Nordmazedonien und Albanien wurden kürzlich die EU-Beitrittsgespräche verwehrt – auch die Unterordnung unter EU-Wünsche bis zur Selbstverleugnung hat nicht ausgereicht. Die Entscheidung ist Ausdruck eines „inner-imperialistischen“ Machtkampfs zwischen Frankreich und Deutschland. Von Željko Taraṥ.
Die kürzlich getroffene Entscheidung des EU-Rats, der zufolge Nordmazedonien und Albanien nicht zu Beitrittsgesprächen in die Europäische Union eingeladen werden, beschäftigte auch einen Leitartikel der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) von Michael Martens von Ende Oktober unter der Überschrift „Balkan ade?“ (Bezahlschranke). Die Entscheidung des EU-Rats, die dahinterstehenden Machtkämpfe und der erwähnte Artikel sollen hier beispielhaft untersucht werden.
Nachdem er sich zu den „Wunden der jugoslawischen Zerfallskriege“ – bei gleichzeitiger Benennung der dafür üblichen Schuldigen – auslässt, hebt Michael Martens in dem FAZ-Artikel hervor, dass infolge dieser kriegerischen Ereignisse „in den westeuropäischen Regierungen (…) die Stabilisierung der Balkan-Staaten und zumindest als Fernziel auch ihre Aufnahme in die EU im Prinzip unumstritten (waren)“.
Als Beweis für die entschlossene Haltung der Europäischen Union in dieser Frage führt Martens die Erklärung der damaligen 15 Mitgliedstaaten vom Juni 2003 an, in der es, unter anderem, hieß:
„Die Zukunft des Balkans liegt in der EU“
Seitdem ist sehr viel Zeit vergangen, ohne dass diesbezüglich ein substantieller Fortschritt erkennbar wäre. Martens möchte die Hintergründe beleuchten: Zum einen sieht er „bei den Bürgern der Mitgliedstaaten“ keine mehrheitliche Zustimmung für die EU-Erweiterung, und zum anderen ist die mangelnde Ernsthaftigkeit beider Verhandlungspartner der Grund, warum wir von einem faktischen Stillstand auszugehen hätten. Andererseits wolle niemand diese Region „sich selbst überlassen“, postuliert Martens, um abschließend auch auf andere, alternative Kooperationsmöglichkeiten hinzuweisen, denn:
„Die EU hat den Anspruch, nicht nur wirtschaftlich ein ernstzunehmender Akteur zu sein“
Die Glaubwürdigkeit der EU stünde sonst zur Disposition.
„Balkan“ – Ein Begriff zur „Deutung“ einer ganzen Region
Bei dem Versuch, diesen Artikel zu analysieren, fällt zunächst die Begrifflichkeit ins Auge: Es ist die Rede vom „Balkan“, „Stabilisierung“, “Reformeifer“, von der „gegenseitigen Täuschung“, von der Region, die „sich selbst überlassen“ wurde, und schließlich von der drohenden “Unglaubwürdigkeit“.
Den Artikel mit dem Wort „Balkan“ zu beginnen, ist eine Vorwegnahme: Hier steht ein eigentlich geographischer Begriff für die politische und historische Deutung einer ganzen Region. Dadurch wird von Beginn an dafür gesorgt, dass die bereits vorhandenen negativen Assoziationen und Vorurteile der Region und ihren Menschen gegenüber aufgewärmt werden. Andererseits suggeriert die Bezeichnung „Balkan“ für weniger kundige Leser, dass es sich hier um einen „neutralen“ Begriff handelt. Eine Formulierung wie etwa „Hinterhof“ würde dagegen nicht nur die herablassende Gesinnung des Autors zu diesem Thema offenlegen, sondern eventuell auch ihre operative Umsetzung erschweren.
Vor diesem Hintergrund sind auch weitere Argumentationsstränge zu verstehen, so zum Beispiel die Unterstellung, dass es sich im Verhältnis zwischen Nordmazedonien bzw. Albanien und EU um zwei gleichwertige Partner handelt und nicht vielmehr um eine offensichtliche Subordination. Das Beispiel Nordmazedoniens ist hierfür geradezu schulmäßig angelegt. Das kleine Land an der Peripherie der EU hat sich den Anordnungen des Machtzentrums (Berlin, Brüssel, Paris…) bis zur Selbstverleugnung (Namensänderung und vieles mehr) unterworfen, jedoch ohne Erfolg.
Die Empörung der dortigen politischen „Eliten“ mutet ein wenig grotesk an. Diese lokale Kompradoren-Klein-Bourgeoisie müsste inzwischen eigentlich wissen, dass es seitens des „Zentrums“ keinerlei Versprechungen oder gar Verpflichtungen gibt, die sein künftiges Handeln binden würden.
Inner-imperialistische Machtkämpfe der EU
Was jedoch verbindlich ist und konstant bleibt, ist die Erwartungshaltung seitens Brüsseler Funktionseliten, die ultimativ von den Ländern am Rande (wirtschaftlich, politisch …) verlangen, dass diese stets das tun und lassen, was von ihnen gefordert wird, wohlgemerkt ohne zeitliche und inhaltliche Begrenzung.
Ob die devote Haltung dann von Seiten des EU-Machtblocks goutiert wird, ist eine rein taktische Frage und hängt zumeist von den Machtverhältnissen innerhalb des bereits erwähnten Machtblocks selbst ab. Dazu (im Falle Nordmazedoniens) hat Roland Zschächner in der „Jungen Welt“ („Keine Gespräche, aber Wahlen“) vom 24. Oktober Folgendes angeführt:
“Die Entscheidung, ob das Land Teil Konzerneuropas werden wird, liegt nicht in Skopje, sondern wird in Berlin und Paris gefällt. Zwischen Frankreich und Deutschland hat sich in den vergangenen Monaten eine zunehmend offen ausgetragene inner-imperialistische Konkurrenz entwickelt.“
Während die USA auf dem Balkan primär geopolitische Interessen haben und den vermeintlichen oder tatsächlichen politisch-militärischen Einfluss der Russischen Föderation einzudämmen beziehungsweise zu verhindern versuchen, bestehen zwischen den Fraktionen des „europäischen“ Kapitals offenbar unterschiedliche Konzeptionen (Rohstoffe, Märkte und vor allem Arbeitskräfte) darüber, wie seine Peripherie künftig operativ kontrolliert wird. Die Konkurrenz bezüglich der „Balkankontrolle“ zwischen zwei europäischen, rivalisierenden Machtzentren – Berlin und Paris – ist alten Ursprungs und von strategischer Bedeutung. Seit dem Ersten Weltkrieg wird dieser „Wettbewerb“ dort mit allen Mitteln ausgetragen, mit verheerenden Folgen für die dortige Bevölkerung. Danach – abgesehen von Titos Zeiten – verlief die jeweilige Dominanz wellenförmig.
Jens Spahns Abwerbungen: Beispiel für das reale Machtverhältnis
Seit der „Wendezeit“ überwiegt wieder der politische und wirtschaftliche Einfluss Berlins. Dies wird derzeit an einem Beispiel manifest: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn reiste nämlich wiederholt Richtung Balkan, um dort qualifizierte, aber preiswerte Arbeitskräfte für „sein“, vor allem von Personalsorgen gefährdetes, Gesundheits- und Pflegesystem zu rekrutieren. Mit welcher Selbstverständlichkeit und Arroganz das Ganze organisiert und abgewickelt wird, natürlich ohne Wahrung der Belange von Menschen vor Ort, zeigt deutlich, in welchem Stadium sich das Verhältnis Zentrum-Peripherie in Europa mittlerweile befindet.
Und nun bremst Paris, wohl kaum um Abhilfe für die dortige Bevölkerung zu schaffen. Es ist ebenso wenig die Absicht Frankreichs, dort erneut als dominante Macht aufzutreten, denn dies entbehrt jeder Realität. Paris scheint sich andererseits Berlin gegenüber derzeit stark genug zu fühlen, um seine „Nein“-Politik durchzusetzen und dadurch möglicherweise auf anderen Feldern bestimmte Konzessionen zu erzwingen.
Auf dem Balkan tummeln sich aber inzwischen ganz andere Big Player – neben Deutschland, den USA und Russland vor allem die Volksrepublik China.
Der Einfluss Chinas
Die sogenannte Neue Seidenstraße, die China wirtschaftlich mit Südost-, Mittel- und Osteuropa verbindet – 16 Länder inzwischen – stellt für die EU und ihre Hauptdarsteller eine Bedrohung dar, und zwar sowohl ökonomisch als auch politisch. Wenn beispielsweise in Kroatien ein chinesisches Konsortium ein Großprojekt wie die Peljesac-Brücke ökonomisch günstig, technisch und logistisch zuverlässig und ohne irgendwelche politischen Konzessionen baut – dann weiß man zumindest in Berlin und Brüssel, dass Handlungsbedarf besteht. Denn solche und ähnliche Projekte, unter vergleichbaren Konditionen, gibt es ebenso in Serbien (in den letzten zehn Jahren ca. 10 Milliarden US-Dollar), aber auch in weiteren EU-Ländern (beispielsweise in Griechenland 11 Milliarden US-Dollar). Spätestens seitdem dann Griechenland durch sein Veto im EU-Rat die Verurteilung der VR China wegen „Menschenrechtsverletzungen“ verhindert hat, ist man im Westen alarmiert. Durch die Neue Seidenstraße würde China tendenziell, mittels wirtschaftlicher Penetration in Europa, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aushebeln, hieß es dann landauf, landab.
Angesichts dieser Entwicklung und dem offen ausgetragenen Kampf im EU-Rat zwischen Berlin und Paris hinsichtlich der EU-Erweiterung meldete sich der scheidende Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker mit einem fast beschwörenden „Historischer Fehler“ zu Wort. Neben der bereits oben erwähnten „chinesischen Gefahr“ gibt es offenbar die keineswegs unbegründete Befürchtung seitens des Noch-Kommissionpräsidenten, dass es sich bei den Auseinandersetzungen tendenziell um schwere Erschütterungen der inner-imperialistischen „Partnerschaft“ handelt, mit negativen Folgen für die EU-Hegemonie auf dem „Balkan“, die ihn zu so einem eindringlichen Appell veranlasst.
Unerbittliche Strafen für Ausbruchsversuche
Dagegen hält sich, meines Erachtens, die „Fürsorge“ für das Wohlergehen der kleinen „Balkanländer“ mit Gewissheit in Grenzen.
In diesem Kontext ist auch die Sorge, „die Region sich selbst (zu) überlassen“, zu verstehen. Wenn man sich nämlich lediglich die „Aktivitäten“ der EU, übrigens nicht nur in dieser Gegend, seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts vergegenwärtigt, dann mutet diese etwas paternalistisch geäußerte Besorgnis eher wie eine Drohung an. Dass es sich hierbei keineswegs nur um eine abstrakte Gefahr handelt, ist mittlerweile wohl bekannt: Denn jeder Versuch, aus der Umklammerung auszubrechen, wurde und wird konsequent und unerbittlich bestraft, von den Sanktionen aller Art über die Dämonisierung und Destabilisierung ganzer Nationen bis zur militärischen „Intervention“.
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