Die neue SPD-Führung wird es, wenn sie vom Parteitag wie beabsichtigt gewählt wird, nicht leicht haben. Das wird schon an der Reaktion der wichtigsten Medien sichtbar. Fernsehen und Zeitungen sind erstens angefüllt von enttäuschten Kommentaren, denn man wollte ja mehrheitlich das andere Paar, man wollte vor allem Scholz. Zweitens wird ein Linksruck prognostiziert. Drittens wird das Ende der Großen Koalition prophezeit. Dazu und zu einigem mehr ein paar Anmerkungen. Albrecht Müller
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- Es ist nicht anzuraten, die Große Koalition zu beenden. Denn dabei würde sich die neue Führung Esken/Walter-Borjans unnötig verkämpfen und es ist auch ausgemachter Quatsch, einer neuen Regierung aus CDU/CSU und FDP im Vorfeld der nächsten Bundestagswahl das Feld zu überlassen.
- Viel wichtiger wäre für die neue SPD-Führung und für unser Land, die SPD würde in der aktuellen Großen Koalition Vernünftiges durchsetzen. Zum Beispiel ein Infrastrukturprogramm. Das wäre wichtig, um die Konjunktur anzuschieben und Arbeitsplätze zu sichern, und es wäre wichtig, um die marode Infrastruktur unseres Landes wieder auf Vordermann zu bringen. Die Mehrheit der Menschen sieht vermutlich, wie schlimm es darum steht und würde schon deshalb ein solches sachlich begründetes Beschäftigungsprogramm unterstützen. Der bisherige Finanzminister Scholz hat genau an dieser Stelle blockiert und er wird, wenn er im Amt bleibt, weiter blockieren. Das Kleinklein eines Kampfes mit Scholz um konjunkturpolitische und infrastrukturelle Vernunft ist der neuen Führung nicht anzuraten und würde sie auch zermürben.
Außerdem gehört die neue SPD-Spitze in die Regierung. Das war zum Beispiel beim Juniorpartner FDP immer so: Walter Scheel, Genscher, Westerwelle und wer auch immer hatten immer ein wichtiges Ministerium und das Amt des Vizekanzlers inne. Das war in der sozialliberalen Koalition bei Brandt und Schmidt und dann auch in der schwarz-gelben Koalition bei Kohl und Merkel so. Und auch bei Rot-Grün mit Kanzler Schröder besetzte der kleinere Koalitionspartner, die Grünen mit Joschka Fischer das wichtige Außenministerium. - Im Amt des Finanzministers und Vizekanzlers könnte der neue Finanzminister Walter-Borjans auch zeigen, dass es durchaus Spielräume für eine gerechtere Steuerpolitik gibt. Wenn er sie im weiteren Verlauf der Großen Koalition nicht durchsetzen kann, dann kann er sie als Bundesfinanzminister wenigstens sachverständig erarbeiten und öffentlichkeitswirksam formulieren und propagieren. Das verbietet der Koalitionsvertrag nicht. Anders als von Scholz könnten von Walter-Borjans sachverständige Impulse kommen.
- Er hätte als Bundesfinanzminister ohne Behinderung durch den Koalitionsvertrag auch die Chance, verschiedene Defizite aufzuarbeiten. Ich nenne ein paar Beispiele:
- Der Bundesverkehrsminister Scheuer verschleudert mit seinen Mautexperimenten öffentliches Geld. Siehe dazu diesen Text in den NachDenkSeiten. Das Bundesfinanzministerium könnte unter der neuen Führung besser und wirksam kontrollieren.
- Der neue Finanzminister könnte auch die offensichtlich gelaufenen Versuche des Bundesfinanzministeriums, auf Arbeitsebene die Tätigkeit von gemeinnützigen Vereinigungen zu erschweren, stoppen. Von Walter-Borjans wäre zu erwarten, dass er begriffen hat, wie unmöglich es beispielsweise ist, die Bertelsmann-Stiftung als gemeinnützig gelten zu lassen, und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA e. V.) und Attac diese Anerkennung zu entziehen.
- Der neue Finanzminister könnte mit Sicherheit auch ohne Verletzung des Koalitionsvertrages mehr tun, um Steuerhinterziehung, Steuervermeidung und die Flucht in Steueroasen zu verhindern bzw. diese einzudämmen. Es könnte ja sein, dass die bösen Kommentare, die in den Medien gleich nach Veröffentlichung der Entscheidung für Esken und Walter-Borjans erschienen sind, etwas damit zu tun haben, dass einige der Medienmacher direkt von der bisherigen Nachlässigkeit der Finanzverwaltung profitieren.
- Das Fazit zu dieser Frage nach der personellen Besetzung des Bundesfinanzministeriums und des Amtes des Vizekanzlers: Wenn Scholz dort bleibt, dann wird die neue SPD-Führung in einen ständigen Zermürbungskampf hineingezogen. Die SPD braucht im Kabinett die Unterstützung des Bundesfinanzministers. Das wird sie nur bei personeller Veränderung erreichen.
- Interessant ist die in vielen Medien auftauchende Behauptung, mit der neuen SPD-Führung sei ein Linksruck verbunden. Was ist denn links an den Siegern der Mitgliederbefragung? Dass sie für ein bisschen mehr Steuerehrlichkeit und Steuergerechtigkeit eintreten? Dass sie für die Reparatur unserer maroden Infrastruktur auftreten? Dass sie dem befürchteten Konjunktureinbruch entgegenwirken wollen? Die Behauptung vom Linksruck ist ein uralter Trick. Er wurde auch schon 1969 folgende angewendet, als Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt worden war. Ihm haben damals Politiker der CDU/CSU und konservative Medien einen Linksruck vorgeworfen, obwohl dieser in der Sache und in politischen Entscheidungen nirgendwo markant erkennbar war – es sei denn, man hätte die neue Ostpolitik, eine bessere Bildungspolitik und die Reform des Rechts zugunsten von Frauen und einige Verbesserungen der Sozialpolitik wie etwa die flexible Altersgrenze oder die Krankenversicherung für Bauernfamilien oder die Dynamisierung der Kriegsopferrenten oder das gleiche Kindergeld für alle als Linksruck bezeichnen wollen. Diese Vorwürfe – und das wird jetzt auch wieder so sein – wurden vom konservativen Teil der SPD, also von den damaligen „Kanalarbeitern“ und ab 1972 von der vornehmeren Variante, den Seeheimern, im Verein mit den SPD-Gegnern außerhalb der SPD immer wieder erhoben. Damals agitierten die Gegner der SPD unter dem Dach der Parole „Freiheit statt Sozialismus“. Der damalige SPD-Vorsitzende und Bundeskanzler hat diese Auseinandersetzung um den sogenannten Linksruck nur gewinnen können, weil er die Unterstützung von hunderttausenden von Menschen hatte. Siehe Bericht auf den NachDenkSeiten: 05. November 2019 50 Jahre „Mehr Demokratie wagen“ – Strategische Überlegungen von damals und für heute.
- Damit ist schon klar, auf was es für das politische Überleben der neuen SPD-Führung und für einen Erfolg beim Versuch der Rettung der SPD ankommt: die neue SPD-Führung muss Hunderttausende von Menschen mobilisieren, in der SPD selbst und weit darüber hinaus. Das gelingt nur bei einer deutlichen Schärfung des Profils und das wiederum verlangt unter anderem, auf bewährte programmatische Positionen zurückzugreifen.
- Das wichtigste Profilelement und zugleich die wichtigste Aufgabe ist: Besinnung auf zwei wichtige und richtige programmatische Formeln:
- Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, im Innern und nach außen.
- Der Frieden ist der Ernstfall. Und nicht der militärische Einsatz.
Die konkret wichtigste Aufgabe ist die neue Verständigung mit Russland, also die Wiederaufnahme der bewährten Entspannungspolitik.
Das wird nur im Konflikt mit der CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer und der Bundeskanzlerin gehen. Dafür muss man aber die Koalition nicht aufgeben. Man muss in der Sache kämpfen. - Dies wird – so schwer es sein mag – zumindest eine personelle Konsequenz verlangen: Mit Heiko Maas und seiner Entourage im Auswärtigen Amt wird das nicht gehen. Wenn dieser sowohl unsichere als auch sichtbar von den USA und der NATO abhängige Politiker im Auswärtigen Amt bleibt, dann wird die neue SPD-Führung ein dreifach so dickes Nervenkostüm haben müssen, wie es normal üblich ist. Dieses kann man aber nicht kaufen. Jedenfalls ist trotz aller Schwierigkeiten der hier fällige personelle Wechsel preiswerter.
- Um die SPD vor dem Niedergang zu retten und um sie attraktiver zu machen, ist es dringend notwendig, die programmatische Arbeit in der SPD wieder zu beginnen und zu leisten. Die SPD braucht dringend neues Personal, neues sachverständiges Personal. Der Anteil der Karriere-Politiker unter den Mandatsträgern und Amtsinhabern muss verringert werden. Das geht nur, wenn man für neue gute Leute attraktiv ist.
Titelbild: Screencap Tagesschau vom 30.11.2019