Teil 2: Der Raubzug des Establishments. Mit Umfragewerten von 4,6 Prozent auf dem niedrigsten Stand seiner Popularität – die jeden realistischen Staatschef zur Einsicht seines Scheiterns und zum freiwilligen Rücktritt bewegen würden – versucht der chilenische Präsident Sebastian Piñera aus der Niederschlagung und Kriminalisierung der seit dem 18. Oktober anhaltenden Proteste und dem Schrei nach “Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung” ein konservatives Bündnis mit der Spaltung der parlamentarischen Mitte-Links-Opposition zu schmieden. Mit medial inszenierten sozialen, jedoch nur kosmetischen Zugeständnissen wettet der schwer angeschlagene Staatschef auf die Rückeroberung seines politischen Kapitals und die Verhinderung seines Absturzes. Von Frederico Füllgraf.
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Mit härteren Strafmaßnahmen für Vermummte gelang Piñera ein Abkommen mit der Mitte-Links-Opposition. Der zu ihnen gehörende, ehemalige sozialdemokratische Präsident, Ricardo Lagos, ging so weit, Piñera nicht etwa wegen dem geplanten Wiedereinsatz des Militärs zu kritisieren, sondern weil der Präsident es noch nicht befohlen hat; eine Ermutigung, der sich auch der ehemalige Außenminister der Sozialistischen Partei, José Miguel Insulza, angeschlossen hat. Die Staatsanwaltschaft erhob bisher Anklage gegen mehr als 20.000 Personen wegen unterschiedlicher Gewalt- und Eigentumsdelikte.
Parallel dazu zerfällt jedoch das Narrativ vom angeblichen Zusammenspiel von politischen Aktivisten der „Primera Línea“ mit Einbrechern und Drogendealern. In den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft häufen sich nämlich auch Beweise für Plünderungen und kriminelle Brandstiftungen sowohl durch aktive und pensionierte Beamte der Carabineros als auch durch Vertreter der ultrarechten Partei Renovación Nacional, wie der Fall des Stadtverordneten Karim Chahuán Cerna deutlich macht.
Piñera wird jedoch in vielfältiger Hinsicht vom chilenischen Parlament gedrängt, das auf die Dringlichkeit für die Verabschiedung einer “Agenda Corta”, also einer Agenda für soziale Sofortmaßnahmen besteht. So beschloss die Abgeordnetenkammer am Montag, dem 2. Dezember, mit 78:71 Stimmen eine umgehende 50-prozentige Zulage für die sogenannte “Solidarische Grundrente”, deren Wert seit Juli 2018 umgerechnet etwa 120,50 Euro (107.304 Chile-Pesos) beträgt. Sollte der Senat dem Beschluss zustimmen, könnte die Mehrheit der Chileninnen und Chilenen ab Januar 2020 mit einer Grundrente von umgerechnet 180 Euro rechnen – genaugenommen nach wie vor eine Hungerrente, die nach Angaben der Rentenaufsichtsbehörde an 2,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner – mit rund 68 Prozent mehr als zwei Drittel von Chiles Pensionären – ausgezahlt wird.
Die ursprünglichen Regierungspläne sahen einen stufenweisen 50-prozentigen Anstieg für Pensionäre über 80 Jahre und erst im Jahr 2021 eine je 30-prozentige und 20-prozentige Erhöhung für Rentner im Alter zwischen 75 und 80 Jahren vor. Die Regierung wollte offenbar eiskalt weitere Suizide der verarmten Rentner riskieren. Rentenfachmann Gino Lorenzini zufolge begeht die Regierung ein Verbrechen gegen die Rentner: 2019 beschnitt sie die Renten um 13 Prozent, nahm aber gleichzeitig Darlehen aus dem privaten AFP-Fonds auf, der 180 Milliarden US-Dollar der Einzahler “verwaltet”. Lorenzinis Anklage hatte Morddrohungen zur Folge, der Mann flüchtetet mit seiner Familie nach London.
Indes stellt sich die Frage, wessen Eigentum sichern die Militärs mit dem geplanten Einsatz zum Schutz “kritischer Infrastruktur” wie Wasserversorgungsanlagen? Antwort: nicht das Eigentum, sondern die Vergabe exklusiver Wassernutzungskonzessionen an transnationale Konzerne wie den italienischen ENEL, dessen chilenische Niederlassungen wie Endesa das faktische Monopol der Trinkwasserversorgung und der Wasserkraftwerke besitzen, die ihnen das Wassergesetz aus der Ära Pinochet zusichert, wogegen sich jedoch Millionen erboste Chilenen erheben.
Der Raubzug des Establishments
Mittlerweile ist Präsident Piñera nicht nur Zielscheibe scharfer Angriffe aus dem Lager der nach wie vor auf den Straßen protestierenden sozialen Bewegungen. Selbst Politiker der eher konservativ ausgerichteten Christlich-Demokratischen Partei (PDC) wie Ximena Rincón – ehemalige Ministerin für Arbeit und Soziales in der zweiten Amtsperiode Michelle Bachelets – gingen mit der Regierung hart ins Gericht. „Präsident, die Plünderungen sind nicht nur die, die in den letzten Tagen stattgefunden haben, sondern auch jene, die wir über viele Jahre hinweg erlebt haben und unter denen unsere Gesellschaft gelitten hat … Wir müssen die Plünderung der Renten durch die (privaten) AFP-Fonds stoppen. Lassen Sie uns die Renten JETZT für alle um 40 Prozent erhöhen! “, forderte die amtierende Senatorin. Damit nannte Rincón das Stichwort, das, summa summarum, die jahrzehntealten faulen Geschäftspraktiken hinter dem Vorhang von Chiles Legalität zusammenfasst, jedoch seit Ausbruch der sozialen Proteste von der Regierung Piñera bis zum Erbrechen als Reizwort gegen die Protestbewegung verwendet wird: “Plünderer”.
Die Netzwerke der Macht in Chile sind zwar eng gestrickt, komplex und werden verheimlicht. Das hinderte die Publizistin und Trägerin des Nationalpreises für Journalismus, María Olivia Mönckeberg, nicht daran, sie zu entschlüsseln und ihr Vorgehen als Modus Operandi und Logik des seit über 40 Jahren herrschenden neoliberalen Systems zu erklären. Ihr im Jahr 2001 erschienenes und 2015 von Random House (Bertelsmann) als Taschenbuch neu herausgegebenes Forschungswerk “El Saqueo” (Die Plünderung – siehe Buchcover) rekonstruiert, wie unter dem Druck der Chicago Boys gegen Ende der Pinochet-Diktatur mindestens 37 große, staatseigene Unternehmen privatisiert, zu Preisen weit unter dem Marktwert gekauft wurden und – vornehm, akademisch ausgedrückt – Ausgangspunkt der “ursprünglichen Akkumulation” von Chiles Eliten bilden.
Nach Schätzungen des Forschungsinstituts für städtische Marginalität der Katholischen Universität Chile summierten sich diese dubiosen Geschäfte auf nicht weniger als 23,3 Milliarden US-Dollar. Ein Schaden am chilenischen Staat und seinen Bürgern – die mit ihren Steuerzahlungen den Aufbau dieser Betriebe jahrzehntelang finanziert hatten – den die mehrfache Autorin und heutige Hochschulprofessorin nicht zu Unrecht als skrupellose Plünderung bezeichnet.
Dazu kamen in den frühen Jahren der Demokratisierung neue Formen des Beutezugs gegen Staat und Bevölkerung, wie zum Beispiel Kartellabsprachen von Großunternehmen in der Ernährungs-, Papierherstellungs- und Apothekenbranche. In der Zeit von 1996 bis 2011 formierte sich zum Beispiel ein Kartell für Hühnerfleisch, zwischen 2000 und 2011 oktroyierte eine Handvoll von Toilettenpapier-Herstellern den Chilenen ein abgesprochenes Preisdiktat und monopolartige Apotheken-Unternehmen beuten seit 2007 die Käufer von Medikamenten – selbst im Vergleich mit Preisen in der Europäischen Union – mit bis zu 400-prozentigen Aufpreisen aus. Nach zusätzlichen Schätzungen des erwähnten Forschungsinstituts beliefen sich die Gewinne dieser gesetzeswidrigen Absprachen auf mindestens 1,7 Milliarden US-Dollar.
Doch es blieb nicht dabei. Steuerhinterziehung brachte den Staat um weitere zig Milliarden US-Dollar. „In Chile herrscht keine Hinterziehung, wir sind doch nicht Argentinien oder Brasilien. Hier wird das Gesetz respektiert“, heißt es seit Jahrzehnten im offiziellen Unternehmer-Credo. Jorge Atria vom Zentrum für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Universidad Mayor (CEAS) widerlegte den Mythos in einer Studie mit dem Titel “Legalismus und Kreativität: Steuervergehen in den Augen der Wirtschaftselite”. Die Nuance, die der (Schein-)Überzeugung eine Wendung verleiht, ist die Akzeptanz der landesüblichen “Schlauheit” und “Schlitzohrigkeit” bei Umgehung der Steuerpflicht bei allen von Atria Befragten.
Mit dem Ziel der Steuerhinterziehung ließen sich die chilenischen Eliten neben der Flucht nach Steueroasen den erfolgreichen Trick des Aufkaufs von Konkurs betroffenen und bankrotten Unternehmen einfallen, um damit angebliche “Verluste” anzumelden. So entstanden die sogenannten “Zombie”-Firmen. Nach Angaben der Finanzbehörde SII (2019) haben die Zombies von Chiles Familienunternehmen und Clans allein im Zeitraum 1996-2004 Steuern im Wert von 1,45 Milliarden Dollar hinterzogen; allen voran Staatspräsident Sebastian Piñera.
Die unsaubere Weste Sebastian Piñeras
Dass das 2019 auf 2,8 Milliarden US-Dollar angestiegene Vermögen des amtierenden Staatschefs nicht auf einwandfreiem, legalem Weg erwirtschaftet wurde, dokumentiert ein weiteres, 2017 erschienenes Buch über die dreisten Freiheiten von Chiles Ein-Prozent-Elite mit dem Titel ““Empresarios Zombis” (“Zombie-Unternehmer). Dessen Inhalt stört Sebastian Piñera nach wie vor über die Maßen, weist das Buch doch nach, dass der schlitzohrige Unternehmer allein zwischen 2000 und 2004 mit seinen Zombiefirmen Steuern in Höhe von mindestens 3,5 Millionen US-Dollar hinterzog. Laut Finanzbehörde SII meldete Piñeras Kreditkarten-Unternehmen Inversiones Bancard Ltda. zwischen 2002 und 2004 Verluste in Höhe von 980 Millionen chilenischer Pesos, die Behörde stellte jedoch dementgegen Gewinne in Höhe von 547 Millionen Pesos fest. Für die illegale Praxis wurde Piñera von der satirischen Wochenzeitschrift The Clinic als der “Zombie-König” ironisiert.
Selbst die Zombie-Scheinunternehmen beiseitegelassen, weist das Strafregister des ultrakonservativen Staatschefs Verstrickungen in mindestens acht weiteren Fällen (Banco de Talca, Piñeragate, Fall Chispas, Parque Tantauco, Fluglinie LAN, Interessenkonflikte bei Minister-Ernennung, Kupfermine Isla Riesco, Devisenflucht nach karibischen Steueroasen und Vermögensverheimlichung) nach, die von der Nutzung von Insider-Informationen, Nepotismus und illegaler Landaneignung über Korruption bis hin zu schwerem Bankbetrug reichen.
Der zum Skandal ausgeuferte Fall Banco de Talca führte 1982 zu Piñeras Verhaftung und gipfelte in der politischen Erpressung der Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, Monica Madariaga, zur Freilassung des jungen Managers, der mit Hilfe des CIA – als dessen Agent sein Vater in Chile agierte – für die Dauer eines Jahres außer Landes gebracht wurde, bis das Verfahren eingestellt wurde. Seitdem galten die Gerichtsakten über den Fall als “verschollen”, wurden jedoch 2009 gezielt den Medien wieder zugespielt. Der Fall wurde 2009 von der chilenischen Niederlassung von CNN wieder aufgerollt, als die pensionierte Richterin Madariaga nach 27-jährigem Schweigen zum ersten Mal über die Hintergründe des Falls Piñera öffentlich auspackte.
Zusammengefasst spielte Piñera die folgende Rolle. Im Jahr 1979 erwarb die Calaf-Danioni-Gruppe 65 Prozent der Anteile an der ehemals staatlichen Banco de Talca. Carlos Massad wurde zum Präsidenten der Bank und Sebastián Piñera zum Generaldirektor ernannt, der im November 1980 von Emiliano Figueroa Sandoval abgelöst wurde. Die Calaf-Danioni-Gruppe bestand jedoch aus mehr als 80 Einzelunternehmen, von denen die Mehrheit hoch verschuldet war und die gesetzlich zulässige Verschuldungsgrenze überstieg.
Piñera tüftelte einen gewagten Trick aus: Scheinunternehmen zu gründen, auf die die Schulden abgewälzt und heimlich kassiert werden konnten. Der von Piñera ausgeheckte Betrug umfasste 150 Scheinfirmen mit der “Kreditvergabe” von 200 Millionen US-Dollar, die die Eigenreserven um das Fünffache überstiegen. Das Kreditinstitut ging bankrott, das Finanzministerium Pinochets befehligte seine Schließung.
Im Anschluss daran wurden mehrere Kontrolleure der Bank wegen Betrugs und Verstößen gegen das allgemeine Bankengesetz angeklagt. Miguel Calaf und Alberto Danioni wurden im Juli 1982 festgenommen. Im darauffolgenden August wurden Sebastián Piñera, Carlos Massad und Emiliano Figueroa Sandoval verhaftet, doch ihre Haftbefehle wurden bereits am 20. September vom Obersten Gerichtshof aufgehoben und das Verfahren auf unerklärliche Weise eingestellt.
Mit dem Banco-de-Talca-Betrug begann jedenfalls Sebastian Piñeras Aufstieg zum Milliardär.
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