Immer mehr Japaner suchen zum Stress-Abbau oder zur Bekämpfung ihrer Einsamkeit ein Tier-Café auf, um für 30 Minuten ein Mini-Schwein zu knuddeln. Dafür müssen sie umgerechnet 25 Euro hinlegen. Man kann wählen, ob man einen Otter, einen Igel, ein Ferkel, eine Katze, einen Hund oder eine Eule streicheln möchte. Die Tiere arbeiten rund um die Uhr im Schichtdienst. Nach stundenlangem Dienst am Kunden dürfen die Tiere sich in einem Ruheraum erholen, während ihre Kollegen ranmüssen. Tierschützer sehen in diesem Geschäft eine grobe Tierquälerei und einen Missbrauch. Die Branche boomt und setzt pro Jahr circa 25 Millionen Euro um. Deswegen ist damit zu rechnen, dass die guten Argumente der Tierschützer nicht verfangen. Notizen und Beobachtungen von Götz Eisenberg.
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In Japan sorgt derzeit noch eine andere Entwicklung für Schlagzeilen. Das Phänomen der „Hikikomori“ entwickelt sich zu einer Massenbewegung, wobei der Begriff Bewegung in diesem Fall unangemessen ist. Denn „Hikikomori“ ziehen sich aus der Gesellschaft zurück und schließen sich zu Hause ein. Eine Bewegung von lauter anomisch Vereinsamten ist schwer vorstellbar. Ihre Zahl wird auf mehr als eine Million geschätzt. Wir haben es mit einer extremen Zuspitzung einer Vereinsamungstendenz zu tun, die dieser Gesellschaft innewohnt und die durch „Hikikomori“ zur Kenntlichkeit gebracht wird. Der Markt zerlegt die Gesellschaft in soziale Atome. Am Ende besteht die bürgerliche Gesellschaft aus lauter „vereinzelten Einzelnen“ (Karl Marx), die sich in ihre Wohnschachteln zurückziehen. Die sogenannte Digitalisierung wird diese Tendenz eher noch forcieren. Alle sind gut vernetzt, aber einsam.
Hierzulande kann man sich neuerdings Menschen zum Kuscheln mieten. Eine Stunde kostet 70 Euro. Angebote kann man auf der Website Die Kuschel Kiste finden. „Kuscheln tut Seele und Körper gut. Aus diesem Grund bieten wir unseren Kuschelservice an“, erfährt man dort. Die Betreiber können sich auf die Wissenschaft berufen, die nachgewiesen hat, dass Kuscheln den Menschen guttut. Wer viel kuschelt, hat ein gutes Immunsystem. Warum also übernehmen die Krankenkassen nicht die Kosten für ein wöchentliches Kuscheln, die gemessen an den Folgekosten von chronischem Berührungsmangel relativ gering sind?
Man weiß seit langem, dass Kinder, die in Waisenhäusern aufwachsen, Gefahr laufen, in den ersten Lebensjahren zu sterben. Sie sterben trotz ausreichender Versorgung mit Essen und Trinken – an emotionaler Unterernährung und einem Mangel an Berührung. Wenn sie dennoch überleben, haben sie oft ihr Leben lang körperliche und geistige Beeinträchtigungen zu ertragen. Erwachsene, die keinen Körperkontakt haben, leiden häufiger unter psychosomatischen und psychischen Krankheiten, zum Beispiel unter Depressionen. Einsamkeit macht krank, manche halten sie selbst für eine Krankheit.
Wie wichtig Körperkontakt ist, versuchte der amerikanische Psychologe Harlow bereits in den 1950er Jahren in einer ganzen Serie von Experimenten mit Rhesus-Affen nachzuweisen. Er trennte die Äffchen unmittelbar nach der Geburt von ihren Müttern. Als Ersatz bekamen sie eine Milch spendende „Drahtmutter“ – ein Drahtgestell mit einer Milchflasche – und eine „Handtuchmutter“ – ein mit Frottee-Stoff überzogenes Drahtgestell – das darüber hinaus einen gesichtsähnlichen Kopf besaß. Harlow beobachtete das Verhalten der Rhesusäffchen und stellte fest, dass diese sich fast ausschließlich bei der „Handtuchmutter“ aufhielten und nur zum Trinken zur Drahtmutter wechselten. Offenbar war ihnen der Körperkontakt zumindest gleich wichtig, wenn nicht wichtiger als die blanke körperliche Ernährung.
Immer wieder frage ich mich, warum man Experimente benötigt, um etwas zu „beweisen“, auf das man auch durch mit Empathie angereichertes Denken kommen kann. Aber so funktioniert nun mal die Wissenschaft: Was nicht durch beliebig reproduzierbare Experimente nachgewiesen und messbar ist, findet keine Anerkennung.
Berührung und Körperkontakt ist ein menschliches Grundbedürfnis und, wie wir gesehen haben, für die Aufrechterhaltung der leib-seelischen Gesundheit mindestens so wichtig wie eine halbwegs vernünftige Ernährung und Bewegung. Bleibt natürlich die Frage: Was ist das für eine Gesellschaft, die das Nähebedürfnis zur Ware macht und durch bezahlte Dienstleister befriedigen möchte? Und: Lassen sich Nähe und Berührung in bezahlte Dienstleistungen verwandeln, ohne sie in ihrer Substanz zu beschädigen? Für Berührung gilt, was Theodor W. Adorno in seinem Vortrag Erziehung nach Auschwitz über Liebe und Wärme gesagt hat:
„Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch. Überdies lässt sich in beruflich vermittelten Verhältnissen wie dem von Lehrer und Schüler, von Arzt und Patient, von Anwalt und Klient Liebe nicht fordern. Sie ist ein Unmittelbares und widerspricht wesentlich vermittelten Beziehungen. Der Zuspruch zur Liebe – womöglich in der imperativischen Form, dass man es soll – ist selbst Bestandstück der Ideologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwanghafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt. Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewusstsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe, warum sie wurde.“
Die entfaltete Tauschgesellschaft betreibt einen zeitgemäßen Midas-Kult. Dem antiken phrygischen König Midas, dem Dionysos den Wunsch gewährte, dass alles, was er berührte, zu Gold werde, wurde seine Gier fast zum Verhängnis, weil er buchstäblich zu verhungern drohte. Die kapitalistische Gesellschaft basiert darauf, das Habenwollen als Ersatz für all das anzubieten, wonach noch nicht gänzlich zerstörte und desensibilisierte Menschen sich sehnen: Nähe zu und einen solidarischen Umgang mit anderen Menschen, eine sinnstiftende Tätigkeit und die Gelegenheit, sich als jemand zu erleben, der sich entfalten und seine noch nicht gelebten Möglichkeiten entwickeln kann. In der Gesellschaft des losgelassenen Marktes, die den Tauschwert noch zur Leitwährung der menschlichen Intimität erhebt und alles nach seinem ökonomischen Wert und seiner Nützlichkeit beurteilt, drohen die Menschen schließlich am Befriedigungsersatz des Habens zu ersticken. Alles ist Zichorie und rutscht in die Funktionale. Allenthalben herrschen ungelebtes Leben und „wunschloses Unglück“ (Peter Handke).
Wie gekaufte Liebe keine Liebe ist, so sind auch die von einer Servicekraft verabreichten Streicheleinheiten etwas anderes als zärtliche Berührungen zwischen Liebenden. Ob Körper sich derart überlisten und betrügen lassen? In Japan ist man bereits einen Schritt weitergegangen und hat einen Kuschel-Roboter entwickelt, der in Altersheimen und in der Therapie von Demenzkranken zum Einsatz kommt. Es handelt sich im Grunde um Weiterentwicklungen der mit Stoff bezogenen Drahtmütter Harlows. Man hat herausgefunden, dass Roboter von Menschen dann eher akzeptiert werden, wenn sie möglichst menschenähnlich aussehen und „Gesichter“ haben, auf denen Gefühlszustände dargestellt werden können. Auch hierzulande wird in Kliniken und Pflegeheimen bereits mit solchen Robotern experimentiert. Hoffentlich komme ich nie in eine Lage, die mich meine Würde verlieren lässt und mich zwingt, mich im Gruppenraum eines Altersheims von einem Roboter zu irgendwelchen Mätzchen animieren zu lassen.
Barbara Schöneberger berichtete unlängst in einer Talkshow, sie lasse sich im Flugzeug den Kaffee in einem von ihr mitgeführten Porzellanbecher servieren. Sie erzählte das, um zu demonstrieren, dass auch sie am Kampf gegen den Klimawandel teilnimmt. Eine Kreuzfahrtlinie rühmt sich, an Bord keine Trinkhalme aus Plastik mehr auszugeben und veganes Essen anzubieten. Merken diese Leute denn gar nichts mehr? Das ist ja noch nicht einmal Symbolpolitik, das ist einfach nur der peinliche Versuch, sich zum Zweck der Imagepflege an einen ökologischen Zeitgeist anzuwanzen.
Immerhin verzichtet der Hessische Rundfunk dieses Jahr auf seine Aktion Christmas Shopping in New York. Letztes Jahr hatte ich den Sender an dieser Stelle dafür kritisiert, in der Vorweihnachtszeit unter seinen Hörerinnen und Hörern eine Flugreise nach New York zu verlosen, während im polnischen Katowice auf der Weltklimakonferenz darüber beraten wurde, welche Maßnahmen ergriffen werden müssten, um die drohende Klimakatastrophe abzuwenden. Das schien mir nachgerade pervers. Dieses Jahr hat man die Zuhörerinnen und Zuhörer von hr3 abstimmen lassen, und diese haben mit knapper Mehrheit gegen diesen Irrsinn votiert. Was hätte der Sender getan, wenn die Mehrheit dafür gestimmt hätte? Ist es demokratisch, wenn man sich der Unvernunft und unaufgeklärten Dummheit der Mehrheit beugt?
Die Fixierung der gegenwärtigen Debatten auf den durch CO2-Ausstoß verursachten „Klimawandel“ rückt das Problem, vor dem die Menschheit steht, in den Bereich des technisch Regel- und Machbaren. Deswegen genießen er und die Bewegungen, die sich an ihm festmachen, gegenwärtig eine derart große Aufmerksamkeit und Beliebtheit. Die jungen Leute von Fridays for Future werden von Teilen der herrschenden Klasse hofiert, ja geradezu umarmt. Sie müssen aufpassen, dass sie sich nicht vor ihren Karren spannen lassen. Deren Interesse besteht darin, eine Bewegung zu stärken, die sich in immanenter und realitätsgerechter Empörung erschöpft: Wir müssen nur auf E-Mobilität umrüsten, und schon kann alles so weitergehen wie gehabt. Wir müssen nichts an unserer Art zu produzieren und das Produzierte zu konsumieren ändern, wir müssen nichts an unserem Naturbezug ändern und vor allem müssen wir die Eigentumsverhältnisse nicht antasten. Mit all dem hat der Klimawandel nichts zu tun. Jonathan Franzen hat in seiner Essay-Sammlung Das Ende vom Ende der Welt geschrieben:
„Der Klimawandel hat viel mit dem ökonomischen System gemein, das ihn beschleunigt. … Er harmonisiert auch prima mit der Technologieindustrie, indem er die Vorstellung befördert, dass allein die Technik, sei es durch die Effizienz des Fahrdienstvermittlers Uber, sei es durch einen Geniestreich des Geo-Engineering, das Problem der Treibhausgase lösen kann. Als Narrativ ist der Klimawandel fast so simpel wie ‚Märkte sind effizient‘. Was erzählt wird, braucht weniger als hundertvierzig Zeichen: Wir nehmen CO2, das zuvor gebunden war, und pumpen es in die Atmosphäre, und wenn wir nicht damit aufhören, stecken wir in der Scheiße. Naturschutz dagegen ist romanhaft.“
Mit einem Terminus von Michel Foucault könnte man sagen: Das Konzept „Klimawandel“ ist ein „Dispositiv der Macht“, das dem Versuch dient, die durch das Raubbauverhältnis des Kapitals zur inneren und äußeren Natur ausgelösten Selbstzerstörungsprozesse des industriell-kapitalistischen Systems auf eine Weise zu stoppen, die den Fortbestand des Systems nicht gefährdet. Deswegen ist es wesentlich, den braven, grünen Teil der Protestbewegung vom radikalen, antikapitalistischen Teil zu trennen, jenen zu hofieren und zu päppeln, diesen zu bekämpfen und wenn nötig zu kriminalisieren. Das Kapital bedient sich gelegentlich oppositioneller Bewegungen, um eine neue Stufe seiner Entwicklung zu erklimmen. Um das Ganze zu retten, müssen Teile geopfert werden.
Der Umstieg der kapitalistischen Produktionsweise von fossilen Energieträgern auf erneuerbare stößt auf Widerstände im eigenen Lager und kann deshalb nur durchgesetzt werden, wenn er sich auf Bewegungen und politische Kräfte stützen kann, die diesen Umbau propagieren, ohne die Markt- und Kapitallogik als Ganze in Frage zu stellen. Diese politische Kraft ist die Partei Die Grünen. Die Fridays-for-Future-Bewegung nähme ihre Zerschlagung in eigene Regie, wenn sie sich als deren außerparlamentarischer Arm verstünde und sich in ihren Zielsetzungen entsprechend begrenzen und verharmlosen ließe.
Im Sinne Jonathan Franzens umfasst wahrhafter Naturschutz also weit mehr als „Klimawandel“. Er schließt die weltweite Abholzung der Wälder und die industrialisierte Landwirtschaft, die Zerstörung der Habitate, das Ausplündern der Fischgründe und Grundwasserleiter, den Einsatz von Pestiziden und den Plastikmüll, die Verbreitung invasiver Arten mit ein. Das Elend der Wildvögel und der zum Schlachtvieh und zur Ressource denaturierten Tiere schreit zum Himmel. Der Mensch steht mittels kapitalfixierter Technik, Wissenschaft und Industrie „in der Natur wie eine Besatzungsarmee im Feindesland“, heißt es bei Ernst Bloch. Es ginge darum, diese Armee abzuziehen, radikal abzurüsten und unser Verhältnis zur Natur auf eine andere, konviviale Grundlage zu stellen. Wir benötigen eine qualitativ andere Gesellschaft, einen Sozialismus der Verlangsamung, der Entbrutalisierung des Umgangs zwischen Mensch und Natur, der an die Stelle der wildgewordenen betriebswirtschaftlichen Ökonomie eine „Ökonomie des ganzen Hauses“ (Negt) setzt. Deren Rationalitätskriterien wären nicht länger der Markt- und Kapitallogik entnommen, sondern sie bezöge ihre Kriterien aus den Maximen einer sinnlichen und ökologischen Vernunft. Noch nie war es so dringlich, dass eine zur Vernunft gekommene Menschheit die Kontrolle über die ökonomischen Prozesse zurückgewinnt, diese in eine lebendige Gesellschaftlichkeit einbindet und vernünftigen Zielen unterstellt.
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