Das Treffen der Bundeskanzlerin mit dem russischen Präsidenten im Kreml am Sonnabend – nur wenige Tage nach der Ermordung des iranischen Generals Kassem Soleimani – hatte etwas von einem Appell gegen weitere Eskalationen. Von Ulrich Heyden, Moskau
Man reibt sich die Augen. War da was? Eine Krise zwischen Russland und Deutschland? Die Abschiebung von Diplomaten? Schwere Vorwürfe gegen die russischen Behörden wegen des Mordes an einem Tschetschenen im Berliner Park Tiergarten? Von all dem war am Sonnabend im Kreml nichts zu hören, zumindest nicht auf der Pressekonferenz nach einem dreieinhalbstündigen Gespräch zwischen Putin und Merkel. Auf der Pressekonferenz wurde deutlich, dass die beiden Politiker bei allen besprochenen Fragen – von Iran, Syrien, Libyen, der Ukraine bis Nord Stream 2 – unterschiedliche Auffassungen jetzt zurückstellen, zugunsten von Zielen, die man gemeinsam erreichen kann. Möglicherweise wollen die beiden Staatsführer mit der in Moskau demonstrierten Einigkeit auch den USA ein Signal geben, es mit dem Zündeln im Nahen und Mittleren Osten nicht zu weit zu treiben.
Lösungen für mehrere Konfliktregionen besprochen
Angela Merkel bedankte sich auf der Pressekonferenz „für die Gelegenheit zu einem umfassenden Gespräch zum Bereich der bilateralen Zusammenarbeit als auch zum Bereich der internationalen Fragen.“ Trotz „einiger Schwierigkeiten in Zusammenhang mit den Sanktionen im Zusammenhang mit der Ukraine“ – so die Kanzlerin – gäbe es zwischen Russland und Deutschland eine „intensive wirtschaftliche Beziehung, aber auch in dem Bereich Wissenschaft und Universitäten.“
Die Kanzlerin erklärte, das Projekt Nord Stream 2 sei ein „wichtiges wirtschaftliches Projekt“, das „durch die europäische Rechtsprechung legitimiert“ sei. Trotz der amerikanischen Sanktionen gegen die Pipeline halte sie es für möglich, „dass man den Bau von Nord Stream 2 vollenden kann“. Nachdem Russland und die Ukraine sich auf Transitlieferungen für die nächsten fünf Jahre geeinigt haben und die Pipeline Turkish Stream eröffnet wurde, seien Befürchtungen von einseitiger Abhängigkeit bei Gaslieferungen unbegründet.
Wladimir Putin erklärte, er rechne damit, dass Nord Stream 2 Ende dieses, Anfang nächsten Jahres fertiggestellt wird. Die Bundeskanzlerin erklärte, sie hoffe, dass die Bemühungen von Putin und Erdogan zur Herstellung eines Waffenstillstands in Libyen Erfolg haben. Sonntag um null Uhr soll in Libyen ein Waffenstillstand in Kraft treten. Weiter sagte Merkel, sie sei sich mit Putin einig, „dass man sehr bald zu einer Libyen-Konferenz nach Berlin einladen könne.“ Auf dieser Konferenz solle „unter Führung der Vereinten Nationen“ ein Frieden in dem nordafrikanischen Land erreicht werden.
Als größte Gefahr sieht die Kanzlerin, dass sich andere Staaten in die Angelegenheiten von Libyen einmischen. Welche Staaten das seien, sagte sie nicht. Sie meinte aber offenbar vor allem die Türkei. Merkel sagte, an einer Friedenslösung in Libyen müssten die Parteien in Libyen, „die an der militärischen Auseinandersetzung beteiligt sind“, einbezogen werden. Dabei ginge es um „die Herren Sarradsch und Haftar“. Putin begrüßte die deutsche Initiative für eine Libyen-Friedenskonferenz.
Merkel lobt Putin und Erdogan
Die Bundeskanzlerin erklärte, das Gespräch zwischen Putin und Erdogan zu Syrien habe „wichtige Ergebnisse gebracht“. Sie freue sich, dass jetzt zwei Grenzübergänge zu der Region Idlib wieder für humanitäre Lieferungen offen sind. Denn es gäbe in dieser Region „eine große Not“. „Wie in Libyen“ gäbe es auch für Syrien „keine militärische Lösung“, sondern „letztlich nur Verhandlungslösungen“. Deutschland setze sich für einen weiteren humanitären Übergang im Osten Syriens ein. Außerdem unterstütze Deutschland das Projekt eines Verfassungskonvents für Syrien und werde für dieses Projekt mit Russland, der Türkei und Frankreich „sehr, sehr eng zusammenarbeiten“. Die Führung Syriens erwähnte Merkel in diesem Zusammenhang nicht. Eine politische Lösung sei nötig, „damit auch wieder Menschen, die aus Syrien geflohen sind, zurückkehren können.“ Besonders viele Flüchtlinge seien ja in der Türkei, sagte die Kanzlerin.
Zum Iran erklärte Merkel, Deutschland wolle das Atomabkommen mit dem Iran erhalten. Der Iran solle „keine Atomwaffen haben“. Zur Flugzeugkatastrophe bei Teheran sagte die Kanzlerin, der Iran habe bekannt gegeben, dass der Abschuss „ein großer Fehler war“. Es sei gut, dass „die Verantwortlichen jetzt bekannt sind.“ Jetzt müsse der Abschuss „schonungslos aufgeklärt werden“ und „darüber gesprochen werden, was die Folgen sind“. Im Irak gehe es darum, die Bekämpfung des islamischen Terrorismus „weiter zu ermöglichen“. Was Merkel damit genau meinte, sagte sie nicht. Offenbar meint die Kanzlerin aber, dass deutsche Militär-Ausbilder unbedingt weiter im Irak stationiert sein müssen. Doch auf russische Unterstützung wird sie in dieser Angelegenheit kaum rechnen können.
Putin warnt vor neuen Flüchtlingsströmen
Der russische Präsident erklärte, es gäbe im Nahen Osten Krieg. Ein großer Krieg sei das bisher aber nicht. Wenn es zu einem großen Krieg komme, werde das „zu einer Katastrophe nicht nur für den Nahen Osten, sondern für die ganze Welt.“ Dann werde es zu neuen Flüchtlingsströmen kommen, „nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Regionen“. Es werde „humanitäre, religiöse und wirtschaftliche Katastrophen“ geben.
Zur Ukraine erklärte Merkel, dass zum Jahresende immerhin ein Gefangenenaustausch erreicht wurde. Sie hoffe, dass beim nächsten Treffen im Normandie-Format „weitere Fortschritte in der Reihenfolge der Minsker Vereinbarungen“ erreicht werden.
Journalistin fragt: „Kooperation EU-Russland gegen die USA?“
Eine Journalistin des deutschen Privatsenders RTL fragte die Kanzlerin, ob man sich darauf einstellen könne, dass es in Zukunft Kooperationen zwischen der EU und Russland gibt, „unter Umständen auch in einigen Fragen gegen die USA?“ Merkel antwortete, wie sie am Beispiel von Nord Stream 2 erläutert habe, gäbe es „Meinungsverschiedenheiten mit den USA, obwohl es unsere Verbündeten sind“. Deutschland vertrete seine Interessen und Russland vertrete seine Interessen. Mit Russland gäbe es gegensätzliche Meinungen, es gäbe aber auch „Überlappungen“. Beim Atomabkommen mit Iran sei man mit Russland „im Grundsatz der gleichen Meinung.“ Ein Gespräch – wie jetzt in Moskau – habe den Vorteil, „dass man miteinander und nicht übereinander spricht.“ Ob es Iran ist, ob es Libyen oder Syrien ist, „es wird sich militärisch ein ganze Weile etwas tun. Aber eine Lösung wird es zum Schluss nur politisch geben.“
Vor dem Treffen von Putin und Merkel nannten russische Medien Gründe, warum die Chancen für eine Wiederannäherung zwischen Russland und Deutschland gutstehen.
- Was den Iran betrifft, „fallen die Interessen Russlands und Deutschlands zusammen“, meint die Nachrichtenagentur Ria Novosti. Russland und Deutschland fürchten den Ausbruch eines größeren Krieges in der Nähe ihrer Länder. Die USA seien von so einem Krieg geographisch weniger betroffen.
- Das europäische Business habe ein großes Interesse am iranischen Markt, schreibt Ria Nowosti weiter. Das Atom-Abkommen mit dem Iran öffnete die Möglichkeit, in Iran zu investieren. Doch diese Möglichkeit wird jetzt versperrt durch die einseitige Aufkündigung des Atom-Abkommens durch die USA.
- Die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands seien mit ein Prozent Wachstum schlecht. Der Handel zwischen Russland und Deutschland sei in den ersten zehn Monaten von 2019 um zwölf Prozent zurückgegangen. Die deutsche Wirtschaft dränge deshalb – so die Nesawisimaja Gaseta – darauf, die Sanktionen gegen Russland zu beenden.
- Das Blatt zitiert ausführlich aus einer Studie der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik, nach welcher der Konflikt zwischen dem Iran und den USA auch Konflikte in anderen islamischen Staaten von Afghanistan bis zum Irak und Libanon nach sich führen kann. Der Strom von Flüchtlingen aus diesen Staaten nach Europa könne zunehmen.
Russische Medien hatten vor dem Treffen von Putin und Merkel berichtet, die Initiative zu dem Treffen sei vom Kreml ausgegangen, und zwar unmittelbar nach dem Mord an dem iranischen General Soleimani. Später erklärte Putins Sprecher Dmitri Peskow, die Vereinbarung für ein Treffen von Putin und Merkel sei schon im letzten Jahr getroffen worden.
Russland mit großer Delegation vertreten
Die russische Seite war beim Treffen mit Angela Merkel mit einer großen Delegation vertreten. Während Putin mit Merkel sprach, konferierten parallel die Außenminister von Russland und Deutschland, Sergej Lawrow und Heiko Maas. In dem Kreml-Saal, wo nach dem Treffen von Putin und Merkel die Pressekonferenz stattfand, sah ich Gasprom-Chef Aleksej Miller in fröhlicher Unterhaltung mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow und dem russischen Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Maksim Oreschkin. Außerdem im Saal anwesend war der stellvertretende russische Energieminister Pawel Sorokin und der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew.
Von deutscher Seite sah ich außer der Bundeskanzlerin nur deren Sprecher Steffen Seibert. Heiko Maas stellte sich während der Pressekonferenz demonstrativ nicht zu der Gruppe der russischen Delegationsmitglieder – wo schon der deutsche Botschafter in Moskau, Géza Andreas von Geyr, stand – sondern ging, ganz alleine und unverdrossen zur anderen Seite des Saales, wo sich Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Moskau und deutsche Journalisten versammelt hatten. Der einsame Marsch des deutschen Außenministers wirkte irgendwie merkwürdig.
Ulrich Heyden, Moskau, 11.01.19
Titelbild: Ulrich Heyden