„Das Warten ist ein Taschenspiegel der Verhältnisse, in denen wir leben“
Das „Warten“ hat in unserer Gesellschaft viele Facetten – meistens negative, aber auch positive. Der Frankfurter Philosoph und Journalist Timo Reuter hat sich Gedanken über das „Warten“ gemacht und betont im NachDenkSeiten-Interview, dass das Warten auch eine politische Dimension hat. Gerade die Armen, die, die am Rand der Gesellschaft leben, müssen oft warten, „sogar auf das Lebensnotwendige“, sagt Reuter. Und das ist kein Zufall. Bei diesem Warten kommen Macht und Herrschaftsausübung zum Vorschein. Ein Interview, das zum Nachdenken über das Warten anregt. Von Marcus Klöckner.
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Herr Reuter, warum haben Sie ein Buch über das „Warten“ verfasst? Was ist an dem Thema so interessant?
Ich habe mein Leben lang gewartet, so wie wir alle. Dennoch habe ich nie wirklich darüber nachgedacht. Irgendwann wurde mir klar, dass das Thema „Warten“ völlig unterbelichtet ist. Und das, wo es doch für den Einzelnen , aber auch für unsere Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Bei Reisen in anderen Ländern wurde mir klar, dass Menschen aus anderen Gesellschaften anders warten als wir hierzulande. Und ich habe mich gefragt, warum ich mich eigentlich ärgere, wenn ich an einer Bushaltestelle stehe und warten muss. Kurzum: Beim Nachdenken über das Warten wurde mir schnell bewusst, dass das Warten ein Taschenspiegel der Verhältnisse ist, in denen wir leben.
Wie meinen Sie das?
Auf was dürfen wir hoffen? Wo stellen wir uns bereitwillig an? Und wo werden wir dazu gezwungen? Unsere Bedürfnisse und Wünsche offenbaren sich im Warten ebenso wie gesellschaftliche Machtverhältnisse: Wer andere warten lässt, verfügt nämlich meist über Macht – und stellt sie dadurch zur Schau, indem er andere hinhält. In die endlosen Warteschlangen vor den Tafeln oder auf der Ausländerbehörde hingegen müssen sich vor allem jene einreihen, die kaum über Privilegien verfügen. Die Verteilung der Wartezeiten ist also selbst ein Spiegel sozialer Hierarchien – und ein moralischer Gradmesser. Denn zumindest die Warteschlange steht ja für einen durchaus hohen Wert: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Obwohl alle zuerst bedient werden wollen, soll die Zeit eines jeden dasselbe wert sein. Was in der Warteschlange passiert, verrät also auch einiges darüber, wie wir es mit der Gerechtigkeit halten. Und schließlich hat das Warten viel mit der Zeit zu tun.
Inwiefern?
Warten, so sagt man oft, ist verlorene Zeit. Aber warum? Man könnte ja auch sagen: Warten ist geschenkte Zeit.
Unsere Betrachtung der Zeit hat viel damit zu tun, dass die Zeit in die Uhr gepresst wurde. Irgendwann wurde diese gemessene Zeit mit Geld verrechnet. Wenn uns das klar wird, sind wir schnell bei „time is money“, Zeit ist Geld, sprich: Wir sind beim Kapitalismus. Und dort ist die Verschwendung von Zeit „Sünde“, weil Zeitverschwendung dann, wie schon Benjamin Franklin mahnte, Geldverschwendung sei. Wenn wir von Zeit reden, haben viele von uns also ein bestimmtes, historisch und ökonomisch geprägtes Verständnis. Mit Distanz betrachtet kann man Zeit natürlich nicht „verlieren“. Das geht nur dann, wenn man sie an etwas misst, wie etwa am Geld.
Aber Zeit ist doch vergänglich.
Ja, das ist der antike Gott Chronos. Und dann gibt es aber noch Kairos, das heißt: Die rechte Zeit, also der günstige Augenblick. Auf Kairos muss man warten können.
Wenn wir über Warten und Zeit sprechen, geht es schnell ins Philosophische. Aber Warten und Zeit haben auch eine politische Dimension.
Absolut. Wer die Kontrolle über seine eigene Zeit hat, hat schon eine Menge Macht. Wer auch noch die Kontrolle über die Zeit von anderen hat, hat noch viel mehr Macht. Andere warten zu lassen, ist das Resultat bestimmter Privilegien. In der Politik ist es seit jeher ein klassisches Machtmittel, andere hinzuhalten und somit über ihre Zeit zu verfügen. Aber auch der Staat macht seine Bürger zu Bittstellern, indem er sie endlos warten lässt, etwa auf dem Arbeitsamt. Der Soziologe Javier Auyero hat diese „Politik des Wartens“ untersucht. Für seine Studie verbrachte er mehrere Monate auf dem Sozialamt in Buenos Aires. Er stellte fest, dass die Menschen nicht einfach nur warten mussten, weil es nicht schneller ging, sondern weil die Demütigung des langen Wartenlassens als Regierungstechnik eingesetzt wurde. Es ging darum, dass die Wartenden sich fügen, konform werden. Dieser Befund ist grundlegend und gilt sicherlich nicht nur für Buenos Aires.
Könnte man sagen, dass arme Menschen mehr warten müssen als andere?
Ja, definitiv. Schauen wir uns an, wer heutzutage besonders lange warten muss, ja sogar auf Lebensnotwendiges warten muss, das sind wie gesagt die Armen, die Arbeitslosen, die Asylbewerberinnen. Das Warten dieser Menschen ist ein Ausdruck von Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Und man merkt auch schnell: Geld wartet nicht. Was ist ein VIP-Eingang anderes als institutionell legitimiertes Vordrängeln? Rassismus nötigt Menschen dazu, dass sie warten müssen. Wer etwa mit dem entsprechenden Pass geboren wird, muss nie auf der Ausländerbehörde warten. Genauso führt das Geschlecht dazu, dass Frauen mehr warten müssen als Männer. Das Ideal der „wartenden Frau“, das kommt von Penelope, die auf Odysseus gewartet hat. Das heißt, das Bild und die Realität der Frau, die wartet, ist schon sehr alt. Und bis heute warten Frauen ja auf Teilhabe und auf gleiche Bezahlung.
Was bedeutet denn das Warten für den Einzelnen, für das Individuum?
Wenn wir auf das Warten aus der Perspektive von Macht blicken, dann ist festzustellen, dass das Zeitsystem, in das wir in unserer Gesellschaft oft hineingepresst werden, zugleich ein Herrschaftssystem ist. Eng daran geknüpft ist der ökonomische Zwang, dem viele Bürger ausgesetzt sind. So sind wir regelrecht gezwungen, uns in einem Zeitsystem zu bewegen, das nicht das unsere ist. Unsere Eigenzeit wird zurückgedrängt, unsere Freiräume, wenn überhaupt, sind an den Wochenenden oder im Urlaub vorhanden.
Lässt sich das Warten auch gegen ein Herrschaftssystem wenden?
Ja, nämlich unter anderem dann, wenn man in der Lage ist, die Macht des Wartens selbst aktiv zu gebrauchen. Der Arbeitskampf ist dafür ein gutes Beispiel. Die Arbeiter solidarisieren sich, sind organisiert, legen ihre Arbeit nieder. Jeder Tag, an dem nicht gearbeitet wird, bedeutet einen Schaden für den Arbeitgeber. Je länger dieser also warten muss, umso größer ist der Schaden. Gemeinsam zu warten, macht also stärker, das zeigt auch das Kirchenasyl, wo es darum geht, Fristen auszusitzen und Zeit zu gewinnen, in der man sich Verbündete sucht. Das Warten kann aber auch im Alltag subversiv wirken und zum Sandkorn im Getriebe der pausenlosen Verwertungsmaschinerie werden. Man muss nicht einfach Produkte kaufen, nur weil man es kann. Wer einen gewissen Konsumverzicht übt, spart Geld, spart Zeit, denn schließlich kann Konsum auch ziemlich zeitaufwendig sein. Wer also beim Kauf von bestimmten Produkten wartet, bis er sie wirklich benötigt, hat erstmal Zeit zur Verfügung, die er für andere Tätigkeiten nutzen kann. Wer einfach mal abwartet, verweigert sich der pausenlosen Verwertungsmaschinerie. Und in diesem Stillstand kann man dann vielleicht sogar Muße erfahren oder einfach mal innehalten und durchatmen.
Lesetipp: Reuter, Timo: Warten – Eine verlernte Kunst. Westend Verlag. Frankfurt, 4. November 2019. 240 Seiten. 18 Euro.