Noch vor wenigen Tagen schien es so, als seien die Wahlen in Großbritannien eigentlich schon gelaufen. Umfragen sagten den konservativen Tories eine satte Mehrheit von 68 Sitzen voraus. Doch sie hatten ihre Rechnung ohne die Aktivisten von Labour gemacht, die einen sagenhaften Wahlkampf auf den Straßen und im Netz aufgezogen haben, der Parallelen zur „Willy-wählen-Kampagne“ aufweist. Der Vorsprung der Tories schmilzt unaufhörlich. Genaue Vorhersagen sind unmöglich, zumal aktuelle Studien etwas Erstaunliches festgestellt haben: Ein großer Teil der Wähler will taktisch wählen und damit vor allem Boris Johnson verhindern. Die Messe ist offenbar noch nicht gelesen und die Chancen für Jeremy Corbyn sind deutlich besser als bislang gedacht. Von Jens Berger.
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Ginge es nach den klassischen Medien, wäre die Wahl in der Tat schon gelaufen. Eine aktuelle Studie der Loughborough University hat die Berichterstattung ausgewählter Zeitungen in den letzten drei Wochen analysiert. Kaum überraschend schnitt dabei die Berichterstattung über Labour mit einem Wert von -75.70 in der letzten Woche dermaßen katastrophal ab, dass selbst Zweifler nicht mehr leugnen können, dass es eine ganz massive Kampagne gegen Labour und deren Parteichef Jeremy Corbyn gibt. Die Tories kommen übrigens auf Werte zwischen +15.87 und +29.98. Auch die staatliche BBC hat sich dieser Kampagne schon längst angeschlossen und wirkt in ihrer Berichterstattung oft wie ein Presseorgan der Tories.
Doch der Wahlkampf findet zum Glück nicht nur in den klassischen Medien statt. Im Umfeld von Labour ist in den letzten Jahren mit Momentum eine mächtige Kampagnenplattform entstanden, die bereits im letzten Wahlkampf auf sich aufmerksam machte. Momentum hat 50 Festangestellte und mehr als 40.000 Mitglieder, die sich aktiv als Wahlkampfhelfer einbringen – mehrere Tausend von ihnen haben sich die letzten Wochen des Wahlkampfs Urlaub genommen und machen nun – zentral koordiniert von Momentum – in den besonders wichtigen Wahlkreisen einen Last-Minute-Wahlkampf. Man geht von Tür zu Tür und spricht die Menschen auf der Straße an.
Willy wählen 2.0
Ein großer Teil des Wahlkampfs findet jedoch einmal mehr in den Sozialen Netzwerken statt. Alleine Jeremy Corbyns Facebook-Seite erzielte dort mit seinen Einträgen mehr als 4,8 Millionen Interaktionen (Likes, Kommentare oder Weiterleitungen) – das ist mehr als alle britischen Parteien (inkl. Labour) zusammen. Doch diese Zahlen sagen noch nichts über die Breitenwirkung aus. Moderne Kommunikation über die Sozialen Netzwerke ist nun einmal keine Einwegkommunikation vom Sender zum Empfänger. Im Umfeld von Corbyn, Labour und Momentum haben sich Tausende Gruppen gebildet, die auf eigene Faust Beiträge, Videos und Songs posten, mit denen sie Wahlkampf für Labour machen. Themenschwerpunkte sind hier das Gesundheits- und das Bildungssystem, sowie der Widerstand gegen die Austeritätspolitik und der Ruf nach einer Umverteilung von oben nach unten. Für deutsche Betrachter ist besonders interessant, dass das Thema Brexit dabei allenfalls am Rand vorkommt.
In einem Video lassen die Macher beispielsweise junge Menschen raten, wie teuer bestimmte Gesundheitsdienstleistungen in den USA sind. Das Video wurde alleine auf Facebook innerhalb von 20 Stunden mehr als vier Millionen Mal angeschaut. In einem zweiten Video zum Thema erklärt der amerikanische Schauspieler Rob Delaney den Briten die Vorzüge ihres Gesundheitssystems. Selbstgedrehte Videos von alten und jungen Menschen, Müllwerkern, Feuerwehrmännern, Ärztinnen und Krankenschwestern und selbstgemachte Wahlkampfspots werden über diese Gruppen verbreitet und finden nicht selten mehrere Hunderttausend Zuschauer. Von diesen Videos gibt es Hunderte und täglich kommen Dutzende neue hinzu.
Aber auch die Wahlkämpfer von Labour finden über diese Verbreitungswege hunderttausende bis Millionen Zuschauer – selbstgemachte Spots für ein jüngeres Publikum, Kampagnenfilme für das nationale Gesundheitssystem NHS oder für eine echte Friedenspolitik und Filme von Wahlkampfauftritten. Besonders beliebt sind lustig gemachte Filme über Boris Johnson oder den britischen Milliardär und Tory-Fan Richard Branson, die sich in Windeseile verbreiten.
Das Ziel von Labour ist dabei gar nicht mal, Wähler der Tories zu überzeugen; es geht vielmehr darum, die eigenen, meist jüngeren, Wähler zu mobilisieren. In der letzten Woche – kurz vor Toresschluss – ließen sich fast 700.000 neue Wähler registrieren; ein Rekordwert. Keine Frage, Jeremy Corbyn hat das Momentum. Die entscheidende Frage ist, ob dies ausreicht, um den Umfragevorsprung der Tories einzuholen.
Können die Briten Boris Johnson mit Taktik verhindern?
Unmöglich ist dies nicht. Bei den letzten Unterhauswahlen im Jahre 2017 lag Labour zwei Wochen vor der Wahl noch 9% hinter den Tories zurück. Bei der Wahl schrumpfte der Vorsprung auf 2%. Nach den jüngsten Umfragen beträgt der Rückstand zur Zeit 7% und dies bei einer Fehlerquote von +/- 3%. Der New Statesman folgert daraus bereits, dass eine Labour-Regierung zur Zeit innerhalb der statistischen Fehlerquote liegt. Sogar der ehemalige Stabschef von Boris Johnson warnt bereits vor einer „sehr realen Möglichkeit“, dass es für die Tories nicht zu einer Regierungsmehrheit reichen könnte.
Exakte Prognosen sind jedoch bei diesen Wahlen unmöglich. In Großbritannien gibt es ein Mehrheitswahlrecht, bei dem es keine Listen und Zweitstimmen gibt, sondern nur die Gewinner der Wahlkreise ein Mandat erhalten. Es ist also letztlich egal, ob die Tories in ihren ländlichen Hochburgen mit hohem Altersdurchschnitt 45% oder 99% der Stimmen bekommen, und dies verzerrt die Aussagekraft landesweiter Umfragen. Entscheidend sind – da sind sich alle Beobachter einig – die Wahlkreise, in denen es knapp wird, und die Wahlkreise, in denen sich Labour und die Liberaldemokraten gegenseitig die Stimmen wegnehmen könnten. Und hier wird es besonders spannend, da diese beiden Parteien zwar viel trennt, sie jedoch mit den Tories einen gemeinsamen Gegner haben und beide Parteien vor allem Boris Johnson verhindern wollen.
Eine aktuelle Studie von Remain United ergab, dass 48% aller Labour-Anhänger und sogar 55% aller Anhänger der Liberaldemokraten taktisch wählen würden, um einen Kandidaten der Tories in ihrem Wahlkreis zu verhindern. Auf Basis der Umfragen von letzter Woche würde der Vorsprung der Tories damit auf nur noch acht Sitze abschmelzen. Würde der Trend zu Labour nur um weitere zwei Prozentpunkte weitergehen (und dies ist laut der jüngsten Umfragen schon heute der Fall), hätten Labour, die Liberaldemokraten und die schottische SNP eine Mehrheit im Unterhaus. Und die Studie von Remain United ist kein Einzelfall. In einer ähnlichen Studie der Electoral Reform Society kam zu einem ganz ähnlichen Ergebnis – hier waren es über alle Parteigrenzen hinweg 30% der Wähler, die sich bei der Wahl in ihrem Wahlkreis für einen Kandidaten bzw. eine Partei entscheiden würden, um einen anderen Kandidaten zu verhindern. Eine weitere Studie von Best for Britain beziffert die Zahl der nötigen taktischen Stimmen, um Boris Johnson zu verhindern, auf mindestens 117.314; dies würde in den 57 umkämpften Kreisen auf Basis der jetzigen Prognosen ausreichen, um die dortigen Tory-Kandidaten zu schlagen. Hierbei geht es wohlgemerkt nur um eine Stimmverschiebung zwischen den Oppositionsparteien und noch nicht einmal um Zugewinne von den Tory-Wählern.
Die entscheidende Frage für die Wahl am 12. Dezember ist also, ob es die Gegner von Boris Johnson schaffen, ihre eigenen Truppen zu mobilisieren und zu einem taktischen Wahlverhalten zu animieren. Sollte dies gelingen, dürfte es für Boris Johnson schwer werden und der nächste Premierminister Großbritanniens könnte allen Unkenrufen zum Trotz Jeremy Corbyn heißen.
Titelbild: chrisdorney/shutterstock.com