2.400 Menschen in Pakistan, Jemen und Somalia getötet, viele davon Zivilisten. Nach Angaben der New American Foundation handelte es sich nur bei etwa 3 Prozent (51 Personen) der Getöteten in Pakistan um „Führer der Militanten“, von denen 30 Mitglieder von Al-Qaida waren.

Wie gehen Medien nun mit diesen Fakten um?

Sie spielen sie runter. Genauso wie die Frage, ob es sich beim „Krieg gegen den Terror“ um ein global-hegemoniales Projekt des Westens handeln könnte. Daten des Costs of War Projects zeigen: US-amerikanische „Antiterror“-Einheiten sind derzeit weltweit in 76 Ländern (39% des Erdballs) stationiert. Von dort aus werden Drohnen- und Luftschläge koordiniert und paramilitärische Milizen ausgebildet. Ein Netz von 700-800 US-Militärbasen dient der Projektion und Sicherung westlicher Macht. Und genau diese Politik erhöht die Wahrscheinlichkeit für Terroranschläge im Westen. Das belegt eine der wohl bisher umfangreichsten Studien über Selbstmordterroristen, durchgeführt von Robert A. Pape, Professor für Politikwissenschaft an der University of Chicago. Pape verweist auf eine eindeutige Beziehung zwischen westlichen Militärbesatzungen und Selbstmordterrorismus (Pape hat in seiner Studie 315 Selbstmordattentate zwischen 1980 und 2003 untersucht). Demnach sei das Hauptmotiv des Selbstmordterrorismus ein säkulares und strategisches Ziel: Moderne Demokratien sollen gezwungen werden, ihre militärischen Kräfte von dem Hoheitsgebiet abzuziehen, das die Terroristen als ihr Heimatland ansehen. Dennoch hören wir in den Medien immer wieder, die westliche Staatengemeinschaft und insbesondere Deutschland müssten mehr Präsenz zeigen, um in anderen Ländern für Frieden und Stabilität zu sorgen.

In den Medien war immer wieder zu hören, der Westen habe nicht genug getan, um das Blutbad in Syrien zu stoppen.

Diese Sichtweise stellt die Realität auf den Kopf.

Warum?

Bereits im Oktober 2011 initiierten die USA Operation Timber Sycamore (das Programm wurde offiziell im Juni 2013 von Obama genehmigt), ein verdecktes Programm der CIA, das eine Milliarde US-Dollar verschlang, und bei dem es darum ging, mit Hilfe der saudischen und katarischen Geheimdienste, die Anti-Assad-Rebellen zu unterstützen und mit Waffen zu beliefern. Viele dieser Waffen landeten dann in den Händen von jihadistischen Hardlinern. Leider sind nur selten Stimmen in den Medien zu hören, die auf diese Politik des Westens und seiner Verbündeten hinweisen.

Das würde nicht mit der einseitigen Erzählung vom „guten Westen“ zusammenpassen.

Ja, aber es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel der renommierte britische Nahostkorrespondent Robert Fisk. In einem Bericht für die Tageszeitung The Independent schreibt Fisk, der Westen und seine Verbündeten hätten Syrien mit Waffen zugeschüttet und dabei versucht, die bewaffnete syrische Opposition von der Türkei und von Jordanien aus zu steuern. Das seien genug Waffen gewesen, um Syrien zu zerstören, so Fisk, aber nicht genug, um das „Assad-Regime“ zu stürzen. Fisk zitiert den niederländischen Diplomaten Nikolaos van Dam, einen ausgewiesenen Kenner Syriens: „Es ist besser, nichts zu tun, als das Falsche mit schrecklichen Folgen … Aber westliche Demokratien glauben, sie müssen etwas tun … Ohne westlichen Einfluss hätte es nur ein Zehntel der Gewalt [in Syrien] gegeben, das Land wäre nicht in Trümmern, so viele wären nicht gestorben, es hätte nicht so viele Flüchtlinge gegeben.“

Wie sieht es aus, wenn Medien über die Gelbwesten in Frankreich berichten, und wie, wenn sie über die Proteste in Hongkong berichten? Was stellen Sie fest?

In diesen Fällen berichten die Medien mit zweierlei Maß.

Woran machen Sie das fest?

Die Proteste in Frankreich richten sich gegen die Regierung von Staatspräsident Emmanuel Macron, die enge Verbindungen zu Deutschlands Staatselite unterhält und eine ähnlich neoliberale Politik verfolgt. In Hongkong, auf der anderen Seite, richten sich die Proteste gegen die zunehmende Einflussnahme Chinas in Hongkongs Angelegenheiten und damit gegen einen „Feindesstaat“.

Auch wenn hier nicht der Platz ist, die Berichterstattung umfassend zu analysieren: Was beobachten Sie?

Auf einer sehr allgemeinen Ebene lässt sich Folgendes sagen: Was die in Frankreich demonstrierenden Gelbwesten betrifft, gehen die Medien auf Distanz. Macrons Politik wird in der Berichterstattung durchaus auf einer taktischen Ebene kritisiert, aber nicht substantiell hinterfragt. Es wird aus einer Beobachterperspektive über die Proteste berichtet, ohne die Polizeigewalt in ihrer ganzen Tragweite darzustellen. Vielmehr wird eher den Gelbwesten ein anti-demokratisches und gewalttätiges Verhalten zugeschrieben. So heißt es beispielsweise im Spiegel (Heft 50, 8/12/2018, Seite 78): „Sie [die Gelbwesten] sind Pessimisten, vertrauen niemandem, schon gar nicht längeren Prozessen. Und Demokratie dauert nun einmal. Sie verlassen sich nur noch auf sich selbst – und, wenn es sein muss, auf die eigene Gewalt.“ Schaut man sich die Berichterstattung über die Proteste in Hongkong an, dann wird eine andere Herangehensweise von den Journalisten gewählt.

Welche?

Den Anliegen der Demonstranten wird mehr Raum in der Berichterstattung gegeben. Die „demokratisch“ motivierten Ziele der Demonstranten, die mit den Zuschauern im Westen resonieren, werden beleuchtet. Und es fällt auf: Westliche Journalisten begleiten die Menschen in Hongkong, um mittels journalistischer Reportagen ein persönliches Bild von den Protesten zu zeichnen. Dazu kommt, dass die Berichterstattung den Schluss nahelegt, Gewalt ginge eher von der Polizei und nicht von den Demonstranten aus.

Haben Sie ein Beispiel?

Der Spiegel schreibt (Heft 40, 28/09/2019, Seite 92): „Sie [die Protestbewegung] entfaltet über die nun folgenden Monate eine gesellschaftliche Kraft und internationale Sichtbarkeit, die selbst im historischen Vergleich ähnlicher Bewegungen bemerkenswert ist. Das verdankt sie drei Faktoren: dem Zorn und der Kreativität der Protestierenden, der Plumpheit der Regierung und der oft exzessiven Gewalt der Polizei.“

Objektiv betrachtet könnte argumentiert werden, dass die Protestbewegungen in Frankreich und Hongkong gleichermaßen auf reale Missstände hinweisen. Aber die deutschen Medien nehmen eine unterschiedliche Gewichtung dieser Proteste vor. Und das erweckt den Eindruck, die Anliegen der Gelbwesten hätten weniger Legitimität, als die der Demonstranten in Hongkong.

Zeigt die Berichterstattung über Julian Assange ein ähnliches Muster?

Ja, auch hier werden Doppelstandards angelegt. Im Vergleich zu der oft positiven Berichterstattung über Dissidenten aus „Feindesstaaten“ wie China oder Russland wurde Julian Assange, der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, in den letzten Jahren vorwiegend als ein zwielichtiger Exzentriker dargestellt. Eine internationale Kampagne, die auch von den Medien mitgetragen wurde, versuchte des Weiteren, Assange und Wikileaks zum Schweigen zu bringen, damit die Wahrheit über von westlichen Staaten begangene Kriegsverbrechen nicht an eine breitere Öffentlichkeit gelangt.

Was stellen Sie fest?

Gegen Assange wurde ja im November 2010 wegen eines Anfangsverdachtes zu Vorwürfen von Vergewaltigung und sexueller Nötigung in Schweden ein internationaler Haftbefehl ausgestellt. Diese von zwei Frauen vorgebrachten Vorwürfe, die Assange bestreitet, konnten allerdings nicht geklärt werden. Und das lag insbesondere daran, dass Schweden und Großbritannien keine Garantien aussprechen wollten, Assange nicht an die USA auszuliefern, wo er von der US-Justiz wegen der angeblichen Veröffentlichung von Geheimdokumenten unter dem US-Spionagegesetz angeklagt ist und wo ihm eine lebenslange Haftstrafe oder sogar die Todesstrafe drohen könnten. Deshalb floh Assange ja in die ecuadorianische Botschaft. Lisa Longstaff von der britischen Frauenrechtsorganisation Women Against Rape schrieb in einem am 20. Mai 2019 veröffentlichten Brief, beim Fall Assange ginge es nicht um Vergewaltigungsvorwürfe, so schwerwiegend diese auch seien, sondern um die beschämenden Informationen, die Wikileaks über die Aktivitäten des US-amerikanischen Militärs veröffentlicht habe. Demnach habe Whistleblower Chelsea Manning dank Wikileaks eine umfangreiche Verschleierung von Vergewaltigung, anderer sexueller Gewalt und Mord, auch an Frauen und Kindern, durch das US-Militär in Afghanistan, Irak und Bosnien, aufgedeckt. In dem Brief fragt Longstaff, warum es kaum Aufrufe nach Gerechtigkeit für die Vergewaltigungen und Morde, die Wikileaks ans Licht gebracht habe, gebe.

Auch der UN-Sonderberichterstatter über Folter hat sich sehr deutlich zu Wort gemeldet.

Ja, Nils Melzer stellte fest, nachdem er Assange am 9. Mai 2019 im Londoner Belmarsh-Gefängnis (das normalerweise nur für Schwerstverbrecher zuständig ist, wobei Assange lediglich seine Bewährungsauflagen verletzt hat) besucht hatte, dass dieser einer „psychologischen Folter“ ausgesetzt sei. Melzer schrieb Folgendes über das Verhalten der westlichen Staatengemeinschaft: „In 20 Jahren Arbeit mit Opfern von Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung habe ich noch nie eine Gruppe von demokratischen Staaten gesehen, die sich zusammenrottet, um ein einziges Individuum für so lange Zeit absichtlich zu isolieren, dämonisieren und missbrauchen und das mit so wenig Respekt für Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit.“ In einem offenen Brief an die australische Regierung, veröffentlicht am 16. Dezember 2019, äußerten über 100 Ärzte das Bedenken, Assange könne wegen seines Gesundheitszustandes im Gefängnis sterben. Die Ärzte fordern daher, Assange sofort vom Belmarsh-Gefängnis in London in ein Krankenhaus nach Australien zu verlegen, damit er dort die nötige Gesundheitsversorgung bekäme. Denn als ein Opfer von psychologischer Folter könne Assange nicht angemessen medizinisch behandelt werden, solange er eben diesen Bedingungen der psychologischen Folter ausgesetzt sei, heißt es in dem Brief.

Für Assange sieht es demnach ziemlich schlecht aus.

Jetzt ist vielleicht die letzte Möglichkeit, Druck auf westliche Regierungen auszuüben. Dadurch könnte nicht nur Assanges Leben gerettet werden, sondern auch die Pressefreiheit. Denn es ist das Ziel der Administration von US-Präsident Donald Trump, an Assange ein Exempel zu statuieren und damit den letzten Rest journalistischer Freiheit zu sabotieren.

Wir haben über die Berichterstattung der Medien zu Afghanistan, Syrien, Assange geredet, Sie haben die Drohnentoten angeführt, Somalia und Pakistan erwähnt. Es geht bei all dem um sehr viel. Es geht um Menschen, Schicksale, aber auch die viel beschworenen Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit usw. Was bedeutet es für Mediennutzer, wenn medienübergreifend und dauerhaft bei derartig gewichtigen Themen Journalisten „nicht sagen, was ist“, wenn die Realität verdreht und gebogen wird, um bestimmte, regierungsnahe Erzählungen zu erzeugen oder aufrechtzuhalten?

Der Journalismus und die Medien nehmen eine wichtige Rolle als sogenannte „vierte Gewalt“ in der Demokratie ein. Unsere Medien sind allerdings wegen politischer und kommerzieller Vereinnahmung nicht in der Lage, die von der Gesellschaft gewünschte Kritik- und Kontrollfunktion auszuüben. Das führt zum Versagen der Demokratie, denn die Mediennutzerinnen und -nutzer werden nur unzureichend informiert, was die wichtigsten gesellschaftlichen Fragen zu Themen wie Krieg und Frieden, Klimawandel oder politische und wirtschaftliche Korruption betrifft. Journalismus und Medien sind öffentliche Güter, genauso wie zum Beispiel die Gesundheitsversorgung, und müssen daher unter demokratischer Aufsicht stehen und öffentlich finanziert werden. Daher benötigen wir dringend eine Medienreform, die umfassende strukturelle Veränderungen im Mediensystem vornimmt.

Titelbild: Mopic / Shutterstock