Jeffrey Sachs beriet in den 1980er und 1990er Jahren als junger Starökonom der Harvard University den IWF, die Weltbank, die OECD und die WTO. 1989 bis 1991 beriet er den IWF bei den „Schock-Therapien“ in Jugoslawien, Polen und in Jelzins Russland. Später sah er die Folgen solcher Wirtschaftspolitik und forderte deshalb in einem Offenen Brief die deutsche Bundeskanzlerin Merkel auf, dem krisenhaften Griechenland Schulden zu erlassen. Heute tritt Sachs, der nun an der Columbia University in New York lehrt, für Schuldenerlasse bei verarmten Staaten ein und kritisiert auch deshalb den IWF und die US-Regierung. In der Korrespondenz zu seinem im folgenden abgedruckten bemerkenswerten Leserbrief in der Financial Times vom 11.12.2019 schrieb er: „Ich war immer Sozialdemokrat, Schweden war für mich immer das Vorbild“. Werner Rügemer.
Das Folgende ist die Übersetzung dieses Leserbriefes, hier als PDF. Das ist ein lesenswertes Dokument, auch ein Dokument eines geläuterten Ökonomen. Wir werden versuchen, mit ihm im Gespräch zu bleiben. Albrecht Müller.
Die USA verteidigen die Herrschaft des Völkerrechts nicht mehr
Gideon Rachman verkennt in seinen Artikeln „Trump, Obama und ihr Kampf mit dem „Blob“ (The „Blob“ ist eine herablassende Bezeichnung für die umtriebigen Außenpolitik-Experten des Washingtoner Establishments – frühere Sicherheitsberater, Diplomaten und Akademiker; Anmerkung der Übersetzerin) vom 3. Dezember und „Weshalb Europa die USA China vorziehen wird“ vom 10. Dezember die US-Außenpolitik und die Interessen Europas.
Die Vereinigten Staaten sind eine globale militärische Supermacht, die die militärische und geopolitische Vorherrschaft anstreben. Sie stehen nicht mehr für internationale Rechtsstaatlichkeit ein, da diese nunmehr eine Antithese zum Fortbestand der US-Vorherrschaft darstellt. Angesichts dessen, dass die USA lediglich 4,2 Prozent der Weltbevölkerung stellen und 15 Prozent der globalen Produktionsleistung erbringen und angesichts der raschen Verbreitung digitaler Innovation und des Einsatzes von Technologie können die USA ihre Vorherrschaft nur erhalten, indem sie die internationale Rechtsordnung, die Klimapolitik, die Technologie-Politik und die Mandate des UN-Sicherheitsrates mit Füßen treten. Die USA wollen China um jeden Preis eindämmen, sei es auf legale oder illegale Weise. Präsident Donald Trump hegt größte Verachtung für den Multilateralismus. Er ahmt George W. Bushs berüchtigte Forderung an Europa und andere nach: „Ihr seid entweder für uns oder für die Terroristen“, doch heute richtet sich die US-Attacke gegen China, den Iran und andere Staaten, die die US-Vorherrschaft ablehnen.
Amerikas aggressive und militarisierte Außenpolitik ist nicht in Europas Interesse. Die US-Kriege in Afghanistan, im Irak, in Syrien und Libyen haben die europäische Politik destabilisiert. Der Rückzug der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und ihre Förderung fossiler Brennstoffe bedrohen die Umwelt in Europa und auf der ganzen Welt. Die US-Versuche, vor zehn Jahren die NATO bis zur Ukraine und bis nach Georgien auszudehnen, provozierten zwei regionale Kriege. Der US-Rückzug aus wichtigen Atomwaffenverträgen und die Ausweitung des Militärs bis ins Weltall werden ein neues und destabilisierendes Wettrüsten anheizen. Die US-Regierung ist dabei, den Technologiesektor in den militärisch-industriellen Komplex zu integrieren und wird dabei von Big-Tech-Bossen wie Jeff Bezos von Amazon raffgierig unterstützt. („Bezos warnt das US-Militär, es riskiere ihre technologische Vorherrschaft zu verlieren“, 9. Dezember) Aufgrund der Abkehr der USA vom Atomabkommen mit dem Iran droht ein neuer regionaler oder gar globaler Krieg, und zwar einer, den US-Hardliner sogar befördern.
Herr Rachman stellt es so dar, als hätte Europa die Wahl, entweder den USA oder China zu folgen. Unsinn. Vielmehr sollte Europa seine eigenen globalen Anstrengungen auf eine friedliche, regelbasierte und nachhaltige multipolare Welt richten, in der kein Land die Vorherrschaft hat. In dieser Welt wird Europa mit China mindestens genauso kooperieren wie mit Herrn Trumps „America First“-Politik. Es ist dringend notwendig, dass die EU die UN-Charta, die WTO, den UN-Sicherheitsrat, das Pariser Klimaabkommen und das Regelwerk zur internationalen Abrüstung hochhält. Sie sollte mit China und anderen Staaten konstruktiv zusammenarbeiten, um diese globalen Ziele zu verfolgen, anstatt blind und leichtsinnig US-Versuchen zu folgen, die überkommene militärische und geopolitische Vorherrschaft der USA mittels eines neuen kalten Krieges mit China aufrechtzuerhalten.
(Übersetzung von Susanne Hoffmann. Danke vielmals)
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