Ist unsere Republik „zerrissen“? Eindeutig ja! Das sagt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge im NachDenkSeiten-Interview und in seinem neuen Buch „Die zerrissene Republik“. Die Kluft zwischen Arm und Reich habe sich vertieft, das als „Hort der Stabilität“ geltende deutsche Parteiensystem befinde sich in einer Schieflage. Den neoliberalen Irrweg der vergangenen Jahrzehnte macht der Kölner Armutsforscher dafür genauso verantwortlich wie die Lebenslüge vieler gesellschaftlicher Eliten, wonach die Reichen reich seien, weil sie Leistung erbracht hätten, und die Armen wenig besäßen, weil sie sich nicht genug anstrengten. Von Marcus Klöckner
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Herr Butterwegge: Sie sind der Auffassung, dass wir in einer „zerrissenen Republik“ leben. Warum?
Weil sich hierzulande in den vergangenen Jahren nicht bloß die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft und damit die sozioökonomische Ungleichheit verschärft hat, sondern auch das als Hort der Stabilität geltende Parteiensystem ausfranst. Vor allem die verständliche Wahlabstinenz benachteiligter Bevölkerungsschichten führt zu mehr politischer Ungleichheit. Arme beteiligen sich kaum noch an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen, was zusammen mit der für Deutschland in wirtschaftlichen Krisen- und gesellschaftlichen Umbruchsituationen typischen Stärkung rechtsextremer Parteien wie der AfD die Grundlagen der repräsentativen Demokratie untergräbt. Die Weigerung der Armen, sich an Wahlen zu beteiligen, dürfte damit zusammenhängen, dass sie wissen: Unsere Interessen werden eh nicht so vertreten, wie es sein müsste.
Was sind die Hauptgründe für die von Ihnen skizzierten Verhältnisse?
Die politisch Verantwortlichen handeln oft in dem neoliberalen Irrglauben, dass alles, was den Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen nützt, auch den Armen zugutekommt. Ökonomen sprechen von einem „Trickle-down“-Effekt, den man auch als Pferdeäpfeltheorie bezeichnen kann, nach der man die Rösser nur gut füttern muss, damit die Spatzen aus deren Kot noch die nahrhaften Körner herauspicken können. Stattdessen wäre es natürlich sehr viel effektiver, die Spatzen selbst zu füttern, als den Umweg über die Pferde zu wählen. Ursächlich für die sozioökonomische Polarisierung ist neben dem Finanzmarktkapitalismus beispielsweise die Steuerpolitik der vergangenen Jahrzehnte gewesen, und zwar einschließlich der lobbyistischen Einflussnahmen, die ich in meinem Buch behandle. In diesem Zusammenhang verwundert, dass der Grenzsteuersatz bei der Einkommensteuer aufgrund alliierter Vorgaben bis 1958 nicht weniger als 95 Prozent betrug und anschließend von den Bundesregierungen (einzige Ausnahme: die SPD/FDP-Koalition unter Willy Brandt) Stück für Stück nach unten gedrückt wurde.
Was spielt noch eine Rolle?
Wir haben es mit einem ganzen Problemgeflecht zu tun. Bei einer kritischen Betrachtung fallen sozioökonomische Spaltungstendenzen, politische Weichenstellungen in Richtung einer Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich, eine wachsende Ungleichheit auch im Bildungs-, Gesundheits- und Wohnbereich sowie eine zunehmende US-Amerikanisierung von Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und politischer Kultur aufgrund der neoliberalen Hegemonie ins Auge. Daraus erwachsen Tendenzen einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur und der Stadtentwicklung sowie die Gefahr der ethnischen Unterschichtung. Parallel dazu verlaufen Diskurse in Wissenschaft und Medien, die eine Verharmlosung oder Verdrängung der Spaltungstendenzen beinhalten.
Was Sie skizzieren, ist seit langem bekannt. Woran liegt es, dass von politischer Seite nicht schon längst richtig gegengesteuert wurde?
Bis weit in die Oppositionskreise hinein haben sich neoliberale Überzeugungen durchgesetzt. Wenn man überzeugt ist, dass vor allem der „eigene“ Wirtschaftsstandort gestärkt werden muss, um auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu sein, dass Markt, Konkurrenz und Leistung im Mittelpunkt der Bemühungen stehen müssen, kann man keine Alternativen zur etablierten Politik entwickeln.
Gerade erst hat die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe darauf aufmerksam gemacht, dass derzeit in Deutschland 678.000 Menschen keine Wohnung haben, bei Freunden, Bekannten oder gar auf der Straße leben müssen. Im vergangenen Jahr waren es 650.000. Also es gibt einen Anstieg von 4,2 Prozent. Was sagen Ihnen diese Zahlen?
Nirgendwo versagt das kapitalistische Wirtschaftssystem so eklatant wie bei der Wohnungsversorgung. Da sich der Markt als unfähig erwiesen hat, eine adäquate Wohnungsversorgung für alle Bevölkerungsschichten sicherzustellen, muss sie als öffentliche Aufgabe begriffen und vom Staat aus Gründen der sozialen Verantwortung für seine Bürger gewährleistet werden, damit niemand wegen seines geringen Vermögens und seines zu niedrigen Einkommens auf der Strecke bleibt. Die teilweise geradezu skandalösen Zustände auf dem Mietwohnungsmarkt sollten Anlass sein, über eine Wende in der Wohnungspolitik nachzudenken. Da sich Räumungsklagen, Zwangsräumungen und Wohnungsnotfälle mehren, ist die Verankerung eines „Grundrechts auf Wohnraum“ in unserer Verfassung überfällig, für das der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn der 1990er-Jahre in seiner juristischen Dissertation Das polizeiliche Regime in den Randzonen sozialer Sicherung. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung über Tradition und Perspektiven zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit plädiert hat. Staat und Behörden müssten, forderte Steinmeier damals, per Grundgesetzauftrag „zum Bau und Erhalt preisgünstigen Wohnraums für breite Bevölkerungskreise“ verpflichtet werden, und es dürfe, so Steinmeier weiter, keine Wohnung zum Beispiel wegen aufgelaufener Mietschulden geräumt werden, bevor nicht „zumutbarer Ersatzwohnraum“ zur Verfügung stehe.
Gerade erst hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass nicht mehr als 30 Prozent von einem Hartz-IV-Bezug gekürzt werden dürfen. Was halten Sie von dem Urteil?
Ich halte das Urteil für einen wichtigen Teilerfolg der Hartz-IV-Kritiker, der Erwerbsloseninitiativen, der Sozialverbände und der Gewerkschaften.
Das Urteil lässt sich aber auch als skandalös bezeichnen. Höchstrichterlich wurde bescheinigt, dass einem Armen 30 Prozent von seinem Existenzminimum abgenommen werden dürfen.
Tatsächlich widersprechen die Karlsruher Richter ihrer eigenen Rechtsprechung, hatten sie doch in einem früheren Urteil zu den Hartz-IV-Regelbedarfen festgestellt, dass diese soeben noch das „menschenwürdige Existenzminimum“ gewährleisten. Wenn eine Leistung, die gerade noch ein Leben in Würde ermöglicht, per Sanktion um fast ein Drittel gekürzt werden darf, lässt man zu, dass die Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Mit weniger als 300 Euro im Monat auskommen zu müssen, bedeutet für einen alleinstehenden Erwachsenen, in Not und Elend dahinzuvegetieren. Für die Scharfmacher der Hartz-Gesetze, allen voran den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinen „Superminister“ Wolfgang Clement, war das Sanktionsurteil trotzdem eine schallende Ohrfeige. Zwar hat der Erste Senat die Sanktionen prinzipiell gebilligt und damit die Unterschreitung des soziokulturellen Existenzminimums bei missliebigen Leistungsbeziehern abgesegnet, aber Kürzungen der Regelbedarfe, die über 30 Prozent hinausgehen, als unverhältnismäßig und zu massiven Eingriff in das Existenzminimum für verfassungswidrig erklärt und mit sofortiger Wirkung außer Kraft gesetzt. Der willkürlichen Vernichtung von Existenzen wurde damit ein Riegel vorgeschoben. Ohne dass dies Gegenstand des Verfahrens war, hat Karlsruhe nebenbei auch die härtere Sanktionierung von Unter-25-Jährigen aus der Welt geschafft, denn natürlich müssen die Ausführungen des höchsten deutschen Gerichts zur Wahrung der Menschenwürde und zur Verhältnismäßigkeit von Sanktionen unabhängig vom Lebensalter gelten. Aufgrund einer neuen Weisung der Bundesagentur für Arbeit werden junge Menschen daher nicht mehr aus ihren Wohnungen und in die Kleinkriminalität oder die Überschuldung gedrängt. Außerdem hat Karlsruhe die starre Dauer der Sanktionen (drei Monate, selbst wenn der Betroffene inzwischen seiner Mitwirkungspflicht nachkommt) verworfen, sich für Härtefallregelungen ausgesprochen und den Jobcentern einen größeren Ermessensspielraum bei der Verhängung von Sanktionen eingeräumt. Darüber hinaus sollte das Urteil auch Anlass sein, grundsätzlich über das Hartz-IV-System nachzudenken. Denn die Sanktionen sind ja nur eine seiner Baustellen, auf denen neue Konzepte gefragt sind.
Warum tun sich viele Eliten in unserem Land so schwer damit, zu erkennen, dass ihre Politik zu einer schweren Spaltung unserer Gesellschaft geführt hat und die Spaltung noch weiter treibt?
Die wirtschaftlichen, politischen und medialen Eliten hängen an ihrer meritokratischen Lebenslüge, wonach sich ihre privilegierte Stellung genauso wie materieller Reichtum der eigenen Leistung verdankt. Umgekehrt ist Armut aus dieser Sicht nur die Strafe für eigene Unfähigkeit, persönliche Faulheit und fehlenden Leistungswillen. Wer so denkt, kann in einer wachsenden Spaltung der Gesellschaft nichts Problematisches sehen, denn die sozioökonomische Ungleichheit ist das natürliche Resultat unterschiedlicher Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Würde man sie in Zweifel ziehen, geriete das ganze Weltbild und die Identität der Eliten ins Wanken. Und wer stellt sich gern selbst in Frage?
In Ihrem Buch setzen Sie sich auch mit Jens Spahn auseinander. Was kritisieren Sie an ihm?
Spahn ist der Prototyp eines karrierebeflissenen Jungpolitikers mit neoliberal-konservativer Grundausrichtung, der die harte Lebensrealität von Millionen Menschen in unserem Land einfach nicht zur Kenntnis nimmt. In einem Interview hat er unmittelbar vor seinem Aufstieg zum Bundesgesundheitsminister allen Ernstes behauptet, der Hartz-IV-Bezug beinhalte keine Armut, sondern verhindere Armut und hierzulande müsse auch dann niemand hungern, wenn keine Lebensmitteltafeln existieren würden. Kurz zuvor hatte mir eine Kleinstrentnerin aus München noch in einer Livesendung des Deutschlandfunks zur Altersarmut erzählt, wie sie den Abend verbringt – im Dunkeln, um Strom zu sparen, und mit einem Glas warmer Milch, weil die Großmutter ihr während der Kindheit erzählt hatte, dass man den Hunger weniger spürt, wenn man warme Milch trinkt. Das reichste Geschwisterpaar unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, hatte übrigens in derselben Stadt für das Vorjahr gerade 1 Milliarde und 126 Millionen Euro nur an Dividende aus seinen BMW-Aktien erhalten. Tiefer kann die Kluft zwischen Arm und Reich kaum sein. Diese aufschlussreiche Zahl steht aber in keinem Armuts- und Reichtumsbericht, obwohl sie aus dem Geschäftsbericht von BMW hervorgeht und leicht zu berechnen ist, wenn man weiß, dass Klatten und Quandt fast die Hälfte der Aktien dieses Automobilkonzerns gehören.
Der Soziologe Patrick Sachweh hat festgestellt, dass im Alltag drei Erklärungsversuche vorherrschen, wenn es darum geht, herauszufinden, warum es überhaupt soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft gibt. Es geht um „Unvermeidlichkeit“, „Herkunftsbedingtheit“ und „Systembedingtheit“. Die Frage nach den systemischen Ursachen scheint mir aber kaum im Rahmen einer breiten Öffentlichkeit diskutiert zu werden, oder?
Ja, da liegt manches im Argen. Wenn politische Bildung in der Schule überhaupt noch stattfindet und nicht längst vom Fach „Wirtschaft“ verdrängt worden ist, spielen die bestehenden Eigentumsverhältnisse, ökonomischen Herrschaftsstrukturen und politischen Machtrelationen zwischen Gesellschaftsklassen und Schichten keine Rolle mehr. Und in den Fernsehtalkshows verstärkt sich der falsche Eindruck, dass es im Politik- und Parlamentsbetrieb um die Kraft der besseren Argumente und nicht um die Macht der Interessen geht. Dabei hat Marx zu Recht bemerkt, dass sich das beste Argument blamiert, wenn kein mächtiges Interesse dahintersteht.
Was vermuten Sie: Wie wird es mit der großen Koalition weitergehen? Wird sie zerbrechen oder bis zur nächsten Wahl durchhalten?
Viel hängt vom Ergebnis des Stichentscheids der SPD-Mitgliedschaft ab. Bedenklich stimmt, wie die Partei den Koalitionskompromiss zur „Respektrente“ gefeiert hat, obwohl diese gar keine Grundrente ist, obwohl sie viel weniger Seniorinnen und Senioren erhalten dürften als von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil geplant, obwohl sie mit durchschnittlich 80 Euro mehr im Monat kaum den Lohn für die Lebensleistung von Geringverdienerinnen und Geringverdienern bietet und schon gar nicht zur wirksamen Bekämpfung der künftig sogar noch zunehmenden Altersarmut taugt. Gleichzeitig hat sich die SPD in eine paradoxe Lage hineinmanövriert: Als sie zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen und der LINKEN noch eine parlamentarische Mehrheit besaß, ist sie in der Koalition mit CDU und CSU geblieben; jetzt wollen große Teile der Partei das ungeliebte Bündnis aufkündigen, obwohl es keine Regierungsalternative für die SPD gibt.
Gibt es denn überhaupt noch Parteien, gibt es denn überhaupt noch alternative Konstellationen, die bereit und in der Lage wären, die Probleme, vor denen wir in Land und Gesellschaft stehen, anzugehen?
Ich halte es mit dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der unter viel schwierigeren gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gesagt hat, er sei ein Pessimist des Verstandes und ein Optimist des Herzens. Meine Analyse wirkt ernüchternd, weil hierzulande vom gesellschaftlichen Mainstream höchstens „Bildung für alle“ statt „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) verlangt und nicht einmal die Forderung nach Umverteilung des privaten Reichtums von oben nach unten als legitim akzeptiert wird, obwohl selbst diese kaum ausreicht, um die ständige Reproduktion der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ungleichheit zu verhindern. Ein wenig Hoffnung habe ich, dass eine Allianz von SPD, Bündnisgrünen und LINKEN die Rechtsentwicklung in Teilen der Gesellschaft stoppen könnte. Ich hege allerdings keine Illusionen hinsichtlich der Stabilität, Konstanz und Konsequenz dieser parteipolitischen Konstellation. Nur fehlt mir die Fantasie für ein politisches Szenario, das die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu meinen Lebzeiten stärker unter Druck setzen kann. Mehr außerparlamentarischer Druck ist jedoch erforderlich, um den Klimawandel zu stoppen, in Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktions- und privaten Aneignungsweise stehende Naturkatastrophen zu verhindern und die sozioökonomische Ungleichheit als Kardinalproblem der Menschheit wenigstens zu mildern.
Lesetipp: Butterwegge, Christoph: Die zerrissene Republik. Beltz Juventa. 20. November 2019. 414 Seiten. 24,95 Euro.
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