Europas größter Onlinemodehändler setzt bei seiner Jagd nach Profit auf die „Performance- und Entwicklungsplattform“ namens Zonar. Über Funktionsweise und Auswirkungen des Systems klärt eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung auf. Was als vermeintlich „egalitär“ und „fair“ daherkommt, befördert die Ungleichheit und verfestigt Hierarchien, befinden die Autoren.
Mithilfe der Software wird die Belegschaft in Beschäftigte erster, zweiter und dritter Klasse gespalten und alle gegen alle ausgespielt. Forciert werden überdies Kontrolle, Disziplinierung und Lohndrückerei. Das Unternehmen streitet all dies ab. Angeblich führt man nur Gutes im Schilde. Das glaube, wer will. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Ja, Zalando hat Recht: „Diese Studie ist nicht repräsentativ.“ Wenn von 2.000 Beschäftigten am Berliner Hauptsitz des Unternehmens lediglich zehn zu Sinn, Unsinn und Auswirkungen der Personalbewertungssoftware Zonar befragt werden, entspricht das nicht den allerhöchsten Ansprüchen der Empirie. Eine eingeschränkte „Reichweite, Vollständigkeit und Generalisierbarkeit unserer Ergebnisse“ räumen ja selbst die Verfasser ein. Wobei der Umstand, dass das Management „trotz mehrfacher Anfragen“ jede Auskunft verweigerte und damit als Datenquelle ausfiel, mindestens verminderte Schuldfähigkeit begründet.
Aber was tut das zur Sache, wo doch ihr Betrachtungsgegenstand, ein System, das George Orwells Big Brother als omnipräsentes Kollegenschwein installiert, schon für sich ein Skandal sondergleichen ist? Anders: Selbst für den Fall, dass es 99 Prozent der Belegschaft begrüßten, immerfort von ihren Mitarbeitern beäugt, bespitzelt und beargwöhnt zu werden, machte das die Sache keinen Deut besser – sondern noch viel schlimmer. Oder will und soll uns die vielbeschworene und vielgepriesene Digitalisierung womöglich genau dahin bringen? Es ganz normal zu finden, dass jeder seinem Nächsten eine Wanze, ein Spion, eine Drohne ist – und sich selbst dazu. Man könnte den Eindruck gewinnen.
Funktionsäffchen
Zonar jedenfalls macht`s möglich. Europas größter Onlinemodehändler Zalando hat seine „Performance- und Entwicklungsplattform“ seit drei Jahren im Einsatz und erreicht damit nach eigenen Angaben inzwischen 5.000 von insgesamt 14.000 Beschäftigten. Das System ist an die gängigen Internetratings angelehnt, mit denen Kunden zuvor erworbene Produkte beurteilen und benoten, wodurch andere Konsumenten beim Einkaufen im World Wide Web eine Richtschnur haben. Mit dem Vordringen der digitalen Technik in die Arbeitswelt werden Ratings indes zunehmend zu einem betrieblichen Evaluierungs- und Überwachungs- und einem Instrument der Leistungsvermessung. Geratet, gerankt und gescored werden nicht mehr nur Dinge, sondern Mitmenschen, Mitarbeiter oder, was sich Industrie und Digitalwirtschaft wünschen: Funktionsäffchen.
Die Sozialwissenschaftler Philipp Staab und Sascha-Christopher Geschke von der Berliner Humboldt-Universität haben sich im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zwei Jahre lang damit beschäftigt, wie das System bei Zalando funktioniert, wie es bei den Betroffenen ankommt und sich sein Gebrauch auf das innerbetriebliche Miteinander auswirkt. Für ihre am vergangenen Mittwoch vorgestellte 60-seitige Studie „Ratings als arbeitspolitisches Konfliktfeld“ haben die beiden Forscher Interviews mit besagten zehn Betroffenen sowie zwei Gruppendiskussionen geführt, Präsentations- und Schulungsmaterialien ausgewertet und Experten für Arbeitsrecht und Datenschutz hinzugezogen.
Betriebsklima leidet
Es habe sich gezeigt, stellen sie in einer einleitenden Zusammenfassung fest, „verschärfte Kontrolle und Konkurrenz innerhalb der Belegschaft schaden dem Betriebsklima; technologische Intransparenz wird zur Legitimierung betrieblicher Ungleichheit eingesetzt; und Legalitätsfragen, insbesondere im Bereich des Datenschutzes, bleiben ungeklärt“. An anderer Stelle schreiben sie von einem „sehr umfassenden, quasi panoptischen System der Leistungskontrolle“, das auf eine neue Ebene von Daten zur Leistungsvermessung zugreife, nämlich die „wechselseitige Bewertung“ unter Kolleginnen und Kollegen. Diese erweitere das „klassische Spektrum der vertikalen Arbeitskontrolle um einen Bereich, der bis heute als Wiege der Solidarität unter Beschäftigten und als dem Zugriff von Vorgesetzten entzogen galt“.
Im Technosprech der Silicon-Valley-Jünger heißt das Modell „Worker-Coworker-Ratings“ und im Falle Zalando läuft es so: Im Abstand von einem halben Jahr werden bis zu acht Angestellte durch Mitarbeiter, aber unter Beteiligung der jeweiligen Führungskräfte nominiert, um dann über Monate einer Rundumbeobachtung ausgesetzt zu sein. Im Prinzip werde von jedem erwartet, „permanent Aufzeichnungen zum Verhalten“ der Kolleginnen und Kollegen anzufertigen, konstatieren die Forscher. Wer funktioniert nach Plan, wer trödelt, wer stört die Abläufe? Wem etwas Positives oder Negatives auffällt, ist angehalten, seine Eindrücke und Wertungen praktisch rund um die Uhr (in the moment) direkt per App übers Smartphone ins System einzuspeisen. Laut Studie finden daneben regelmäßig „umfangreiche Leistungs- und Entwicklungseinschätzungen“ statt – sowohl durch die Kollegen als auch durch die Vorgesetzten. Beim 2017 eingeführten Zonar 1.0 geschah das einmal im Jahr. Mit dem neu implementierten Zonar 2.0 werde die systematische Leistungskontrolle durch den nun halbjährlichen Turnus „engmaschiger und umfassender“. Damit sollten Fehleinschätzungen „umgehend korrigiert und die leistungsadäquate Beförderung sowie die positionsadäquate Bezahlung schnell nachgeholt werden können“.
Fair die Löhne drücken
Hier gelangt man zu des Pudels Kern: Mit Zonar wird der Leistungs- und Lohndruck noch einmal drastisch erhöht, wobei so getan wird, als gehe es dabei sogar „demokratischer“ und „gerechter“ zu als früher. Denn nicht mehr der „böse Boss“ sagt an, wie gut oder schlecht jemand spurt und was ihm dafür an Geld zusteht, sondern die „lieben Kollegen“. Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) vom Mittwoch bezeichnete ein Zalando-Sprecher das Vorgehen denn auch als „wichtigen Bestandteil unseres Talentmanagements, mit dem wir Mitarbeitern und Führungskräften gleichermaßen die Möglichkeit geben, sich 360-Grad-Feedback einzuholen und zu geben“, und weiter: „Dieses System ist fairer als vorher.“
Mehr Augenwischerei geht kaum. In Wahrheit ist und wirkt Zonar kein Stück egalitär, sondern hochgradig elitär. Auf Basis der gesammelten Informationen erstellt ein Algorithmus individuelle Scores und unterteilt die Belegschaft in Mitarbeiter erster, zweiter und dritter Klasse. Wie Socken, T-Shirts und Unterhosen werden sie in Schubladen gesteckt und kriegen ein Label angeheftet: als sogenannte Low-, Good- oder Top-Performer. Bei Wohlgefallen winkt eine Gehaltserhöhung, bei Missfallen droht der Rauswurf. Es werde eine betriebliche Hierarchie hergestellt, „die vorher so nicht bestanden hat“, stellen Staab und Geschke fest. „Es ist folglich ein Instrument zur Herstellung betrieblicher Ungleichheit.“ Lediglich Top-Performer qualifizierten sich für eine bessere Bezahlung, wobei ihre Zahl „systematisch gering gehalten“ werde. In einigen Abteilungen würden bloß zwei bis drei Prozent der Beschäftigten entsprechend klassifiziert. Die Masse der Good-Performer erhalte nur einen jährlichen Inflationsausgleich, „was nichts anderes ist als Lohnstagnation“, befinden die Forscher.
In Googles Fußstapfen
Und natürlich „tritt“ Zonar nach unten. Mit schmerzhaften Sanktionen werde ein „Betriebsklima der Angst und ein Motiv des permanenten Statuserhalts“ erzeugt, heißt es hierzu. Gerade in der Wahrnehmung der befristet Beschäftigten gehe es dabei „nicht nur um den eigenen Lohn, sondern um den Arbeitsplatz“. Ein Befragter drückte dies so aus: „Ich merke, dass einige schon Angst haben, also gerade Leute, die denken, der Vertrag könnte möglicherweise nicht verlängert werden.“ Ein anderer beklagte, man bleibe auf seiner „Stellung“ festgenagelt. „Wenn jemand als Low-Performer bewertet wird, dann hat er es halt extrem schwierig, erst mal aus dieser Rolle wieder rauszukommen und sich überhaupt weiterzuentwickeln.“ Aber selbst die vermeintlichen Spitzenkräfte empfinden offenbar mehr Druck als Wertschätzung. Einer schilderte, wie man auf ihn einwirkte, einen Kollegen herabzusetzen, „oder du bist halt kein Top-Performer mehr. (…) Das halte ich für Erpressung.“
Zonar ist nicht das einzige System seiner Art. 2015 wurden in den USA Praktiken des Internetgiganten Amazon enthüllt, der mit seiner Software „Anytime Feedback Tool“ Führungskräfte überwacht, zum Verpetzen von Kollegen genötigt und Druck auf Kranke und „Minderleister“ ausgeübt hatte. In der Kritik steht auch das „re:Work“-Tool von Google. Immer drehen sich die Instrumente darum, die Beschäftigten zu disziplinieren, gegen andere in Wettbewerb zu setzen und die Personalkosten zu drücken. Staab und Geschke halten das deutsche Pendant für „eine stärker formalisierte und umfassendere Anwendung“. Sie verbinde die „breit angelegte Erhebung horizontaler Ratingdaten“ wie bei Amazon „mit der umfassenden, periodischen Leistungsevaluierung“ wie bei Google.
Bei Klogang Jobverlust
Die Penetranz, mit der die Digitaltechnologie dem Publikum als große und unaufhaltsame Errungenschaft der „schönen neuen“ Arbeitswelt 4.0 verkauft wird, steht in krasser Diskrepanz zu den Erfahrungen der Betroffenen. So sollen in den Versandzentren von Amazon in Großbritannien die lausig bezahlten, rundumgescannten Arbeiter sogar schon in Flaschen uriniert haben, weil der Gang zur Toilette bei ihrem Arbeitspensum nicht aufzuholen ist und „Zeitverschwender“ schnell ihren Job los sind. Die Plattform Organize.org ermittelte, dass Betroffene deshalb aufs Trinken verzichteten und 55 Prozent der Beschäftigten aufgrund der menschenverachtenden Arbeitsbedingungen unter Depressionen litten. Als die Zustände im Frühjahr 2018 publik wurden, beschied ein Konzernsprecher: „Wir konzentrieren uns darauf, dass wir allen unseren Mitarbeitern ein großartiges Arbeitsumfeld bieten.“
Dasselbe Spiel jetzt bei Zalando. Man entlohne seine Mitarbeiter „fair und lässt sie am wachsenden unternehmerischen Erfolg teilhaben“, ließ die Firmenleitung in Reaktion auf die Veröffentlichung ausrichten. 67 Prozent würden das Unternehmen als „guten Arbeitgeber“ weiterempfehlen, man begrüße „jegliche Art von betrieblicher Mitbestimmung“ und „Transparenz und eine offene Feedbackkultur“ wären „seit jeher gelebte Realität“. Ein in der Studie Befragter beklagt dagegen „Stasi-Methoden“. Es sei unverschämt, die Technik als „Selbstoptimierungstool“ zu präsentieren „und niemals auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, dass es eigentlich ein Kontrollsystem ist“.
Im Glashaus gefangen
Es gehe um eine „360-Grad-Überwachung“, bemerkte ein anderer. „Ich kann nicht einfach mal einen schlechten Tag haben“, noch Monate später schlage sich eine „Kleinigkeit“, an die er sich gar nicht mehr erinnere, in einem Feedback nieder. Verstärkt wird der Eindruck „totaler, einseitiger Transparenz“ noch durch die Art der Räumlichkeiten, in die Teile der Berliner Dependance mit der Inbetriebnahme des Zonar-Pilotmodells im März 2016 umzogen. Die Arbeitsplätze befinden sich seither in einer vollverglasten Produktionsebene und sind von praktisch überall einsehbar.
Weniger durchsichtig ist die „Mitbestimmungskultur“ im Unternehmen. Zalando habe nur „sehr fragmentierte Betriebsräte“, wovon manche schon wieder aufgelöst worden seien, schreiben die Studienautoren. Stattdessen werbe man mit der ZWP, der Zalando Employee Participation. Das sei ein „arbeitgebergesteuertes Instrument, welches keine amtlichen Rechte hat und somit aus juristischer Perspektive deutlich schwächer als ein Betriebsrat ist“. Ein Befragter merkte an, dass „Zalando natürlich den Betriebsräten oder dem Entstehen von Betriebsräten vorab die Luft rausnimmt, indem sie halt einfach eine eigene Arbeitnehmervertretung anbieten, auch wenn die arbeitgebergesteuert oder arbeitgeberzensiert ist“.
Chef bleibt Chef
Arbeitgebergesteuert sind freilich auch die vierteljährlichen „freiwilligen Umfragen zur Mitarbeiterzufriedenheit“, die das Management so rühmt. Nicht minder fragwürdig ist das Gerede von der „Feedbackkultur“, wonach quasi die Führungsetage beim Bewertungs- und Belohnungsverfahren außen vor bleibt und das Kollegium ein Stück weit die Regie übernimmt. Das Versprechen ist einmal mehr nur Fassade. Laut Studie wurde mit den Mitarbeitern die Logik des Systems an sich weder erörtert, noch sei offengelegt worden, nach welcher Logik die erhobenen Daten aggregiert und verarbeitet werden. Damit bleibe „vollkommen intransparent“, wie die individuellen Scores gebildet werden. „Der Algorithmus ist eine systematische Blackbox – was für die Beschäftigten besonders schwer wiegt, weil sie an dieser Stelle die eigentliche Ausübung betrieblicher Herrschaft verorten.“
Staab und Geschke identifizieren ein „methodisch hochgradig vorstrukturiertes Bewertungssystem“, das aufgrund seiner Konstruktion „gar keine anderen Ergebnisse produzieren kann als jene, die ihm von Managementseite vorab zugedacht sind“. Und wenn der Computer einmal nicht das genehme Ergebnis ausspuckt, hat am Ende eben noch immer der Boss die Hosen an. In besagtem „SZ“-Artikel kommt eine Betroffene zu Wort, die trotz guter Noten durch ihre Kollegen herabgestuft worden sei. „Egal wie gut dein Feedback ist, der Chef kann es auslegen, wie er will. Mag er dich nicht, ekelt er dich aus der Firma.“
Passiver Widerstand
Gut zu wissen: Zonar ist längst kein Selbstläufer. Die Analyse beleuchtet verschiedene Formen von „passivem Widerstand“ und „Subversion“. So werde etwa das Echtzeitrating „nicht oder so wenig wie möglich“ verwendet. Weiterhin zeigten sich Phänomene wie „Bummelstreiks“ oder „Dienst nach Vorschrift“. Ein Befragter beugt sich „halt wirklich nur, wenn ich dazu gezwungen bin, wie in dieser Feedbackrunde. Wie gesagt, diese Feedbacks proaktiv erwirken, das mache ich halt wirklich nicht.“ Auch Fälle von „expliziter Verweigerung“ sind überliefert, was schließlich zum erzwungenen Ausscheiden der Betroffenen geführt haben soll. Die beiden Wissenschaftler stellen angesichts dieser und anderer Friktionen wie „eine Verschlechterung des Betriebsklimas, Stress und psychologische Belastungen“ am Ende gar die These auf, das System werde „aller Wahrscheinlichkeit nach als effizienzsteigerndes betriebliches Kontrollinstrument“ scheitern. Allerdings funktioniere es „als Instrument der Lohnrepression und damit der Kostensenkung“.
Erfreulicherweise hat die Vorlage der Studie allerhand Empörung hervorgerufen. „So macht Digitalisierung, die enorme Chancen für bessere Arbeit bietet, den Menschen Angst“, monierte Norbert Walter-Borjans, Kandidat für den SPD-Parteivorsitz. Zonar sei ein Beispiel dafür, wie Technik dafür genutzt werde, die Menschen zu instrumentalisieren. „Derartige Methoden der Überwachung und gegenseitigen Kontrolle gehören verboten“, bekräftigte Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Partei Die Linke im Bundestag. Und Stefanie Nutzenberger, Bundesvorstandsmitglied der Gewerkschaft ver.di erklärte: „Algorithmusgesteuerte Kontrollen sind „intransparent, setzen die Beschäftigten in permanente Konkurrenz zueinander, missachten den Datenschutz und dienen dem Unternehmen als billige Ausrede, warum man keine Tarifverträge abschließen will“.
Auch der Datenschutzbeauftragten des Landes Berlin, Maja Smoltczyk, sind die Vorgänge nicht geheuer. Wie ihre Sprecherin Dalia Kues am Freitag dem Portal Netzpolitik.org bestätigte, habe Zalando die Behörde am Tag des Bekanntwerdens der Studie über den Einsatz der Software informiert und „wir haben daraufhin eine Prüfung eingeleitet“. Fast schon selbstredend legen die Befunde von Staab und Geschke auch „offensichtliche Zweifel an der Legalität des Systems nahe, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes“. Aber das kennt man ja von: Google, Facebook, WhatsApp, Amazon, Twitter, Instagram, Microsoft, Uber, Mastercard, UniCredit …
Titelbild: Cineberg/shutterstock.com