Georg Rammer über die politischen Verhältnisse unserer Zeit: „Viele hören die Lügen, spüren die Heuchelei“
„Was wollen wir unseren Kindern und Enkeln in 25 Jahren, nach weiteren Kriegen und Zerstörungen, auf die drängende Frage antworten: Warum habt ihr nichts getan?“ Diese Frage wirft der Psychologe und Publizist Georg Rammer im NachDenkSeiten-Interview auf. Der Aufbau von Feindbildern in den Medien, die Ignoranz vieler Intellektueller gegenüber den Lügen der Mächtigen, die Auswirkungen einer verdrehten Realität auf die Menschen: Das sind die Themen des Interviews. Nicht „Fake News“ seien die Gefahr unserer Zeit, sondern eine „Fake Reality“, die von machtelitärer Seite versucht werde, den Bürgern als real zu verkaufen. Ein Interview, das nachdenklich macht. Von Marcus Klöckner
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Herr Rammer, Kriege werden geführt, die Umwelt zerstört, Menschen sterben jeden Tag an den Folgen einer machtelitär entfesselten Politik. Stimmen Sie der Aussage zu?
Ja, fast täglich erreichen uns dazu neue Meldungen. Zwar beklagt die Machtelite, die Welt sei aus den Fugen. Offensichtlich bleibt es aber unsere Aufgabe, die Ursachen und Zusammenhänge zu beleuchten: Wer ist verantwortlich? Welche Interessen treiben diese Entwicklung voran?
Sie haben gerade ein Essay veröffentlicht mit dem Titel: „Schlafwandler oder Kriegstreiber: Die Eigendynamik imperialer Interessen“. Um Ihren Gedanken aufzugreifen. Schlafwandelt die Politik oder haben wir es mit Kriegstreibern zu tun?
Schauen wir als Beispiel die Politik unserer Verteidigungsministerin an. Sie fordert, dass Deutschland Soldaten nach Ost- und Südostasien schickt, um China Grenzen aufzuzeigen. Sie will ferner deutsche Militäreinsätze deutlich ausweiten und den Militärhaushalt erhöhen. Immer offener vertritt Deutschland seine imperiale Politik, für den Bedarf an Rohstoffen und seine strategischen Interessen Militär einzusetzen. Das schöne Narrativ, wir müssten in der ganzen Welt den Menschenrechten zum Durchbruch verhelfen, wird gar nicht mehr bemüht. Obwohl durch Feindbilder, Aufrüstung und Militärinterventionen die Kriegsgefahr angeheizt wird, wird natürlich kaum ein verantwortlicher Politiker sagen: Wir wollen Krieg! Faktisch wird aber die Gefahr weiterer Kriege erhöht – und viele Menschen gewöhnen sich allmählich daran.
Die Gemengelage ist also komplex?
Die Komplexität ergibt sich nur daraus, dass Regierungen Angst haben vor Bevölkerungsmehrheiten. Alle Umfragen der letzten Jahre in Deutschland haben nämlich sehr deutlich gezeigt, dass die meisten Menschen keine Aufrüstung und keine Militäreinsätze wollen. Zwar gilt schon seit Anfang der 1990er Jahre die Parole, die der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr ausgegeben hatte: “Es gibt zwei Währungen in der Welt: wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen.” Aber die Umsetzung musste warten, bis kein massiver Widerstand zu befürchten war. Inzwischen ist diese Position in der Politik Deutschlands und der EU fest verankert.
Nun gibt es aber konkrete Fakten und Zahlen, anhand derer wir ablesen können, dass etwas Grundlegendes schiefläuft.
Ja. Grundlegend schief, weil undemokratisch ist schon die Tatsache, dass sich die Machtelite nicht um die Meinung und die Bedürfnisse der Menschen kümmert. Aber alarmierend ist auch etwa die Kriegspropaganda gegen Russland und zunehmend auch China. Da werden systematisch Feindbilder aufgebaut: Wir werden bedroht! Aber hat etwa Russland 170 Militärbasen in aller Welt wie die USA? Warum hebt die Mainstream-Presse nicht hervor, dass die NATO 16-mal so viel für Rüstung ausgibt wie Russland? Dass die Osterweiterung der NATO entgegen allen Zusagen die Grenzen Russlands erreicht hat? Wer bedroht wen? Ich habe für 2018/19 eine (unvollständige) Liste der Militärmanöver der NATO zusammengestellt: Fast alle der 15 großen Militärübungen fanden in der Nähe der russischen Grenze statt, in Litauen, Polen, in der Ostsee und der Schwarzmeerregion, auf dem Balkan, aber auch in Georgien und in der Ukraine, also Ländern, die (noch) keine NATO-Mitglieder sind! Aber die Bundeskanzlerin spricht von der Aggression Russlands, die bis an die Grenze der NATO reiche: Welch eine Verkehrung der Fakten!
Ja, aber Russland ist doch der Aggressor. Von Russland geht die Gefahr aus. Das ist der Tenor, der in den großen Medien vorherrscht. Fühlen Sie sich manchmal wie in Orwells “1984”? Etwas frei: Die Guten sind die Bösen und die Bösen sind die Guten.
Ja, es ist verrückt. Wir, also die “westliche Wertegemeinschaft”, sind ungezählter Kriege, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verstöße gegen internationale Regelwerke schuldig. Aber wir haben die Macht und definieren das Recht: Wie viele westliche Staatsführer, die für Kriegslügen, Hunderttausende Tote in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen für Folter und Erpressung verantwortlich sind, mussten sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten? Ich will nicht von guten und bösen Staaten reden; ich halte bei Themen der Demokratie und Menschenrechte Differenzierungen für erforderlich – und Ehrlichkeit. Aber dass “wir” die Guten sind, nach all den Menschheitsverbrechen des Kolonialismus, Faschismus, nach all “unseren” Kriegen, das kann nur eine heuchlerische Propaganda behaupten.
Was bewirkt denn solch eine Verdrehung der Realität auf psychologischer Ebene?
Da braut sich was zusammen. Sehr viele Menschen erleben eine krasse Diskrepanz zwischen den politischen Parolen der Mächtigen und ihrem eigenen Alltag: Die Angst vor Altersarmut und Wohnungsnot und dem Zusammenbruch eines guten Gesundheitswesens mischt sich mit der Empörung über die Abzocke der wirtschaftlich-politischen Elite. Viele haben das Gefühl: Denen bin ich doch sowas von egal! Hinzu kommt die erlebte Heuchelei: All die schönen (angeblichen) Ziele der Regierungsparteien haben einen `Wahrheitswert´ wie Fernsehwerbung, also gar keinen. So gehen Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren. Nicht in den Fake News sehe ich die Hauptgefahr, sondern in einer “Fake Reality”: Politiker und große Teile der Medien sind bemüht, uns eine Wahrnehmung und Deutung der Welt überzustülpen, die – unter dem Vorwand von Freiheit und Demokratie – nur den Interessen der Elite dient. In der Klinischen Psychologie wird sowas “Doppelbindung” genannt: eine in sich widersprüchliche Botschaft, die zu Verwirrung und Störungen führt. “Menschenrechte, Demokratie, sozialer Rechtsstaat” – aber wie verträgt sich diese Predigt mit unbezahlbaren Wohnungen, Steuerparadiesen und Cum-Ex-Deals? Manipulation und Beeinflussung werden allgegenwärtig, von Kindheit an; gewöhnt man sich daran, dann verliert man den Boden unter den Füßen. Ich glaube, dieses “Doppeldenk”, wie es bei Orwell heißt, diese Desorientierung und Destabilisierung sind durchaus beabsichtigt.
Nun könnte man sagen: Wir sind eine freie Gesellschaft. Es gibt eine Vielzahl kluger Menschen im Land aus allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen. Medien, Politik, Wirtschaft, Künste usw. Wenn die Realität dermaßen auf den Kopf gestellt wird, wo sind Ihre Stimmen? Warum schweigen so viele Intellektuelle, oder schlimmer: Warum machen Sie bei der Realitätsverdrehung mit?
Die einfachste Antwort ist Verlockung der Macht. Kaum ein Akademiker wird die Chance haben aufzusteigen, wenn er oder sie die direkten oder impliziten Vorgaben der Mächtigen missachtet. Außerdem gibt es verpflichtende Loyalitäten, aber auch den Druck für Einsteiger; all das macht ein Ausscheren schwer. Schauen Sie mal ein Schaubild der umfassenden Vernetzung des einflussreichen Lobbyverbandes Atlantik-Brücke mit den Medien an, wie sie von Swiss Media Research vorgelegt wurde. Oder die Zusammensetzung der Thinktanks: Ein junger Aspirant oder eine Aspirantin muss die Codes beherrschen, die heimlichen Regeln des Denkens und Auftretens von Kindesbeinen an aufgenommen haben, um da reinkommen zu können. Dann spielt auch Angst mit. Jeder kann gerade erleben, was denen angetan wird, die die Verbrechen der Machtelite aufdecken. Sie werden zermürbt, ihre Existenz vernichtet, psychisch gefoltert, mit dem Tod bedroht: Julian Assange, Edward Snowden, Chelsea Manning, Katharine Gun… Und die Bundesregierung liest die Berichte des UN-Sonderbeauftragten für Folter über die Lebensgefahr für den Gefangenen Assange nicht einmal. Und die “freie Presse” schweigt.
Im nächsten Jahr findet die NATO-Großübung „Defender 2020“ im Baltikum statt – mit 37.000 Soldaten. Wahrscheinlich wird die Übung als “friedenssichernde Maßnahme” verkauft werden. Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, was bedeutet es für die Welt, wenn Eliten und Machteliten eine Politik im “Orwell-Stil” betreiben?
Die Konsequenz ist eine `Globalisierung der Verrohung´. Die Politik im Orwell-Stil wird ja betrieben, um die ungerechte und friedensbedrohende Richtung zu vertuschen. Nichts von dem, was Kindern in Familien, Kindertagesstätten oder Schulen vermittelt wird an Werten wie Mitgefühl, Fairness und Gerechtigkeit oder Aufrichtigkeit, gilt später in der Welt des Marktradikalismus und Sozialdarwinismus. Es ist eine Welt, in der Empathie und der gern beschworene soziale Zusammenhalt verloren gehen, in der sich brutale Stärke durchsetzt. Geradezu symbolisch ist die Beliebtheit der SUV: stark, schädlich, gefährlich, Märkte erobernd. Widerstand gegen die heuchlerische imperiale Lebensweise wird geradezu existenziell. Bemerkenswert, dass es in Italien eine neue starke Bewegung junger Leute gibt, der “sardine” (die Menschen stehen dicht gedrängt wie Sardinen), die sich durch die Parteien nicht mehr repräsentiert fühlen. Sie wenden sich gegen die Verrohung des politischen Diskurses durch Parteien wie etwa die ausländerfeindliche Lega.
Interessant scheint mir zu sein, dass der “Krieg um die Köpfe” nicht mehr so einfach zu gewinnen ist, wie das früher einmal der Fall war. Was meinen Sie?
Die Kluft wird einfach zu groß: Hier die hehren Werte, wie sie von staatstragenden Eliten konzertiert vorgetragen werden – dort die täglich erfahrbare, den Werten widersprechende Wirklichkeit. Hier die Behauptung von Menschenrechten, Gerechtigkeit und EU als Friedensmacht, kontrastiert von Mautlügen eines Ministers, Dieselskandal einer kriminellen Vereinigung, legalem Steuerbetrug, Abzocke auf Kosten des Gemeinwohls, Feind Russland usw. Viele hören die Lügen, spüren die Heuchelei und die dahinterstehende Verachtung. Sie haben die Nase voll, sie wollen ernst genommen und respektiert werden, ihre Selbstachtung bewahren. Es ist eine Frage der Würde.
Die NachDenkSeiten sprechen seit vielen Jahren immer wieder davon, wie man Manipulation und Propaganda durchschaut bzw. ihr nicht verfällt. Was würden Sie sagen, wie sollte sich der einzelne Bürger verhalten, um Meinungsmache zu widerstehen?
Widerstehen, ja, sich nicht alles gefallen lassen, die Gleichgültigkeit ablegen und die Ohnmacht nicht akzeptieren. Das ist eine Sache der Aufklärung und der Sensibilisierung. Das System des neoliberal radikalisierten Kapitalismus ist totalitär geworden: Beeinflussung und Manipulation zielen auf Gedanken, Gefühle und Einstellungen. Aber es gibt eine Menge Möglichkeiten, die offiziellen Verlautbarungen in der „Tagesschau“, in den dpa-Meldungen oder in der Bundespressekonferenz zu ergänzen oder zu widerlegen – durchaus auch auf den NachDenkSeiten. Und das Sensibilisieren beginnt mit Nachdenken: Eine Prügelei unter Jugendlichen ist Gewalt, aber Waffenexport nach Saudi Arabien, Naturzerstörung, ungleiche Freihandelsverträge oder die Machenschaften eines Blackrock-Finanzkonzerns mit Friedrich Merz an der Spitze, Hand in Hand mit der Politik, sind eine Gewalt ganz anderer Größenordnung mit ungeheuren Folgen für die Menschen. Was wollen wir unseren Kindern und Enkeln in 25 Jahren, nach weiteren Kriegen und Zerstörungen, auf die drängende Frage antworten: Warum habt ihr nichts getan?
Lesetipp: Rammer, Georg: Schlafwandler oder Kriegstreiber? Die Eigendynamik imperialer Interessen. IN: Bruder, Klaus-Jürgen; Bialluch, Christoph; Günther, Jürgen: Krieg nach innen, Krieg nach außen und die Intellektuellen als “Stützen der Gesellschaft”? Westend Verlag. Dezember 2019. 350 Seiten. 28 Euro.