Nahezu zeitgleich schossen zu Wochenbeginn die Tories und die britischen Medien einmal mehr aus allen Rohren gegen den Spitzenkandidaten von Labour. Wieder einmal geht es um das Thema Antisemitismus. Aufhänger war ein offener Brief des britischen Oberrabbiners Ephraim Mirvis, den die Times veröffentlicht hatte. Die britischen Juden seien „von Angst gepackt“; Angst vor dem „neuen Gift“ des Antisemitismus der Labour-Partei und Jeremy Corbyn. Die Bürger sollten bei der Wahl „ihrem Gewissen folgen“. Die britischen Medien nahmen diese Steilvorlage auf und niemand berichtete über die Hintergründe. Mirvis sieht sich als Freund von Boris Johnson und hat engste Kontakte zur Tory-Spitze. Offenbar geht es hier nicht um Antisemitismus, sondern um schmutzige Meinungsmache mitten in der Hochphase des Wahlkampfs. Von Jens Berger.
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Quelle: Twitter
Eigentlich sollte der Dienstag ein Befreiungsschlag für Labour werden. Auf einem Parteikongress stellte Jeremy Corbyn in Tottenham das „Race & Faith Manifesto“ von Labour vor, in dem die Partei eindeutig Stellung zu den Themen Rassismus und Antisemitismus bezieht. Corbyns Gegner sorgten jedoch dafür, dass die Inhalte bei der medialen Berichterstattung nur noch ein Randthema waren. Bei seiner Ankunft wurde der Labour-Chef von einer kleinen, aber dafür umso lautstärkeren Gruppe von Demonstranten als „Rassist“ beschimpft, eine dubiose Gruppe namens „Communities United against Labour Party Antisemitism“ hielt Plakate hoch, die ihn als „Terroristen-Unterstützer“ verunglimpften und Plakatwände auf angemieteten Trucks bezeichneten Labour als das „Zuhause für Holocaust-Leugner“. Wer hinter dieser selbst für britische Verhältnisse ungewöhnlichen Schmutzkampagne steht, blieb bislang im Dunkeln und scheint die britischen Medien ohnehin nicht zu interessieren.
Quelle: Facebook-Gruppe „We Support Jeremy Corbyn“
Dafür interessierte sich die BBC am Dienstagabend beim Interview mit Jeremy Corbyn viel mehr dafür, ob dieser sich für seinen Antisemitismus entschuldigen wolle. Warum sollte sich Corbyn aber für etwas entschuldigen, das überhaupt nicht zutrifft? Die Überschriften am Mittwochmorgen fielen jedoch ganz anders aus: „Jeremy Corbyn will sich nicht für den Antisemitismus bei Labour entschuldigen“ (Daily Mail, Guardian, Sun, Telegraph, Times, BBC).
Dies war nur der bisherige Höhepunkt einer teils grotesken Kampagne. Nach der zweiten TV-Debatte verdächtigten einige Medien Corbyn sogar des Antisemitismus, weil er den Namen „Epstein“ nach Ansicht einiger Beobachter „antisemitisch ausgesprochen“ habe. Waren diese Versuche noch offensichtlich bemüht, hatte der offene Brief des Oberrabbiners Mirvis schon eine andere Qualität. Inhaltlich hatte Mirvis freilich nichts Relevantes zur Debatte beizutragen. Seine Vorwürfe sind allesamt entweder schon lange als Falschmeldungen widerlegt oder betreffen randseitige Punkte, die von Labour schon vor einem Jahr beantwortet wurden. Es geht dabei um folgende Punkte:
- Jeremy Corbyn wurde von Dritten zu einer pro-palästinensischen Facebook-Gruppe hinzugefügt, in der es wohl antisemitische Äußerungen gab.
- In den inoffiziellen Facebook-Fangrupen von Corbyn gab es vereinzelte antisemitische Äußerungen von Dritten.
- In der Labour-Partei gab es ebenfalls antisemitische Äußerungen. Es wurde in 350 Fällen durch eine extra eingerichtete Kommission ermittelt, es kam zu Parteiausschlüssen und Verwarnungen. Labour hat rund 500.000 Parteimitglieder.
- Corbyn hatte 2012 in einem Kommentar auf Facebook eine Wandmalerei des Künstlers Mear One verteidigt, die antisemitische Stereotype bedient. Für diesen Fehler hat er sich später entschuldigt
- Während seiner Zeit als normaler Abgeordneter ist Corbyn mehrfach für die Rechte der Palästinenser eingetreten. Später wurde er dafür für antisemitische Aussagen von Palästinensern mit in Haftung genommen.
All diese Punkte kumulierten 2018 in einem grotesken Streit um eine Antisemitismus-Definition, bei dem Corbyn am Ende klein beigeben musste, um einen Putsch des rechten Flügels von Labour abzuwehren. Medienwissenschaftler der Birkbeck University of London haben die Medienberichterstattung zu den Antisemitismusvorwürfen in der Studie „Labour, Antisemitism and the News – A disinformation paradigm“ untersucht und sind dabei zu einem vernichtenden Urteil gekommen – Falschmeldungen, Manipulationen und einseitige Berichterstattung waren keine Ausnahmen, sondern die Regel. Würden die Forscher die aktuelle Berichterstattung zu den wieder aufgewärmten Vorwürfen untersuchen, kämen sie wohl zu einem ähnlichen Urteil.
Mirvis´ offener Brief löste eine neue Lawine aus. Boris Johnson nutzte die Gelegenheit, sich medienwirksam „Sorgen“ um den Antisemitismus in der Labour-Partei zu machen und auch der Erzbischof von Canterbury – der ebenfalls den Tories nahe steht – machte sich nun via Twitter seinerseits Sorgen um die Sorgen der jüdischen Gemeinde im Falle eines Wahlerfolgs von Jeremy Corbyn. Die Medien stürzten sich natürlich gleich auf diese Äußerungen und traten unter dem Deckmantel einer „Debatte“ eine Kampagne gegen Labour und Corbyn los.
Die Medien bestimmen die Agenda
Und diese Kampagne wirkt. Das äußerst empfehlenswerte Wahlprogramm (hier eine 60-Sekunden-Zusammenfassung) von Labour ist bereits in der medialen Versenkung verschwunden. Die Themen Gesundheitssystem, Bildungssystem, Mieten und Wohnen und der Mindestlohn finden in der öffentlichen Debatte kaum statt. Es geht nur noch um den Brexit – ein Thema, bei dem Labour zwischen den Tories und den Liberaldemokraten aufgerieben wird – und eben die Antisemitismusvorwürfe. Die Tories stehen in den Umfragen blendend da und es braucht schon sehr viel Optimismus, um noch an eine Wende zu glauben.
Quelle: Wikipedia
Sicherlich hat Jeremy Corbyn auch zahlreiche Fehler gemacht und ist an der drohenden Niederlage nicht unschuldig. Johnson hat es vortrefflich geschafft, mit seinem theaterreifen Brexit-Spektakel gegen das Parlament die Stimmen der Brexit-Partei nahezu komplett zu den Tories herüberzuholen, während Corbyn bislang die Chance verpasst hat, die Stimmen der Liberaldemokraten zu gewinnen, die sich neben den Grünen und der schottischen SNP als einzige Partei konsequent gegen den Brexit positioniert haben. Im britischen Wahlsystem, bei dem nur die Sieger der Wahlkreise ein Mandat bekommen, könnte dies entscheidend sein.
Man darf bei alledem aber den Einfluss der Medien nicht vergessen. Nach wie vor bestimmen sie die Agenda und auf den meisten Feldern ist die Linie der großen britischen Zeitungen und TV-Formate erstaunlich deckungsgleich mit der Linie der konservativen Tories. Jeremy Corbyn ist hingegen in den sozialen Netzwerken ungemein stark aufgestellt. Diese Medien sind jedoch vor allem für die jüngeren Wähler von Bedeutung, während Fernsehen und Zeitungen tendenziell eher von den älteren, konservativen Wählern konsumiert werden.
Quelle: YouGov
Und hier setzt auch die Antisemitismus-Kampagne an. Das Thema Antisemitismus ist auch und gerade für jüngere Wähler wichtig und reicht dabei bis tief in die Wählerklientel von Labour hinein. Auch wenn gerade Boris Johnson immer wieder häufig als clownesker Depp dargestellt wird. Man muss jedoch anerkennen, dass sein Wahlkampfteam wirklich gute Arbeit macht und dazu gehört leider auch die aktuelle Schlammschlacht. Jeder Tag, an dem nicht über Inhalte debattiert wird, ist ein gewonnener Tag für Johnson.
Titelbild: Facebook-Gruppe „We Support Jeremy Corbyn“