Werden wir von Kanaillen regiert?
„Kanaillenkapitalismus. Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft“ – so heißt das neue Buch des spanischen Soziologen César Rendueles. Eine nicht nur lohnenswerte, sondern auch unterhaltsame Lektüre, meint Udo Brandes, der das Buch für die NachDenkSeiten gelesen hat.
„Der Neoliberalismus: eine groß angelegte Zerstörung des Sozialen“
Eine Rezension von Udo Brandes
Das Wort „Kanaille“ kommt aus dem Französischen. Laut Duden ist eine Kanaille jemand, „der als böse, schurkisch“ angesehen wird. Man bezeichnet damit auch eine Gruppe von Menschen, die als asozial, verbrecherisch oder ähnlich betrachtet wird. Mit anderen Worten: Schon der Titel von Rendueles’ Buch zeugt davon, dass von ihm keine nüchterne, sachlich-wissenschaftliche Analyse zu erwarten ist, sondern ein subjektiver und emotionaler Blick auf unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.
Sein Anliegen ist es, den neoliberalen Kapitalismus als eine Form von Wahnsinn und Verbrechen anzuklagen. Das, was bei uns von Parteien wie der FDP als „freie Marktwirtschaft“ angepriesen wird, ist für ihn nichts weiter als ein „Kanaillenkapitalismus“. In dieser ironisierenden Gleichsetzung der Begriffe wird schon deutlich, dass für Rendueles der Begriff „freie Marktwirtschaft“ nichts weiter als ein ideologisches Konstrukt ist, das nichts mit der Realität zu tun hat.
Dementsprechend fällt auch sein Urteil über die Machteliten in der freien Marktwirtschaft aus:
„Neoliberale Globalisierung ist der historische Prozess, in dem 99 Prozent von uns freiwillig die Kontrolle über unser Leben an Fanatiker abgegeben haben, die einer wahnhaften Wahrnehmung der sozialen Realität unterliegen. Wir haben Menschen, die eigentlich auf eine vom FBI umstellte Ranch in Waco, Texas gehören, mit Führungspositionen in der Wirtschaft, mit Spitzengehältern, Steuerprivilegien und hohen sozialem Renommee belohnt“ (S. 231-232).
Ein sehr hartes Urteil, das auf den ersten Blick überzogen wirkt. Sind Leute wie Angela Merkel und Olaf Scholz Leute, die einer wahnhaften Wahrnehmung der sozialen Realität unterliegen? Und sind sie so gefährlich, dass sie eigentlich eingesperrt gehörten? Bei Donald Trump und charakterlich ähnlich strukturierten Politikern möchte man diesem Eindruck spontan zustimmen. Denn sie können einem wirklich Angst machen. Aber kann man das auch von unseren „normalen“ Politikern sagen? Sicher, man kann ihnen eine schlechte Politik vorwerfen. Aber „wahnhafte Wahrnehmung der Realität“? Und so gefährlich, dass sie eigentlich eingesperrt gehörten?
Selbstverständlichkeiten zementieren Herrschaft
Mir fällt dazu ein, dass der französische Soziologe Pierre Bourdieu sich einmal fragte, wie ist es eigentlich möglich, dass Menschen Verhältnisse hinnehmen, die eigentlich unerträglich sind? Wieso gibt es nicht viel öfter und massenhaft Protest? Er kam zu dem Ergebnis, dass es die gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten sind, die die größten Zumutungen ermöglichen. Also das, was uns durch Gewöhnung als völlig selbstverständlich und normal erscheint. So dass wir nicht einmal mehr auf die Idee kommen, es zu hinterfragen. Wenn man sich dies bewusst macht, muss man sich nur noch daran erinnern, was die neue Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gerade mit viel Geschwafel erklärt hat. Übersetzt in Klartext hat sie gesagt „Wir wollen aufrüsten und unsere Außenpolitik militarisieren. Wir wollen, dass Deutschland international mehr Macht bekommt und ausübt. Und wir wollen wirtschaftliche Interessen mit Krieg durchsetzen, wenn es anders nicht geht.“
Was bei Horst Köhler noch galt, ist bei AKK nicht mehr existent
Vor einigen Jahren ist der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler noch wegen einer ähnlichen Äußerung, die ihm während eines Radiointerviews im Flugzeug herausgerutscht ist, noch zurückgetreten. Gab es zu diesem von AKK sorgfältig vorbereiteten und inszenierten Statement eine breite Empörung? Nein. 74 Jahre nach dem Ende des verheerenden 2. Weltkriegs mit zig Millionen Toten, verursacht durch unser Land, darf eine deutsche Verteidigungsministerin wieder von einem militärisch mächtigen Deutschland phantasieren. Ein Deutschland, das notfalls Krieg führt, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Und diese Politik wird von den Medien nicht skandalisiert. Es gibt auch keine großen Demonstrationen. Mit anderen Worten: Politiker und die mediale Bewusstseinsindustrie arbeiten daran, die Idee, Krieg sei ein legitimes Instrument der Politik, in Deutschland zu einer dieser Bourdieuschen Selbstverständlichkeiten zu machen, die keiner mehr hinterfragt. Insofern ist vielleicht dieses harsche Urteil von Rendueles über unsere Eliten sehr heilsam. Und wenn man dann sein Buch liest und die vielen Beispiele, kommt einem sein harsches Urteil schon nicht mehr so absurd vor. Er erreicht mit seiner Methode, anhand von Zitaten aus der Literatur den Kapitalismus zu erklären und zu deuten, etwas: Dass man ungläubig staunt. Dass man anfängt sich zu wundern. Und dass man ihm zustimmen kann, wenn er schreibt:
„Der postmoderne Neoliberalismus ist ein kalter und düsterer Ort, an dem persönliche Güte und die Fürsorge für andere einen zum Verlierer machen. Die Logik des Prekariats besteht nicht nur aus Ausbeutung und Entfremdung wie im klassischen Kapitalismus. Sie läuft auf eine groß angelegte Zerstörung des Sozialen hinaus“ (S. 236).
Denken wir wie Ludwig XVI.?
Eine gute Freundin von mir kann die politischen Zustände in unserem Land nicht mehr ertragen und hat jegliche Hoffnung aufgegeben, dass sich noch wirklich etwas grundlegend zum Besseren ändern könnte. Und dass es sich noch lohnen würde, sich politisch zu engagieren oder auch nur mit Politik zu beschäftigen. Genau dagegen wendet sich das Buch von Rendueles. Er will Mut machen und zum Glauben an und Engagement für die Demokratie motivieren. Und das macht er sehr unterhaltend, indem er aus literarischen Werken zitiert und daraus seine Analysen entwickelt. Und ich finde, es macht tatsächlich Mut, was er schreibt. Zum Beispiel wenn er das folgende Zitat anschließend mit einer Geschichte über Ludwig XVI., der in der Französischen Revolution mit der Guillotine geköpft wurde, veranschaulicht:
„Im Laufe der Geschichte haben sich die herrschenden Klassen immer wieder durch ihre armselige politische Vorstellungskraft ausgezeichnet. Die Angehörigen der Eliten waren völlig davon überzeugt, dass das politische System, an dessen Spitze sie standen – ob nun Sklaverei, Feudalismus oder Tyrannei – unveränderbar sei und die einzige Alternative zum Chaos darstellte“ (S. 13).
Mir fällt bei diesem Zitat spontan der strebsame und staatstragende CDU-Politiker Norbert Röttgen ein. In Talkshows reagiert er oft auf linke Kritik und linke Politiker mit einer Arroganz und Herablassung, als ob er und seine Parteifreunde die Eigentümer des Staates seien. Und Kritik an den herrschenden Zuständen aber nun wirklich völlig abwegig und absurd wäre. Solche selbstgerechten Politiker wie Norbert Röttgen müssten dazu verurteilt werden können, täglich die Geschichte zu lesen, die Rendueles über Ludwig den XVI. erzählt. Dieser führte von seiner Jugend an ein Tagebuch, in dem er über seine alltäglichen Sorgen nachdachte. Da die Jagd seine Lieblingsbeschäftigung war, hatte er die von ihm erlegten Tiere (189.251 Stück in 13 Jahren) in seinem Tagebuch minutiös registriert. Auch die von ihm gewährten Audienzen sowie Krankheiten wie Verdauungsstörungen, Erkältungen und Hämorrhoiden wurden von ihm notiert. Wenn er weder jagte noch Audienzen gewährte oder krank war, beschränkte sich sein Tagebucheintrag auf das Wort „nichts“. Und nun kommt`s: Ausgerechnet an den berühmten Tagen der Französischen Revolution schreibt Ludwig XVI. was in sein Tagebuch? „Nichts“. Rendueles Schlussfolgerung daraus:
„Wir alle sind wie Ludwig XVI. geworden: kurzsichtig und, was noch schlimmer ist, skeptisch hinsichtlich der für möglich gehaltenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Wir tun so, als würden Kasinokapitalismus, Zeitarbeitsfirmen und transnationale Unternehmen auch in 1000 Jahren noch existieren. Das liegt selbstverständlich nicht an einem Übermaß an Realismus. Die hegemonialen sozialen Diskurse – jene, die in den Meinungskolumnen der Tageszeitungen als ‚gesunder Menschenverstand’ bezeichnet werden – ähneln den Fantasien eines Drogentrips. Wir haben den Fanatikern des freien Marktes, die eine wahnhafte Vision der gesellschaftlichen Realität besitzen und uns erzählen, die Bereicherung der Reichsten sei die einzig mögliche Form des Zusammenlebens, die Kontrolle über unser gesellschaftliches Leben übertragen“ (S. 14/15).
Eine ausgefeilte theoretische Kritik an der Kasinowirtschaft und der dieser Kleptokratie zugrunde liegenden Gesellschaftsstrukturen, so Rendueles, sei unverzichtbar. Aber sie sei nutzlos, wenn es uns nicht gelänge, uns von der lähmenden Unterwürfigkeit zu befreien. Und wenn sich die Möglichkeiten der politischen Emanzipation nicht zugleich auch im alltäglichen Zusammenleben niederschlagen würden:
„Das ist es, was ich in diesem Buch versucht habe. (…) Orthodoxe Ökonomen verwenden Teile der Realität zur Konstruktion ihrer mathematisch geformten Fantasien. Ich habe versucht, mit Fragmenten der Fiktion die Spuren realer Prozesse zu rekonstruieren, die sich im LSD-Rausch des zeitgenössischen Kapitalismus verflüchtigt haben“ (S.14/15).
Und das macht er wie gesagt auf sehr unterhaltsame Weise und man erfährt dabei viele interessante Fakten, Geschichten und Anekdoten.
Dazu noch ein Beispiel. Rendueles zitiert aus der „Bienenfabel“ von Bernhard Mandeville aus dem Jahr 1714. Mandeville kommentiert für seine damaligen Leser seine Fabel:
„Von hier aus zeigt sich, dass Überfluss (gemeint ist: Überfluss an verarmten Menschen UB) die Arbeitskräfte billig macht, sofern man die Armen gut im Griff hat; zwar sollte man sie nicht verhungern lassen, aber sie dürfen auch nicht die Möglichkeit zum Sparen bekommen. (…) Es liegt im Interesse aller reichen Nationen, dass der größte Teil der Armen kaum jemals müßig ist und doch ständig ausgibt, was er einnimmt. (…) Aus dem Gesagten wird klar, dass in einer freien Nation, wo Sklaven nicht erlaubt sind, der sicherste Reichtum in einer großen Anzahl von Armen besteht“ (S.78).
Ein Schelm, wer sich bei diesem Zitat an die Hartz-4-Gesetze erinnert fühlt. In gewisser Weise ist dieses Zitat, finde ich, geistig erfrischend. Weil hier ganz offen ausgesprochen wird, was für asoziale Perversitäten der Autor im Sinn hat. Was für ein Unterschied zu der verlogenen und scheinheiligen politischen Rhetorik unserer Tage!
Zum Schluss seines Buches gibt Rendueles eine Aussage der konservativen spanischen Politikerin Esperanza Aguirre wieder. Diese habe im Sommer 2014 gesagt, es sei dringend notwendig, das Wahlgesetz zu verändern, um zu verhindern, dass eine „Koalition von Verlierern“ die Macht ergreift. Rendueles dreht dies gedanklich um und schreibt als Schlusswort seines Buches:
„Ich denke, das ist die beste Definition von Demokratie, die ich jemals gehört habe. (…) Demokratie ist der politische Ausdruck der faszinierenden und immer etwas unscharfen Intuition, dass ein besseres – gerechteres, freieres und erfüllteres – Leben nur unter Gleichen möglich ist, die das ihnen Gemeinsame entdecken, transformieren und teilen“ (S. 256).
Ich selbst hatte bei der Aussage der spanischen Politikerin eine andere Idee: Besser kann man nicht ausdrücken, was Konservatismus ausmacht.
Wer eine interessante und lehrreiche, aber mal ganz andere politische Lektüre sucht, dem sei diese literarische Reise durch die freie Marktwirtschaft empfohlen. Man lernt viel und wird gut unterhalten. Und bekommt außerdem ganz nebenbei eine Fülle interessanter Literaturhinweise, die für die politische Debatte von Wert sind.
César Rendueles: Kanaillenkapitalismus. Eine literarische Reise durch die freie Marktwirtschaft, Suhrkamp-Verlag, 266 Seiten, 18,00 Euro