Normandie-Treffen in Paris: Ein neuer Versuch für den Frieden in der Ost-Ukraine

Normandie-Treffen in Paris: Ein neuer Versuch für den Frieden in der Ost-Ukraine

Normandie-Treffen in Paris: Ein neuer Versuch für den Frieden in der Ost-Ukraine

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Nach drei Jahren Pause gibt es jetzt wieder einen direkten Dialog zwischen Kiew und Moskau – und konkrete Vereinbarungen. Der große Durchbruch zum Frieden in der Ost-Ukraine wurde zwar noch nicht erzielt. Aber ein neuer, hoffnungsvoller Anlauf wurde gestartet. Zu diesem wichtigen Dialog hat Ulrich Heyden einen Bericht geschrieben. Auf diesen Bericht folgt im selben Artikel ein Interview, das Heyden mit zwei Mitarbeitern der humanitären Organisation „Zukunft Donbass“ geführt hat und das Einblicke in den Alltag in der Ost-Ukraine gibt. Von Redaktion.

Über fünf Stunden verhandelten Wolodymyr Selenski, Angela Merkel, Emmanuel Macron und Wladimir Putin gestern im Élyséepalast in Paris. Es war das erste Treffen im sogenannten Normandie-Format seit drei Jahren. Zweieinhalb Stunden sprachen die vier Staatsführer an einem runden Tisch miteinander. Davor und danach gab es bilaterale Gespräche. Das Gespräch zwischen Putin und Selenski dauerte eineinhalb Stunden. Es war das erste Mal, dass Putin und Selenski direkt miteinander sprachen. Vorher hatte es nur Telefongespräche gegeben.

Auf der abschließenden Pressekonferenz, die erst weit nach Mitternacht begann, traten die vier Staatsführer gemeinsam vor die Presse. Alle vier waren um einen freundlichen Ton bemüht. Putin bezeichnete das Treffen als „sehr nützlich“. Macron lobte „den politischen Mut“ von Selenski, „Frieden in den Konflikt zu bringen“. Alle vier Politiker stellten das Gemeinsame in den Vordergrund. In einem Abschlussdokument wurden folgende Vorhaben fixiert:

  1. Bis zum Ende des Jahres sollen die noch verbliebenen Gefangenen nach dem Prinzip „Alle gegen Alle“ ausgetauscht werden. Konkret geht es um 250 Gefangene aus der Zentralukraine, die gegen 100 Gefangene aus den international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk bis zum Ende des Jahres ausgetauscht werden sollen.
  2. In 30 Tagen sollen neue Übergänge für die Bürger an der Demarkationslinie zwischen der Zentralukraine und den abtrünnigen Gebieten geschaffen werden.
  3. Bis zum März 2020 sollen an drei weiteren Abschnitten der Trennlinie beidseitig die Truppen zurückgezogen werden.
  4. In vier Monaten soll es ein neues Treffen im Normandie-Format geben. Dann soll es um die Frage gehen, wie man in den Regionen Donezk und Lugansk Wahlen organisieren kann.

Zwei Knackpunkte

Insbesondere in zwei Punkten gibt es nach wie vor große Meinungsverschiedenheiten. Selenski fordert, dass die Ukraine noch vor den Wahlen in Donezk und Lugansk die Kontrolle über die Grenze zwischen den beiden Gebieten zu Russland kontrollieren kann. Wladimir Putin wies darauf hin, dass das dem Minsker Abkommen widerspricht. Erst nach den Wahlen könne die Ukraine – laut Minsker Abkommen – die Grenze kontrollieren.

Der zweite Knackpunkt: Wladimir Putin forderte, dass Kiew – wie im Minsker Abkommen vorgesehen – mit den Regierungen in Donezk und Lugansk einen direkten Kontakt aufnehmen muss. Außerdem müsse die Ukraine laut Minsker Abkommen in der Verfassung einen Sonderstatus für Donezk und Lugansk verankern.

Der russische Präsident hob hervor, dass im Abschlussdokument von Paris das 2015 geschlossene Minsker Abkommen ausdrücklich als Grundlage für die weitere Arbeit bezeichnet wird.

Selenski hatte bereits vor dem Treffen in Paris angedeutet, dass er sich nicht mehr streng an das Minsker Abkommen halten will. Auch Merkel deutete an, dass man in Bezug auf das Minsker Abkommen Flexibilität zeigen müsse.

Zum Kontakt nach Donezk und Lugansk erklärte Selenski, den habe er schon, denn drei Millionen Menschen seien aus diesen Regionen „in die Ukraine“ geflüchtet.

Einen direkten Kontakt mit den Regierungen Donezk und Lugansk will Selenski offenbar weiterhin vermeiden. Vor kurzem hatte der ukrainische Präsident sogar erklärt, Personen mit russischen Pässen hätten in der Ost-Ukraine nichts zu suchen.

Diese harten Äußerungen sind möglicherweise Zugeständnisse des ukrainischen Präsidenten an den nationalistischen Flügel in der Ukraine, der versucht, Selenski als Verräter zu brandmarken.

Putin: „Es gibt eine Erwärmung“

Trotz der Widersprüche erklärte der russische Präsident, bei der Lösung des Konfliktes in der Ukraine sei eine „Erwärmung“ eingetreten. Der Prozess „entwickelt sich in die richtige Richtung“. Macron erklärte, von der Lösung des Konflikts in der Ukraine hänge die Stabilität auf dem europäischen Kontinent und der Bau „einer neuen Architektur“ ab.

Eigentlich wollte Selenski Großbritannien und die USA zu den Friedensverhandlungen hinzuziehen. Von beiden Staaten wird die Ukraine militärisch massiv unterstützt. Doch für dieses Ansinnen gab es von Berlin und Paris offenbar kein grünes Licht.

Der größte Störfaktor auf dem Weg zum Frieden ist jetzt die nationalistische Opposition in der Ukraine. Nationalistische Freiwilligenbataillone hatten in den letzten Monaten schon versucht, die Truppenentflechtung an drei Abschnitten zu torpedieren, was aber scheiterte.

Drei bekannte Oppositionspolitiker warnen seit Monaten hysterisch vor einer „Kapitulation“ vor Russland, der abgewählte Präsident Petro Poroschenko, die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und der Rocksänger und Leiter der Oppositionspartei „Golos“, Swjatoslaw Wakartschuk. 8000 Menschen waren am Sonntag zu einer Kundgebung gegen die „Kapitulation“ ins Zentrum von Kiew gekommen, wo Poroschenko der Hauptredner war.

Auf dem Treffen in Paris sprachen Vertreter der Gaskonzerne aus Russland und der Ukraine auch über den Gas-Transit von Russland durch die Ukraine in die EU. Doch eine Einigung wurde nicht erzielt. Putin sagte auf der Pressekonferenz in Paris, man sei bereit, beim Gas für die ukrainische Industrie einen Preisnachlass von 25 Prozent zu gewähren.


(Foto: Marco Samm)

Interview von Ulrich Heyden mit Mitarbeitern der Organisation „Zukunft Donbass“ über den Alltag in der Ost-Ukraine:

„Schritt für Schritt gute, nachbarschaftliche Beziehungen entwickeln“

Den Gesprächen im Normandie-Format sah man in der „Volksrepublik Lugansk“ mit gemischten Gefühlen entgegen.

Welche Erwartungen hatten die Menschen in Lugansk und Donezk an das Normandie-Treffen in Paris? Darüber sprach Ulrich Heyden zwei Tage vor dem Treffen via Internet mit Olga und Boris Drigoda aus der Stadt Lugansk. Die Stadt liegt nicht weit von der Trennlinie zur Zentralukraine entfernt, wo noch immer geschossen wird. Olga und Boris arbeiten für die humanitäre Organisation „Zukunft Donbass“.

Diese Organisation bekommt seit drei Jahren Spenden von einer gleichnamigen Organisation mit Sitz in Thüringen. In diesen Tagen soll der 24. Lastwagen-Transport aus Jena über die Route Weißrussland/Russland in Lugansk ankommen.

Aus Thüringen und anderen deutschen Regionen kommt ausrangierte Krankenhausausrüstung und medizinisches Verbrauchsmaterial für Krankenhäuser in der „Volksrepublik Lugansk“, vor allem für Krankenhäuser an der Trennlinie zur Ukraine.

Interview

Sie leben seit fünf Jahren im Kriegszustand. Wie halten Sie das aus?

Olga: Es ist sehr schwer, unter diesen Bedingungen zu leben. Das drückt auf einen. Ich rede schon gar nicht davon, wie mir das alles über ist. Das Schlimmste ist, dass es im Volk keinen Glauben gibt. Es gibt eine tiefe depressive Komponente. Aber wir haben uns schon vor dem Krieg auf das Positive konzentriert. Wir haben die Devise, lieber von etwas Gutem zu reden als von etwas Schlechtem. Lieber lächeln, als irgendetwas Abscheuliches sagen. Das ist schon lange so eine Lebensgewohnheit. Wir hatten schon im Jahr 2014 Anlass zur Freude. Jedes Mal, wenn wir aufwachten, freuten wir uns, dass wir zusammen lebendig waren. Viele ältere Menschen sterben einfach. Sie halten den Stress nicht aus.

Haben Sie Hoffnungen, dass beim Normandie-Treffen in Paris etwas erreicht wird?

Olga: Wir haben die Hoffnung, dass in Paris eine Entscheidung gefunden wird, die gut für uns ist, aber von der wir noch nichts wissen. Wir sind für Schritte zum Frieden. Natürlich muss man die Truppen von beiden Seiten der Trennlinie zurückziehen. Man muss Schritt für Schritt gute nachbarschaftliche Beziehungen entwickeln.

Boris: Das Treffen in Paris bietet die Möglichkeit, Dokumente zu unterzeichnen, damit man mit uns hier direkt spricht. Das Problem kann man nur lösen, wenn man mit den Parteien spricht, die an dem Konflikt beteiligt sind.

Was hat sich nach dem teilweisen Truppenabzug in den letzten Monaten beiderseits der Trennlinie verändert?

Olga: Die Menschen bei uns glauben nicht, dass die Ukraine Truppen zurückzieht, sondern dass sie nur so tut als ob. Wir fühlen uns jetzt ein bisschen ungeschützt. Gebe Gott, dass nichts passiert. Lugansk befindet sich nur 15 Minuten mit dem Auto von der Grenze zur Ukraine.

Was hat sich für Sie konkret geändert, seitdem Wolodymyr Selenski Präsident der Ukraine ist?

Olga: Für uns persönlich hat sich nichts geändert. Geändert hat sich aber etwas für die alten Leute, die aus Lugansk in die Ukraine fahren, um dort ihre Rente abzuholen. Der einzige Weg von uns auf die andere Seite (in die Zentralukraine) war schrecklich. Das war für die alten Leute furchtbar. Jetzt hat man für sie eine Brücke gebaut. Jetzt brauchen sie nicht mehr diesen erniedrigenden Übergang benutzen und können wenigstens über eine Fußgängerbrücke gehen. Eine Straße für Autos auf die andere Seite (Zentralukraine, U.H.) gibt es nicht. Es gibt auch keine Eisenbahnverbindung auf die andere Seite.

Als ich das letzte Mal in Donezk war, erzählten mir Jugendliche, dass sie nach Abschluss der Ausbildung in die Ukraine oder nach Russland fahren werden, weil es für sie in den „Volksrepubliken“ keine Arbeit gibt.

Olga: Diese Einstellung gibt es nach wie vor. Die Jugend will nicht hierbleiben, weil sie keinerlei Perspektive sieht. Aber wir wollen, dass unsere Kinder hier leben.

Boris: Es ist aber schon eine patriotisch eingestellte Jugend herangewachsen, die hier ihre Ausbildung machen und die hier arbeiten werden.

Gibt es wirtschaftlichen Aufschwung?

Boris: Solange der Krieg nicht offiziell beendet wird und Frieden herrscht, wird niemand in die großen Fabriken hier investieren.

Olga: Aber es gibt viele Kleinbetriebe, die jetzt eröffnet werden, vor allem in der Lebensmittelherstellung.

Wie hoch ist das Einkommen der Menschen?

Olga: Der Mindestlohn liegt bei 90 Dollar im Monat. Die Renten liegen etwas darunter. Ich habe den Eindruck, dass 90 Prozent der Menschen in Armut leben und nur zehn Prozent gut leben.

Wie sieht es aus im Bereich Infrastruktur und im Bereich Kultur?

Olga: Ganze Fernwärme- und Wasserleitungen wurden bei uns erneuert. Die Fernwärme funktioniert bei uns in den Häusern und Schulen sehr gut. In dieser Hinsicht ist es bei uns besser als vor dem Krieg. Und es gibt Kino und Theater. Ich und Boris sind in einer Mannschaft für Sport-Bowling.

Dieser Krieg geht sehr merkwürdig mit zeitweisen Beschießungen. Es fängt zum Beispiel um 17 Uhr an und endet am Morgen.

Gibt es das auch jetzt noch?

Olga: Nein. Das gibt es nur an der Trennlinie, bei Perwomaisk, eineinhalb Stunden von uns entfernt. Bei den Militärärzten und den Militärs gibt es keine Hoffnung, dass der Krieg endet, was für ein Treffen (wie das in Paris, U.H.) es auch gibt. Wir unterstützen die Gesundheitsversorgung an der Trennlinie zur Ukraine. Wir sprechen dort oft mit unseren Militärs. Die haben kein Vertrauen zu der anderen Seite.

Eine intensive Kriegsführung gibt es schon seit mehreren Jahren nicht mehr?

Olga: In Lugansk befinden wir uns im Hinterland. Sehr selten hörst du, dass da etwas explodiert ist. Im Jahr 2014 wurden wir direkt bombardiert. Im Jahr 2015 war es sehr laut. Aber wir befanden uns schon im Hinterland. Die letzten Jahre hört man in Lugansk nur sehr selten Explosionen. Aber an der Trennlinie gibt es jeden Tag Beschießungen. Wir liefern humanitäre Hilfe für Krankenhäuser in Perwomaisk und Stachanow. Diese Orte liegen an der Trennlinie. Vor zwei Monaten wurde Boris von dort angerufen. Man fragte ihn: „Man hat uns schon zwei Tagen nicht bombardiert. Was ist passiert? Haben wir etwas verpasst?“ Das wurde mit Humor gesagt.

Die Medien in Lugansk berichten von Verwundeten und Getöteten?

Olga: Natürlich. Jeden Tag gibt es einen Bericht.

Es gibt jeden Tag Verwundete?

Boris: Über Verwundete spricht man vor allem, wenn Zivilisten betroffen sind. Wenn es um Soldaten geht, spricht man schon nicht mehr darüber, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.

Olga: Das ist nicht der einzige Grund. Man will auch, dass die Leute weiter in den Streitkräften dienen. In den Streitkräften gibt es eine Dienstmüdigkeit. Man versucht, weniger über Tote zu sprechen.

Wann starben in der Volksrepublik Lugansk zuletzt Zivilisten?

Olga: Das war im Herbst an der Trennlinie. Dort starb eine Frau in einem Wohnhaus.

Mit Ihrer Familie und Ihren Kindern ist alles in Ordnung?

Olga: Am 2. Juni 2014 begannen die Sirenen zu heulen und es kam zu Luftangriffen. Da habe ich mit Boris beschlossen, die Mutter zu evakuieren. Nach zwei Stunden haben wir sie ins Taxi gesetzt. Wir haben sie nach St. Petersburg geschickt. 2015 haben wir sie zurückgeholt.

Sie haben über die Depressionen gesprochen. Wann begannen die genau? Nach meinem Eindruck gab es diese Stimmung 2014 und 2015 noch nicht. Gab es da nicht eine Euphorie und das Gefühl, dass das alles sehr schnell endet?

Olga: Natürlich. Alle meinten, dass das sehr schnell endet. Niemand konnte sich vorstellen, dass es einen Krieg geben wird. Obwohl die Leute davon sprachen.

Gab es die Hoffnung und die Erwartung, dass es eine Vereinigung mit Russland oder eine Unabhängigkeit der „Volksrepubliken“ geben wird?

Olga: Bei allen, die beim Referendum (für die Selbstbestimmung am 11. Mai 2014, U.H.) teilgenommen haben, gab es die Hoffnung, dass man uns nicht weiter erniedrigen und zwingen wird, in einer anderen Sprache (Ukrainisch, U.H.) zu sprechen. Dafür haben wir abgestimmt. Niemand hat damit gerechnet, dass man beginnt, uns zu ermorden. Wir dachten die (ukrainische U.H.) Regierung erkennt das Referendum an.

Boris: Gerade in diesem Teil des Donbass – in Lugansk und Donezk – werden die europäischen Werte beachtet, das sind freie Wahlen ohne Staatsstreich, friedlich und gesetzestreu. Wenn jemand gewählt wird, muss man diesem Menschen die Möglichkeit geben, seine Politik und den Willen der Mehrheit umzusetzen. Hier gibt es die Freiheit, mit dem befreundet zu sein, mit dem wir wollen. Alle Behauptungen, die Menschen würden mit Gewalt an die Wahlurnen gezwungen, sind ausgedacht. Als wir das Oberhaupt der Republik wählten (im November 2018, U.H.), gab es Temperaturen von 20 Grad Minus.

Olga: Wir standen vier Stunden vor dem Wahllokal Schlange.

Boris: Damals sagte die Ukraine, die Menschen wären unter Gewehrläufen zu den Wahlen getrieben worden. Als unser Wahllokal geschlossen werden sollte, sorgten Freiwillige dafür, dass die Menschen, die noch nicht abstimmen konnten, nicht das Gebäude stürmen. Man hat dann dort die Wahl zum Abstimmen verlängert.

Falls in Paris beim Normandie-Format über Wahlen in Donezk und Lugansk gesprochen und auch etwas beschlossen wird, wie könnten diese Wahlen aussehen?

Boris: Der Europarat könnte Beobachter zu den Wahlen schicken.

Menschen aus Donezk und Lugansk, die für den Maidan waren, sind in die Zentralukraine übergesiedelt. Wenn jetzt Wahlen in Donezk und Lugansk unter Aufsicht der OSZE stattfänden, dann würden diese Menschen vermutlich zurückkommen wollen. Sie würde versuchen, Parteistrukturen in Donezk und Lugansk aufzubauen.

Boris: Das ist unmöglich. Selbst wenn man ihnen das erlauben würde, würde das Volk eigenmächtig gegen diese Leute vorgehen. Unsere Regierung kann diesen Leuten keine Sicherheit garantieren.

Olga: Es hat zu viel Blut gekostet, unsere eigene Sprache zu verteidigen. Sie würden erneut versuchen, unsere Sprache zu verdrängen. Das werden die Menschen nicht zulassen.

Präsident Selenski erklärte, Menschen mit einem russischen Pass hätten in der Ostukraine nichts verloren. Wollte er mit diesen Worten die ukrainischen Nationalisten beruhigen?

Olga: Er wollte die Leute beruhigen, die faktisch sein Leben bedrohen. Man hat ihm vorgeworfen, dass er uns gegenüber zu nachgiebig ist. Man warf ihm Kapitulation vor. In meinem tiefsten Herzen hoffe ich, dass er etwas für den Donbass tut.

Boris: Er wollte einfach irgendetwas sagen. Ich denke, Selenski ist kein Politiker geworden. Er war Schauspieler und er ist Schauspieler geblieben. Er ist es gewohnt, mit Hilfe des Fernsehers für ein Publikum zu arbeiten. Er fällt keine ausgewogenen Entscheidungen.

Olga: Wir haben bisher keine russischen Pässe. Wir hatten diese Möglichkeit bisher nicht. Aber seit es diese Möglichkeit gibt, stehen die Leute Schlange, um den russischen Pass zu bekommen. Ein russischer Pass ist für uns ein großer Gewinn. Das bedeutet für uns Schutz. Über die Liebe zur Heimat muss man hier sprechen, an diesem Ort, wo die Menschen unter Bomben starben. Der Schutz durch Russland ist für uns die einzige Möglichkeit. Auf die russischen Pässe haben wir lange gewartet. Man hat uns isoliert. Viele Menschen konnten nicht in die Ukraine reisen, weil sie von den ukrainischen Sicherheitskräften verfolgt werden.

Gibt es Menschen in Lugansk, die Ukrainisch sprechen?

Boris: Ich spreche Ukrainisch. Ich war immer stolz, dass ich Ukrainisch kann. Es gibt bei uns ein ukrainisches dramatisches Theater.

Olga: Unser Sohn lernt in einer ukrainischen Klasse. Die wichtigste Sprache bei uns war immer Russisch.

Boris: Wir sind die Insel der Demokratie. Wenn die Ukraine will, kann sie sich uns anschließen.

Ich verstehe, das ist ein Scherz.
Die Politik von Selenski ist für Sie nicht demokratisch?

Boris: Nein. Alles was nach dem Staatsstreich (2014 in der Ukraine, U.H.) passierte, die gewaltsame Aneignung der Macht, ist für uns ungesetzlich.

Lassen Sie den Gedanken zu, dass viele Menschen in der Ukraine Selenski gewählt haben, weil sie von ihm eine Beendigung des Krieges erwarteten?

Boris: Die Menschen wählten weniger Selenski. Sie stimmten gegen das Regime Poroschenko und seinen Krieg.

Olga: Wir haben sehr viele Freunde dort (in der Zentralukraine, U.H.). Wir kennen die Meinung der Menschen dort. Selenski ist auch russischsprachig und der wichtigste Berater und Freund von Selenski kommt aus Lugansk. Und wir rechneten damit, dass das eine Rolle spielt. Und alle Menschen wählten Selenski, weil sie hofften, dass er den Krieg beendet, und weil sie verstanden haben, dass der Krieg ein großes Wirtschaftsprojekt ist. Es gibt so ein Sprichwort. Die Leute, für die der Krieg „wie die eigene Mutter“ ist, verdienen im Krieg Unmengen von Geld.

Man trennte uns künstlich. Dort auf der anderen Seite der Trennlinie schüchtert man die Menschen ein. Wir haben ein Grundstück dort. Boris wurde dort von Maskierten überfallen und unser Auto beschädigt. Ihnen gefiel nicht, dass wir den Menschen auf der ukrainischen Seite humanitäre Hilfe geliefert haben. Wir halfen dort bis zum Jahr 2017. Dann waren wir gezwungen, das zu beenden. Man bedrohte uns. Und sagte, „wenn ihr nochmal herfahrt, werden wir euch als Geiseln zum Austausch gefangen nehmen“.

Sie haben zu Beginn von einer depressiven Stimmung gesprochen. Wenn das Ausland sich mehr für die Situation bei Ihnen interessieren würde, würde Ihnen das helfen?

Olga: Natürlich. Dann fühlst du, dass du nicht alleine bist. Dass wir Hilfe aus Russland und Deutschland bekommen, ist sehr wichtig und wir erzählen den Menschen immer davon. In Deutschland sind es Privatmenschen, die uns helfen. Das ist eine Hilfe aus sehr guten Händen. Aber diese Hilfe kann nicht alles lindern.


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